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»Mutter, Mutter!« hatte sie geschrieen, als sie in ihrem Bettchen ihn hereinkommen sah, wie auch der Mörder auf seinem letzten Gange, im Angesicht des Todes nach seiner Mutter ruft.

Und doch wäre Frau Dora die letzte gewesen, zu der sich Lisa in ihrer Not geflüchtet hätte.

Gar manches hatte dazu beigetragen.

Schon lange waren kleine Spannungen zwischen ihnen entstanden. Seitdem Lisa liebte, war sie eitel geworden; sie putzte sich, hier ein Bändchen, dort eine Blume, trug gern ihre guten Sachen, hatte ihre Haartracht, von der Berg ihr gesagt, daß sie ihr Haar nicht zur Geltung kommen lasse, nach und nach geändert. Und jede dieser Abweichungen von dem Sparsamen, Gewohnten, Altgeheiligten vollzog sich unter Kämpfen, in denen Lisa immer eigensinniger ihren Standpunkt behauptete. Denn Berg hatte ihr in steigendem Maße die Mutter verleidet. Er wußte: Wer einen Baum niederlegen will, durchhaut zuerst die Wurzeln, die ihn im Boden verankern; wer einen Menschen sich unterjochen will, muß ihn zunächst von allen Idealen, allen seinen Lieben trennen, bis ihm das Herz vereinsamt und verdorrt.

Schritt vor Schritt, mit keck-vorsichtiger Rede hatte er sie von der Mutter losgelöst, Faden um Faden lockerte er das Band, das sie mit der Mutter vereinte. Er spottete solange über das Heim mit seinen vielen Bildern an den Wänden, nannte es ein Erbbegräbnis, verhöhnte die Mutter mit ihren vorsintflutlichen Ansichten, ihrer nachlässigen Kleidung, bedachte sie täglich mit neuen Namen, Stacheldraht, Mumie, Finsteraarhorn, bis endlich Lisas Widerspruch erlosch, auch sie begann, die Mutter langweilig, spießig und veraltet zu finden.

Doch wenn sie sich immer weiter und weiter von der Mutter entfernte, so trug auch diese einen Teil der Schuld.

Frau Dora war in ihrem Haß gegen den Gatten, den sie auf die ganze Männerwelt übertrug, der Tochter unverständlich geworden. Und je mehr die Mutter ihren Standpunkt hervorkehrte, je schärfer sie ihrem Leid, ihrem zerstörten Leben in harten Worten Luft gab, um so leidenschaftlicher nahm Lisa jetzt für den Vater Partei, von dem sie sich in ihrem Liebesglück ein Idealbild geschaffen hatte. Selbst für sein Sterben machte sie jetzt innerlich die Mutter verantwortlich; wenn diese sich nicht von ihm getrennt hätte, so wäre er nicht in die weite Welt gegangen, wäre in seinem alten Regiment geblieben, bei Kriegsausbruch schon Stabsoffizier gewesen, vielleicht nicht vor dem Feinde gefallen. Dann hätte sie heute ihren Vater noch; dann könnte sie zu ihm gehn, die Arme um seinen Hals schlingen; er aber würde sein Kind fest an sich drücken, mit ganzer Seele es lieben, herzen und schützen.

Starren Auges sah sie zur Mutter hinüber.

Sie hatte ja jetzt von Berg gelernt, daß dieses enge Heim, diese strenge Frau die Welt nicht in sich schloß, – diese Welt, die ihr verheimlicht worden war, wie man vor den Enterbten des Glücks den Reichtum verbirgt, um ihr Begehren nicht zu wecken, sie nicht sich auf ihr Recht besinnen zu lassen. Immer, Abend für Abend mit der Mutter im freudlosen, kümmerlichen Gespräch, immer gemahnt, ewig zurechtgewiesen; und draußen, keine hundert Schritte weit, brandete das Leben, klangen die Gläser, lockten betörende Klänge, hallte ein einziger Schrei der Lust, jauchzte die Liebe in tausend Akkorden.

Und je weniger sie von diesem Bacchanal kannte, desto bunter, farbenglühender malte sie sich das Leben aus, schrankenlos, ungehemmt, immer an des Geliebten Seite, von ihm gehegt, auf Händen getragen, vergöttert. Malte sie es sich aus, wie der Gefangene im Dämmer der Zelle von Freiheit und Lenz und lachender Sonne träumt.

»Und die Kartoffeln sind auch dreißig Pfennig teurer geworden,« hörte sie plötzlich die Mutter sagen.

»Mama,« fragte sie eines Abends unvermittelt, »hat Vater eigentlich so große Schuld gehabt? Wenn er die andere nun einmal liebte?«

Sie wußte nicht, daß sie nur wiederholte, was Berg ihr eingeflüstert hatte.

Frau Halm taumelte förmlich zurück.

»Um Gottes willen, Lisa, wo hast du nur diese Ansichten her? Und sein Schwur vor dem Altar? Sein Weib, sein Kind?«

»Vielleicht begehen die das Unrecht,« antwortete Lisa, Bergs getreues Echo, tapfer, »die einen Menschen schwören lassen, für alle Zukunft, über ein ganzes Leben hinweg? Und wenn er nun bei uns geblieben wäre, das Bild des Mädchens im Herzen, wäre denn das ein Glück gewesen? Er ohne Liebe zu dir, du ohne Liebe zu ihm?«

»Er hatte Pflichten,« antwortete sie hart.

»Pflichten, gewiß,« erwiderte Lisa. »Aber vielleicht hatte er sie auch gegen die andere.«

Frau Halm stand auf, mit weißen Lippen. »Du bist deines Vaters würdig,« sagte sie schroff. »Er Pflichten, gegen dieses Weib! Cochon et cochonne!«

Aber Lisa sah ihr recht wenig überzeugt nach. In ihr hatte allmählich sich fast ein Gefühl der Abneigung gegen die Mutter entwickelt, um so mehr, da diese jetzt schärfer auf sie achtete. Erst waren es die kleinen Streitigkeiten, die sie dazu veranlaßten; dann aber war Frau Dora denn doch nicht so weltfremd, so ganz von Gott verlassen, daß sie nicht hin und wieder etwas gemerkt hätte und stutzig geworden Wäre. Sie dachte, natürlich nur an eine törichte, unausgesprochene Mädchenschwärmerei, glaubte mit keinem Atemzug an eine ernste Gefahr; statt aber mit linden Händen ihr Kind in ihre schützenden Arme zu bergen, packte sie nach ihrer Art in hastigem Aufbrausen zu und brachte die schwankende Lisa nur noch mehr aus ihrem Gleichgewicht.

