Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als Berg durch den Hausflur schritt, kreuzte er sich mit Annie, die mit verweinten Augen in die Pförtnerwohnung trat.

Denn eine Stunde vorher stand auch Willy Wagner in Hemdsärmeln, die unvermeidliche Shagpfeife im Munde, in seiner Stube am Hohenzollerndamm und packte. Er war im Begriff nach der Schweiz und von dort auf die Universität nach Heidelberg zu gehen.

Mit baumelnden Beinen saß Annie auf dem schon verblaßten Sofa und sah kritisch zu, wie Willy sich bemühte, die Reservegarnitur Wäsche in die Handtasche zu verstauen. Der große Koffer war soeben abgeholt worden.

Endlich war er fertig. Er setzte sich schwer neben sie.

»Nun, Mausi,« sagte er bekümmert und stieß mächtige Rauchwolken aus, »jetzt heißt es also Abschied nehmen