Denn gerade das Gefühl der Verheimlichung trug dazu bei, Lisas Verhältnis zu der Mutter zu unterhöhlen. Dadurch, daß sie schon Schuld empfand, noch ehe sie Schuld begangen, gewann der Gedanke Raum in ihr, daß sie nun doch kein unbeflecktes Gewissen mehr besitze, daß es auf etwas mehr oder weniger Unrecht nicht mehr ankomme. Die ersten inneren Kämpfe zwischen Reinheit und Sünde, die hatte Lisa schon durchfochten, längst, ehe sie die Grenze zwischen Unschuld und Schuld erreichen sollte; und indem sie in diesen Vorpostengefechten unterlag, hatte sie bereits die kommende Entscheidungsschlacht verloren.

Nachdem sie aber so weit gekommen war, daß sie Geheimnisse vor der Mutter hatte, begann sie es auch mit der Wahrheit nicht mehr ernst zu nehmen, ersann sie allerhand Vorwände, um auch tagsüber zu Berg hineinhuschen zu können oder die Mutter aus dem Hause zu entfernen.

Und sobald diese fort und Lisa zu ihm hinübergeeilt war, hatte sie alles andere vergessen. Sie bebte jetzt seinen Zärtlichkeiten entgegen. Immer wieder fragte er, hämmerte er ihr in den Kopf: »Wer hat dich am liebsten auf der Welt?«, und immer von neuem antwortete sie dankbar mit einem Kuß.

Dann küßte er sie wieder, Atem in Atem, mit dem erstickenden Kuß, der das Hirn lähmt und das Blut kochen läßt.

Denn sein Gewissen war nun völlig ruhig. Er hatte die besten Vorsätze gehabt, sie ehrlich durchgeführt. Sie hatte mit Tränen und Vorwürfen geantwortet. Dann hatte er die Zukunft in ihre eigenen Hände gelegt, sich von ihr drängen lassen, statt selbst zu drängen. Und nun sah er, wie sie die Höhe voranschritt, die zur Erfüllung führte, wie ihre letzte Abwehr einzuschlafen begann, sie unter seinem Kusse gleich einer Trunkenen taumelte, nur mühsam sich in die Wirklichkeit zurückfand, mit weiten Augen und trockenen Lippen.

Ob er sie selbst soweit gebracht hatte, in voller, skrupelloser Berechnung, ob ihr Erlahmen nicht die erste Frucht seiner eigenen Saat war, die Frage legte er sich nicht vor. Ihn erfüllte nichts, als ein unbändiger Stolz, zu fühlen, wie sie sich mehr und mehr ihm beugte, ihr Wille sichtlich versagte.

Manchmal, in grausamer Lust, zwang er sie, daß sie ihn selbst bat: »Küsse mich, Hans!«

»Wild?« fragte er.

Schwer ging ihr Atem.

»Noch wilder?«

Und erschauernd sagte sie immer wieder: »Ja.«

Dann glühte sie wie im Fieber, gaben ihre Kniee nach. »Ist das das Glück?« fragte sie leise, mit seligem Schrecken in den Augen.

»Nein,« murmelte er durch die zusammengebissenen Zähne. »Noch nicht, – noch lange nicht ...«

Und ein Singen und Klingen erfüllte sie, wie ein Ertrinkender in weiter Ferne Glocken hallen hört.

Bis sie ein Wort zusammenschrecken ließ, die langgefürchtete, entsetzliche Frage:

»Wann, Lisa?«

Sie zuckte zusammen, in hilfloser Angst.

»Heute, Lisa?«

Und schon wagte sie die Weigerung nicht mehr, bat sie in dumpfem Grauen nur:

»Nicht heute ... bitte, bitte, heute nicht.«

»Wann?« fragte er noch einmal, mit hartem Blick.

Sie hatte sich wie in ein Unabwendbares darin gefügt, daß er einmal, in fernen, unabsehbaren Tagen das Letzte von ihr heischen würde, und dennoch vor der Gefahr die Augen fest verschlossen, wie der unrettbar Verschuldete noch im Zusammenbruch ein Wunder erhofft. Und jetzt, wo sich die Wirklichkeit voll Drohen vor ihr aufreckte, verlor sie ganz den Kopf.

»Sei barmherzig,« stotterte sie. »Es wird mir ja so furchtbar schwer ... Noch ein paar Tage ... gib mir noch einige Tage Zeit ...«

»Also gut,« sagte er herrisch. »Ein paar Tage. Ich habe dein Wort.«

Am nächsten Nachmittag langte eine offene Karte an Berg an, auf der er zu einer wichtigen Besprechung am künftigen Sonnabend halb acht im Auftrage seines ehemaligen Kommandeurs – Auflösung des Kasinos und Festsetzung regelmäßiger Zusammenkünfte der Offiziere – nach einer Weinstube in der Chausseestraße aufgefordert wurde.

Diese Karte hatte Berg auf der Maschine im Amt geschrieben.

Lisa brachte sie ihm mit der Abendzeitung.

Berg las sie. »Chausseestraße?« sagte er. »Wie komme ich bloß dahin?«

Lisa wußte es nicht.

»Nimm doch die Karte mit und frage deine Mutter, willst du?«

So erfuhren Halms, daß Assessor Berg für den Sonnabend versagt war.

Am nächsten Tage erhielt Berg einen gleichfalls mit der Maschine geschriebenen Brief, dessen Unterschrift unleserlich war:

»Lieber Freund! Soeben dienstlich nach Köln beordert. Sende Ihnen eine für mich wertlos gewordene Eintrittskarte zum Sonnabend, Deutsches Theater, Kabale und Liebe

Viel Vergnügen.«

Mit diesem Brief begab sich Berg zu Frau Halm. Ob er sich wohl die Freude machen dürfe, ihr das Billett zur Verfügung zu stellen? Er selbst sei leider verhindert, Regimentsabend, Chausseestraße. Für Fräulein Lisa sei Kabale und Liebe doch kaum geeignet.

Der gebildeten Frau, deren bescheidene Mittel einen Theaterbesuch zu den herrschenden Preisen völlig ausschlossen, war dieses Angebot eine freudige Überraschung. Und mit lebhaftem Dank nahm sie an.

An diesem Sonnabend Abend gingen Berg und Frau Halm kurz nach einander fort. Die kleine Lisa blieb allein.

Während sie lässig, die Hände im Schoß gefaltet, vor ihren Butterbroten dasaß, sah sie mit verlorenen Augen ins Weite. Das Versprechen, das Berg ihr abgerungen hatte, lastete unsäglich schwer auf ihr. Mit Leib und Seele ihm angehören, – sie begriff das nicht, wie die Menschen dauernd von verbrecherischen Gewalttaten hören und doch sich nicht als Opfer einer solchen denken können.

Plötzlich fuhr sie erschreckt zusammen. Sie hörte Schritte im Zimmer nebenan. In ihrer Angst eilte sie auf den Gang hinaus.

Die Tür zu Bergs Wohnzimmer öffnete sich. Er stand auf der Schwelle, fing Lisa auf, zog sie zu sich herein.

»Die paar Tage sind vorbei,« sagte er kurz, entschlossen. Und sie wußte, er wurde auf seinem Schein bestehen.

Eine lähmende Furcht ergriff sie, erstickte zugleich jeden Widerstand. Sie dachte nicht daran, zu fragen, warum er zurückgekehrt war; willenlos ließ sie sich von ihm führen, bis in sein Schlafzimmer hinein. Er zog sie zu sich auf den Rand des Bettes, bedeckte sie mit Liebkosungen.

Der Atem ging ihr aus. In schweren Schlägen schlug ihr Herz. Sie schämte sich unsinnig.

Sie hob die gefalteten Hände zu ihm auf, diese selbstgebundenen Hände, mit denen der Mensch demütig zu seinem Gotte betet, mit denen er in heißer Not seinen Nächsten anfleht, mit denen er allein, verlassen mit der Verzweiflung ringt.

»Das Licht,« stammelte sie, sinnlos, ohne zu wissen, was sie sprach.

Er wandte sich zurück, drehte die Flamme ab.

Ein um Erbarmen flehendes: »Hans, Hans!« In verhaltenem Zorn ein herrisches: »Du mußt ...« Ein Schrei, ein Stoßgebet, in herzzerreißendem, ersterbenden Weinen: »Mein Gott, mein Gott!«

Dann das Nichts, das purpurne Nirwana.

Als das Licht wieder aufflammte und Lisa in todesähnlicher Erschöpfung die schmerzenden, geschwollenen Augen aufschlug, sah sie sich auf dem Bettrand sitzen. Unbewußt ordnete sie ihre Kleidung, strich sie sich über das zerzauste Haar.

Er stand vor dem Spiegel im Wohnzimmer und schob die Krawatte zurecht.

»Nun,« fragte er durch die geöffnete Tür, über die Schulter hinweg, »war das denn wirklich so schlimm? Hat es den ganzen Lärm gelohnt? Bist du nun wieder vernünftig?«

Sie fuhr zusammen. Sie hatte geglaubt, er würde sich ihr nun zu Füßen werfen, ihr für das unfaßbare Opfer danken, mit überströmendem Herzen, mit dem Gelöbnis eines Lebens voller Treue. Was hatte sie nur getan, daß er so hart gegen sie war? Welches Unrecht hatte sie an ihm begangen?

Ihr Herz sank ins Bodenlose. Und plötzlich fühlte sie sich unsäglich elend, beschmutzt, unwürdig jeder Achtung, jeder Freundlichkeit. Auch er mußte ebenso denken, sie verabscheuen, sie merkte es ja an seinem abweisenden Benehmen. Sie war schlecht geworden, war seiner Liebe nicht mehr wert. Und verzagend schlug sie die Hände vor das Gesicht.

Er hatte sich eine Zigarette angesteckt, sich in einen Sessel geworfen. Durch den emporsteigenden Rauch sah er zu ihr hin. Leicht hatte sie es ihm nicht gemacht, das mußte er ihr zugeben. Aber um so größer war sein Erfolg, um so kläglicher ihre Niederlage.

Sie saß noch immer auf dem Bett, hilflos, durch sein Fernbleiben erschreckt. War das das Glück, das gepriesene, verheißene, in bangen Schauern ersehnte Glück? Minuten blieb sie so sitzen, die sie eine Ewigkeit dünkten; Minuten, in denen eine grenzenlose Enttäuschung sich erstickend auf sie senkte.

»Was soll nun werden?« fragte sie in ihrer Verwirrung, mit schüchternem Vorwurf.

Er fuhr schlecht gelaunt zu ihr herum. »Törichte Frage, was nun werden soll,« gab er ihr schneidend zurück. »Nun schreibe dir es selbst zu, wenn etwas passiert ist, mit deinem sinnlosen Getue.«

Sie schluchzte auf, obwohl sie den Sinn seiner Worte nicht begriffen hatte.

Aber er durfte sie nicht länger weinen lassen, er mußte sie beruhigen, sonst merkte schließlich noch die Mutter, was geschehen war.

Er setzte sich zu Lisa auf das Bett, schlang lässig den Arm um sie. Und, mit der Zigarette zwischen den Lippen, hob er ihr Gesicht gewaltsam zu sich auf.

»Nun, Schatz,« sagte er, »hast du denn keinen Kuß mehr für mich?«

Sie sah ihn mit ihren blauen, feuchtschimmernden Augen an. »Bist du mir böse?« fragte sie beklommen.

Er stutzte. War solche Einfalt denn möglich? Aber im nächsten Augenblick hatte er sich wieder in der Hand.

»Böse?« antwortete er gedehnt. »Ich sollte es wohl. Aber wenn du mir versprichst, Kind, künftig ganz artig zu sein, will ich es dir nicht nachtragen. Abgemacht?«

Er zog sie noch näher zu sich heran, küßte sie heftig auf den Mund. Sie duldete es still. Sie war so froh, daß er nicht länger zankte, so müde, so zerschlagen, daß sie nur einen Wunsch hatte, in ihrem Bett zu liegen, Schlaf und Vergessenheit zu finden, nach all dem Schrecklichen, Widerlichen dieser letzten Stunde.

Aber während er sie küßte, fühlte er etwas in sich stocken, erlöschen, ersterben, wie eine Uhr mitten im Gange plötzlich aussetzt, hilflos hin- und herschwingt, stehen bleibt. In diesem einen Augenblick war er mit Lisa fertig, hatte er nur den einen Wunsch, sobald als möglich von ihr loszukommen. Was sie ihm zu geben vermochte, hatte sie ihm geschenkt; das Rätsel war gelöst, das Bild entschleiert. Eine mehr! Und wie alle anderen, dieselbe Komödie, dieselbe Dummheit! Und schon verstand er nicht mehr, daß er dieses schüchterne, ungeschickte, verweinte Ding da vor ihm begehrt, umschmeichelt hatte. Sie war ihm gleichgültig, eine Last geworden. Weiße, schlanke Glieder schimmerten vor ihm auf, unvergessen und unvergeßlich, Dollys Märchenbild, die raffinierte Kunst ihrer Liebe.

Und als ob Lisa seine Gedanken erriet, fragte sie bekümmert, in Hoffnungslosigkeit die alte, ewige Frage: »Bist du mir gut?« Ihre Stimme zitterte. Jetzt, wo sie sein geworden, wo sie so klein, so nichtig und elend sich fühlte, schrie ihr Herz doppelt nach einem starken Halt, liebte sie ihn tausendmal mehr als je.

Er strich ihr mechanisch über das Haar. Dann blickte er ihr in grausamer Befriedigung in das kindliche, von Tränen geschwollene Gesicht.

»Ja, Närrchen,« antwortete er zerstreut. »Das habe ich dir doch bewiesen. Und nun leg' dich schlafen. Die Mutter darf mich nicht hier finden. Ich geh ins Pschorr.«

Sie starrte ihn völlig verblüfft an. Nach all dem Gewaltigen, Unfaßbaren, das seine Seele so tief, so unermeßlich aufgerührt haben mußte, ins Pschorr?

Aber schon sah sie ihn mit Kamm und Bürste hantieren, nach Hut und Mantel greifen, war sie nach flüchtigem Abschied allein. »Vergiß nur nicht, mein Bett zu machen,« das war sein letztes Wort gewesen.

Sie blickte verstört um sich. Alles war unverändert, jedes Stück stand an seinem gewohnten Platze. Gleichgültig tickte die Uhr, schlug halb, – halb elf. Jeden Augenblick konnte die Mutter kommen.

Mit zerschlagenen Gliedern brachte sie das Zimmer in Ordnung, schleppte sich hinaus, entkleidete sich und warf sich ins Bett. Aber der Schlummer floh sie. So mußte einem Mörder nach vollbrachter Tat zumute sein. Immer wieder zogen die Erlebnisse des Abends an ihr vorbei, hartnäckig, bis zu dem einen Punkt, wo ihr die Sinne geschwunden waren. Keine Freude hatte ihr Opfer ihr gebracht, nur Angst, Entsetzen und Schmerz.

Weshalb hatte sie es getan, wovor alles in ihr sie warnte, sich sträubte und entsetzte? Welcher Dämon hatte ihr so ganz den Sinn verwirrt? Hatte denn je ein Mensch sich wehrlos dem Zwang gefügt, der ihm sein Bestes, Höchstes, Reinstes rauben wollte? Sie faßte es nicht, wie ein vom Trunk Ernüchterter die Wahnsinnshandlung seines Rausches nicht begreift. Warum nur hatte sie sich gebeugt, freiwillig das Joch der Schmach auf sich genommen? Weshalb nicht einfach Nein gesagt, aus der Kraft ihrer Jungfräulichkeit heraus?

Immer wieder grübelte sie vergeblich. Sie wußte ja nichts von der unwiderstehlichen Macht der Natur, die Mann und Weib zusammenschweißt, im Taumel der Sinne, im ewigen Gebot: Es werde!, jenseits von Gut und Böse, von Schuld und Reue, in triumphierender Schöpferkraft.

Ihre heißen Hände berührten ihren Leib; sie zog sie hastig, von Abscheu erfüllt zurück. Wie besudelt, wie verseucht, in Sünde ertränkt kam sie sich vor; und Lady Macbeth tauchte vor ihr auf, irre geworden, weil sie das Blut von ihren Händen nicht abwaschen konnte.

Draußen ging die Tür. Die Mutter war heimgekehrt.

Lisa stellte sich schlafend. Sie glaubte, ein jeder müsse ihr die Schande vom Gesicht ablesen, und dankte Gott, als Frau Dora, um nicht die Tochter zu wecken, sich im Dunkeln auszog.

Unterdes saß Hans Berg am runden Stammtisch seines Korps im Pschorr, mißmutig, abgespannt.

»Nun, Boccaccio,« redete einer seiner Korpsbrüder ihn mit seinem Kneipnamen an, »du hast dir heut wohl einen Korb geholt?«

Er schreckte auf. »Ich? Einen Korb?« antwortete er. »Ich wünschte nur, du hättest recht. Der Satan hole alle Weiber!«

 

Tagelang ließ er sie in Ruhe; sprach er mit ihr, so tat er, als sei nichts geschehen.

Und Lisa merkte kaum, daß er so wenig sich um sie kümmerte. Wie in einem Traum ging sie umher.

Es gibt Ereignisse, die zu fassen das Hirn sich einfach weigert; bei Lisa war dies um so mehr der Fall, als sie die Tragweite des Geschehenen nicht überblickte, sich nicht darüber klar war, was mit ihr vorgegangen sei. Und wie sie mit Gewalt die Augen vor dem nahenden Unheil geschlossen hatte, so war sie jetzt bemüht, die wüsten Bilder jenes Abends nach Möglichkeit aus ihrem müden Denken auszuschalten.

Dann, eines Morgens, hielt Berg sie fest. »Heut nachmittag, Kind?«

Sie verstand ihn sofort. »Nie, nie wieder,« stammelte sie außer sich. Sie war trotz ihres Falles keusch, jungfräulich geblieben, empfand die Schuld, die sie begangen, als unverdienten Schicksalsschlag.

»Also abgemacht,« antwortete er mit seinem kecken Lächeln. So wenig sie ihm noch bedeutete, so sehr reizte es ihn doch, ihr seinen unbedingten Willen aufzuzwingen.

Es war ein sengender Augusttag. Prall schien die Sonne auf die Fenster; Frau Dora hatte die Vorhänge fast ganz zum Schutze der Möbel geschlossen.

Und als die Mutier fortgegangen war, saß Lisa im Halbdunkel, mit sich ringend, entschlossen, Berg zu widerstehn. Jetzt, wo er sie von neuem begehrte, sie immer wieder begehren würde, fühlte sie sich noch mehr in Scham und Ekel getaucht, wie zerbrochen von Schande.

Ein breites Bündel Licht fiel in das Zimmer.

Er stand in der Tür. Seine Zigarette glimmte rot. »Komm, Schatz,« sagte er bestimmt.

Und mit der Schuld, der Scham, dem Ekel im Herzen erhob sie sich, folgte sie ihm willenlos.

Sie wurde sein Werkzeug, seine Puppe, seine Sklavin. Und dennoch verließ das Entsetzen sie nicht, fügte sie sich nur zitternd; angsterfüllt wartete sie seines Rufes, wie ein Kind, das harter Strafe entgegensieht. Und immer sah sie ihn vor sich, in jener unseligen Stunde, ehe das Licht erlosch, zum Tier geworden, keuchend, mit funkelndem Blick, wie ein zum Mord entschlossener Verbrecher.

Erst wenn die Lust in ihm erloschen war, wenn er sie freigab, schmiegte sie sich aufatmend an ihn an, begann ihrer Liebe Feierstunde, jauchzte ihr Herz in demütigem Glück.

Nach und nach jedoch vollzog sich eine unerwartete Umwandlung in ihr. »Die Frau gleicht einem Schatten,« sagt der Hindu, »folgst du ihr, so entflieht sie dir, weichst du ihr aus, so folgt sie dir.« So verschob sich nun auch das Verhältnis zwischen Berg und Lisa. Je hartnäckiger sich der Gedanke in ihm festsetzte, sie von sich abzuschütteln, weil sie ihm nichts mehr zu sagen hatte, er von ihr übersättigt war, desto fester klammerte sich ihr Herz an ihn, dürstete sie nach einem gütigen Wort, nach einer Plauderstunde, dem ganzen Traum vergangener, seliger Tage.

Und in dem heißen Bemühen, diesen Blütentraum aufs neue hervorzuzaubern, gewann nun etwas Macht über sie, das er in ihr geweckt, genährt hatte, die Sinnlichkeit.

Je kühler, gleichgültiger er wurde, je mehr er jede Liebesgunst als eine Gnade erscheinen ließ, desto banger begann sie jetzt diese Gunst zu ersehnen, desto stärker das Blut in ihr zu sprechen, desto eifriger bestrebte sie sich, ihm restlos Glück zu schenken. Immer mehr lebte und webte sie in diesem einen Gedanken, mit aller Kunst, mit allen Reizen des Weibes ihn fest an sich zu fesseln. Jetzt war sie es, die ihn umwarb, verlockte und verführte, im Taumel des Begehrens jede Scham überwand, jede Schranke durchbrach.

Wäre sie lebenserfahrener gewesen, so hätte sie die Grenze erkannt und eingehalten, die jedes reine Weib auch in der Hingebung von einer Dirne trennt, – trennen muß, wenn sie den Mann nicht abstoßen und verletzen will. Indem sie seinen Wünschen zuvorkam, sie überbot, erstickte sie sein Begehren; und derselbe Widerwille, den sie so mühsam in sich niedergerungen hatte, lebte nun doppelt in ihm auf.

So mußte sie in tausend Schmerzen sehn, daß er trotz ihres schrankenlosen Entgegenkommens ihr immer weiter entglitt, sie sichtlich von sich abwehrte. War das denn wirklich Wochen, nicht schon Jahrzehnte her, daß seine Stimme sehnsuchtbebend um sie geworben, sein Auge jedes Liebeszeichen wie ein Geschenk von ihr erfleht hatte? Erst Wochen her, seit er geschworen, daß sie allein seines Lebens Erfüllung sei?

Kam sie jetzt zu ihm, so schlug er immer gerade die Akten auf, um zu arbeiten. Und so oft sie in Gegenwart der Mutter auch nur den Blick zu ihm emporhob, verwies er es ihr bei ihrem nächsten Zusammensein mit herbem Tadel. Vorsicht! war jetzt sein zweites Wort. Doch hatte er nicht recht? Wie oft hatten sie hart vor der Entdeckung gestanden! Hatte die Mutter nicht vor kurzem sich über die Haarnadel gewundert, die sie auf seinem Sofa entdeckt? Hatte sie nicht recht ungläubig Lisas raschgefaßte Ausrede aufgenommen, daß diese Nadel ihr wahrscheinlich beim Staubwischen aus dem Haar gefallen sei? Ein anderes Mal, als Lisa den Kaffee ins Zimmer brachte und Berg sie so wild umfaßte, daß sie unwillkürlich aufschrie, fegte er mit raschem Griff die Tasse vom Tisch, die klirrend in Scherben ging; nur so war es möglich gewesen, daß die Mutter, als sie hineinstürzte, Lisas Schrei begreiflich finden mußte. Und wie oft war es Lisa eben noch gelungen, bei Frau Doras unerwarteter Heimkehr aus seinem Zimmer zu huschen, das Haar zerzaust, mit heißen Wangen. Sah nicht die Mutter sie in letzter Zeit oft mißtrauisch an, hatte sie nicht vor wenigen Tagen erst ganz plötzlich gefragt:

»Lisa, du tust doch nichts Böses? Du hast deine Mutter doch lieb?«

Eine solche Seelenangst sprach aus ihren verhärmten Zügen, daß Lisa das Herz schlug.

Eine Sekunde lang stand es auf Messers Schneide, daß sich Frau Dora die Wahrheit enthüllte. Denn schon wollte Lisa in ihrer Verwirrung sich an die Mutter anschmiegen, ihr alles gestehen, als diese sagte:

»Lieber säh' ich dich tot zu meinen Füßen, als daß ich so etwas von dir erlebte.«

Lisa straffte sich auf. Der Augenblick war vergangen. Mit bösem Blick antwortete sie der Mutter, der Frau, die ihre Lisa über alles liebte, die nichts auf der Welt hatte, als diese Tochter, und die doch nicht die Fähigkeit besessen, sich ihres Kindes Vertrauen zu erwerben.

Drei Tage lang hatte Frau Dora Migräne gehabt, das Haus nicht verlassen; heute hatte sie endlich wieder ausgehen können. Und schon schlüpfte Lisa zu Berg hinein. Sie wollte Gewißheit über ihr Schicksal haben.

Und diese Gewißheit sollte ihr werden.

Als sie die Tür aufklinkte und zu ihm hineinkam, rasierte er sich gerade und erblickte sie im Spiegel.

Brüsk, mit Unmutsfalten auf der Stirn, wandte er sich um.

Unwillkürlich hielt sie den Schritt an. Sie war nach der tagelangen Trennung in hellem Jubel, im Herzen die nie ersterbende Hoffnung, zu ihm geeilt. Sie hatte den Tag bis zum Weggang der Mutter in halbem Fieber verbracht, die kriechenden Minuten gezählt; und nun sah sie, daß sie sich vergeblich gefreut hatte, ihm unwillkommen war.

Ihr stockte der Atem, schlaff fielen ihre Arme herab. Er musterte sie mit einem Blick, in dem nichts von der alten Liebe glühte, der nichts als Unzufriedenheit über die Störung, nichts als Abneigung verriet.

»Was verschafft mir die Ehre?« fragte er eisig. Und sorgfältig, ohne weiter auf sie zu achten, führte er den Apparat über die Wange.

Ihr war, als sinke sie tief hinab, in einen dunklen, bodenlosen Abgrund. Ihre Augen irrten von ihm ab, ihr roter Mund, den er so oft geküßt, verzog sich schmerzhaft.

»Mama ist fort,« stotterte sie endlich.

»Nun, – und?« Er beugte sich näher zum Spiegel, um die Mundecken auszurasieren.

»Ich hatte mich so gefreut,« flüsterte sie mutlos. Ihre Augen verschleierten sich.

»Worauf?« fragte er kurz, den Apparat absetzend.

Empörung wallte in ihr hoch; aber sie zwang sie mit aller Kraft zurück. »Störe ich dich?« fragte sie etwas schärfer.

»Wer das fragt, tut es bestimmt.« Er griff nach dem Handtuch.

»Ich soll dich also allein lassen?« entgegnete sie, nun wirklich gereizt.

»Ich stelle anheim,« antwortete er nichtachtend. »Jedenfalls will ich ausgehen.«

Sie stand an der Tür. »Hans!« sagte sie fast unhörbar. Aber in dem einen Wort klang der ganze Schmerz eines verratenen Herzens.

Er war mit dem Rasieren fertig; prüfend fuhr er sich noch einmal über das Kinn.

»Liebes Kind,« sagte er über die Schulter, mit seiner leisen, überlegenen Stimme, »jedes Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb' in Ewigkeit. Wir Menschen sind aber keine Götter, und das ist die schlechteste Liebe nicht, die sich in abgeklärte Freundschaft wandelt.« Er ging gelassen durch das Zimmer; den Rücken ihr zuwendend, setzte er den Fuß auf den Sitz eines Stuhls und knöpfte die Stiefel zu.

Sie stand wie betäubt in der Tür. Das ganze unendliche Weh, das seit Jahrmillionen der Fluch des Weibes ist und bleiben wird, dieses Weh des Verlassenseins nach der Erfüllung, nach all der jauchzenden Liebe, zerriß ihr Herz. Ein heißer Zorn wollte in ihr auflodern. Aber ebenso rasch brach unter den Peitschenhieben seiner grausamen Worte ihr Widerstand zusammen. Einen Schritt trat sie vor, bereit, sich ihm zu Füßen zu werfen, ihn um ein wenig Erbarmen anzuflehen; dann aber straffte sie sich auf, in dem Letzten, was er ihr gelassen, dem Stolz des gedemütigten Weibes.

»Du hast mich also nicht mehr lieb?« fragte sie.

Er war mit seinen Stiefeln fertig, wandte sich zu ihr um. »Natürlich,« sagte er wegwerfend, »nun wird das Kind wieder einmal mit dem Bade ausgeschüttet. Sei verständig, und ich hab dich lieb.«

Ich hab dich lieb, – hart und schneidend, in unwillkürlichem Zögern klang es durch die Stille.

Es ist so seltsam: Dieselben, an dasselbe Weib gerichteten Worte, die heute sich wie Lerchen, schimmernd in Sonne, jauchzend in Kraft durch das Ätherblau schwingen, die kriechen morgen mühsam, widerwillig über unsere Lippen, wie ein gelähmter Krüppel sich stöhnend durch den tiefen Sand quält. Und zwischen heut und morgen nichts, als eine Nacht der Liebe.

»Nebenbei bemerkt,« fuhr er fort und klemmte das Monokel ein, »sind solche Auseinandersetzungen weder neu noch geschmackvoll. Sie sind die sicheren Sturmzeichen, vor denen man klugerweise die Segel refft. Wozu uns also noch das Leben schwer machen?«

Er füllte seine Zigarettendose, tastete nach Brieftasche und Hausschlüssel, fuhr in den Mantel und bürstete seinen Hut mit übertriebener Sorgfalt. »Ich will mir Mühe geben, über deine Hysterie hinwegzukommen. Und dann werde ich dich wieder rufen.«

Mit flammenden Augen erwiderte sie: »Und du glaubst, daß ich dann komme?«

»Ich glaube prinzipiell nichts,« sagte er gleichgültig, schon im Fortgehen. Und heimlich stieß er einen leisen Seufzer aus: So nett das Anbandeln auch manchmal sein mochte, – schade, daß hinterher stets dieses ekelhafte Auseinanderbandeln kam!

Noch einmal wandte er sich in der Tür. »Im übrigen,« sagte er, »wenn du mich sicher los sein willst, dann dräng' dich weiter mir so auf, mit deiner Unersättlichkeit.«

Leichten Herzens stieg er die Treppe hinab. Er war mit sich zufrieden. Die Krise, die Dolly in ihm hervorgerufen hatte, diesen krankhaften Zustand unwürdiger Hörigkeit hatte er längst überwunden; führte das Schicksal sie wieder zusammen – und er hoffte fest darauf, sobald sie frei geworden war –, so stand er ihr ebenbürtig, mit klarem Verstande gegenüber. Trude, die erst vor wenig Tagen ihm auf einer Karte ihre Abreise nach Norderney mitgeteilt hatte, war ihm als letzte Rettung vor der Not geblieben. Und was die Lisa da betraf, so hatte er die Arme wieder frei; sie wußte Bescheid, sie lag am Boden.

Ja, sie lag wirklich am Boden, als sie nach langem, unaufhaltsamen Weinen mit brennenden Augen wieder das blonde Haupt von den Armen hob. Und doch hatte sie das Ungeheure noch garnicht recht erfaßt, die Tragweite seiner harten Worte nicht begriffen. Das war ja unmöglich, daß er zum Dank für alles, was sie für ihn getan, das Band zwischen ihnen zerschnitt! Es war eine Mißstimmung, nichts weiter, und nur die Kränkung schmerzte sie, die er ihr lieblos zugefügt. Vielleicht hatte auch sie gefehlt, indem sie allzu sehr auf ihre Rechte pochte? Aber dann sank das Herz ihr immer tiefer. Von Aufdrängen hatte er gesprochen, von Unersättlichkeit. Und sie rang mit ihrem verwundeten Stolz, rang den alten Kampf des hilflosen Weibes gegen die Brutalität des Mannes, in dem das Weib so gut wie immer unterliegt. Als sie mit schwerem Kopf sich aufrichtete, ihr flammendes Gesicht zu kühlen, hatte sie nur noch den einen Wunsch, ihn wieder gut zu sehn, bat sie in ihrem Herzen Gott um Kraft, den Mann ihrer Liebe sich wieder zu gewinnen.

Zu gleicher Zeit sann Berg, während er den Kurfürstendamm hinunterging, noch einmal über sich und Lisa nach.

Verführung! Volenti non fit injuria, hieß es in einem über siebzehnhundert Jahre alten Rechtssatz, wer zustimmt, erleidet kein Unrecht. War jeder freie Liebesbund nicht gegenseitiges Übereinkommen, zu gemeinsamer Lust? Aber das war eben die Art der Weiber: Solange sie Rechte für sich forderten, da schlugen sie auf den Tisch und stellten sich dem Manne an Verstand und Witz, Kraft und Leistung gleich; aber sobald es ihre Pflichten galt, da waren sie das schonungsbedürftige, mimosenhafte Geschlecht, das Opfer männlicher Willkür und Tücke. Als Gläubiger trieben sie ihre vermeintlichen Forderungen unbarmherzig ein, als Schuldner leisteten sie grundsätzlich den Offenbarungseid. Aber immerhin, Lisa war doch kein Kind der Gosse; sie hatte einen gefährlichen Bundesgenossen in ihrer Mutter, wenn es zum offenen Streite kam. So nahm er sich denn vor, auch weiterhin sich Lisa fernzuhalten, ohne jedoch, wie heut, sie vor den Kopf zu stoßen.

Nach altem Rezept schützte er vor, daß er sich krank fühle, daß er die Nachwehen des Feldzuges, die Folgen des wolhynischen Fiebers immer mehr spüre. Er gab sich so kläglich, daß sie ihm nicht mit Zärtlichkeiten lästig zu fallen wagte; und zugleich nahm er ihre Sorge und Pflege so willig hin, daß endlich wieder ein erster, schüchterner Strahl des alten Frohsinns in ihren Augen aufzuleuchten begann.

Aber diese Taktik, durch Ablehnung jedes Kampfes zu siegen, führte zu einem Ergebnis, auf das Berg in keiner Weise vorbereitet war.

Denn Lisa tat, was alle liebenden Herzen tun: Sie betrog sich selbst. Sie suggerierte sich die Überzeugung, daß alles Schmerzliche, das Berg ihr angetan, sich aus seinem Befinden erkläre, daß er trotz seiner schlechten Laune ihr im Herzen nach wie vor ergeben sei. Und aus dem Bestreben, mit allen ihren Kräften ihm in seinem Leiden zu helfen, erwachte der Wunsch, die Hoffnung in ihr, ihm so ihr ganzes Leben weihen zu dürfen, in Dienstbarkeit und Demut.

Sie rechnete auf eine Ehe.

Und während er sich innerlich beglückwünschte, den rechten Weg gefunden zu haben, der ihn unmerklich von ihr schied, hörte er sie eines Tages bitten:

»Hans, wollen wir es nicht der Mutter sagen?«

Er fiel vor Schreck fast um, starrte sie wie eine Irrsinnige an. Allmächtiger! Kam jetzt der Pferdefuß hervor?

Er hätte sich selbst prügeln mögen. Dazu hatte er sich bei Trude Wagner so märchenhaft beherrscht, um nun in diese plumpe Falle zu stolpern?

Er tat, was man in solcher Lage immer tut: Er nahm die Frage nicht ernst.

»Hast du die ehrwürdige Mumie denn vermißt, wenn wir zu zweien scherzten?« antwortete er mit erzwungenem Lachen.

»Ich glaubte, Hans –« stotterte sie verlegen.

»Du glaubtest,« unterbrach er sie. »Der Mensch glaubt, was er wünscht, sagt schon der alte Cäsar.«

»Aber du hast mich doch lieb?« fragte sie, aus allen Himmeln fallend.

Er sah sie groß an. »Gott segne deine Harmlosigkeit,« sagte er. »Die ewige Treue, das unausrottbare Hirngespinst beschränkter Weiber! Alles, was keimt und blüht, vergeht auch und stirbt; warum soll ausgerechnet gerade die Liebe eine Ausnahme machen?«

Vor seinem Hohn erwachte der Trotz in ihr. »Liebe!« antwortete sie erbittert. »Du und Liebe! Als ob die dich zu mir getrieben hätte.«

Er zuckte die Achseln. Sie würden sich nie verstehen. Für ihn war Liebe ein Verlangen vor dem Besitz, das mit der Freude am Genuß erlosch; für sie ein seelisches Sich-Hingeben, von ganzem Herzen und aus tiefstem Gemüt. »Das ist eine verzwickte Frage,« erwiderte er kühl, »die nicht so einfach zu beantworten ist. Ein wenig Langeweile, Bequemlichkeit und Neugier, dein Prüdetun ... und schließlich, seien wir ehrlich, – das Vöglein flatterte mir selbst doch in die Hand.«

»Und nun, wo du es abgewürgt?« stieß sie hervor.

Er blickte ihr fest in die Augen. »Hab' ich dir je die Ehe versprochen?« fragte er zurück.

»Nein,« antwortete sie. »Selbstverständliches verspricht man nicht.«

»Selbstverständliches? Du denkst also im Ernst an eine Heirat?«

»Du hast mir alles genommen,« erwiderte sie bestimmt, »du mußt es mir auch wiedergeben.«

Er sah, es galt den Kampf. Ohne Zögern nahm er ihn auf.

Er hatte ein Gefühl, wie manches Mal im Felde, so oft der Tod durch seine Kompagnie schritt, Hunderte von Augen an ihm, dem Führer, hingen, so oft die blasse Furcht, die keinen schont, sich in ihm aufreckte, und dennoch alles in ihm schrie: Nur keine Angst gezeigt! Mit keinem Zucken, keinem Augenzwinkern es verraten, daß dir das Herz in schweren Schlägen an die Rippen pocht!

Er zündete die erloschene Zigarette umständlich wieder an. Dann setzte er sich rittlings über einen Stuhl, die Lehne vor sich, und blickte Lisa kalt ins Antlitz.

Sie hatte sich in den letzten Wochen verändert. Sie sah blaß aus, erschöpft, mit schärferen Zügen und sprödem Haar, glich trotz der Ähnlichkeit mit ihrem Vater jetzt mehr der Mutter. Sie mißfiel ihm gründlich, und das erleichterte ihm sein Vorhaben. Mit Güte war hier nichts zu erreichen. Er hatte mit ihr gespielt, dann ihr gegrollt, jetzt haßte er sie. Und er fühlte zugleich, daß Haß gegen Haß stand.

»Mein liebes Kind,« sagte er gemessen, »du bist im Begriff einen Fehler zu begehen oder, was noch bedenklicher ist, eine Dummheit. Du willst mich zwingen. Druck aber ruft Gegendruck hervor. Ich lasse mich nicht binden. Freiwillig, im Guten alles, – gewaltsam nichts. Das also war des Pudels Kern! Ein ganz gerissener Bauernfang, die altbewährte Rechnung auf die Leute, die nicht alle werden. Nur etwas ungeschickt hast du das angefangen, Kind. Wer solch ein hohes Spiel wagt, tut besser, die Karten fest an sich zu halten.«

»Du hast das hohe Spiel gewagt,« antwortete sie heftig. »Mit mir, mit meinem Leben.«

»Dir schien das Spiel doch selbst den Einsatz wert zu sein,« spottete er.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Du heiratest mich also nicht?« fragte sie.

»Ich denke nicht daran.«

»Und nennst dich einen Ehrenmann?«

Er hob die Arme beschwörend von der Lehne. »Aber Lisa,« sagte er, »bloß nicht von Ehre reden! Was hat denn meine Ehre mit unseren so angenehmen Beziehungen zu tun?«

»Um so mehr die meine,« antwortete sie.

»Das hättest du dir vorher überlegen sollen.«

Zum ersten Mal sah sie ihn vor sich, nackt, ohne den Hermelin, den ihre Liebe ihm um die Schultern geschlungen.

»Und dann, mein Kind,« fuhr er fort, »liegt ja die Frage garnicht so, ob ich dich heiraten will, sondern ob ich es kann.«

»Und warum nicht?«

»Weil zweimal Nichts stets wieder nichts gibt. Ich bin ein armer Teufel, ich muß bei meiner Frau auf Geld sehn.«

Sie verstummte. Darauf war sie nicht gefaßt gewesen. Sie hatte nie auch nur mit einem Hauche an seine materiellen Verhältnisse gedacht oder gar mit ihnen gerechnet; aber unwillkürlich hatte doch wohl der ganze Zuschnitt seiner Lebensführung die Anschauung in ihr geweckt, daß er mit Sorgen nicht zu kämpfen brauchte.

»Hast du dir das nicht vorher gesagt?« fragte sie hilflos, mit blassen Lippen.

Wieder zuckte er die Achseln. »Ich war eben verliebt.«

Wir Menschen wandeln uns, reifen und altern auf zweierlei Art: Der eine friedlich, unmerklich, im gleichförmigen Lauf der Tage, wie ein Gebäude Stein um Stein abbröckelt, verfällt und zur Ruine wird. Der andere jäh, in Sekunden, unter dem unerwarteten Hammerschlag des Leids, wie im krachenden Blitzstrahl ein Haus in Trümmer zusammenbricht. Ein Atemzug, in dem alles in uns erstickt wird, was unseres Lebens Stolz und Hoffnung gewesen, alles in uns erlischt, was unser Herz erhellt hat, Liebe, Güte, Vertrauen.

Solch einen Keulenschlag erlitt jetzt Lisa, der das gläubige, hoffende, demütige Kind in ihr erstickte und das getäuschte, mißhandelte Weib in ihr erwachen ließ; einen Schlag, unter dem das Leben seinen Flittertand abstreifte und hüllenlos, mit allen seinen Schwüren ihr entgegengrinste.

Sie reckte sich hoch. Ihre blauen Augen sprühten. »Du hast den Mut gehabt, mich zu verführen,« sagte sie, »mein Leben zu vernichten, mit List und Trug, um deiner Lust willen. Du hast alles in mir zerstampft, was gut und rein war. Aber die Folgen deiner Tat zu tragen, dazu fehlt dir der Mut. Du bist ein Feigling, Hans, du bist ein Lump!«

Er lachte gezwungen auf. »Erst der Gott, dann der Lump, – das alte Lied ... Scher dich hinaus, ich mag dich nicht mehr sehn!«

Am nächsten Tage bewarb Assessor Berg sich um ein Kommissorium, das ihn auf unbestimmte Zeit nach auswärts führte. Drei Tage später, Mitte September, packte er seine Sachen, um mit dem Nachtzuge Berlin zu verlassen. Die Miete bezahlte er bis Ende Oktober vorweg und versprach Frau Halm, wieder zu ihr zurückzukehren.

Lisa lag fiebernd zu Bett.

»Ich bitte, gnädige Frau,« sagte er beim Abschied, schon zwischen Tür und Angel, »empfehlen Sie mich Ihrem Fräulein Tochter.«

* * *


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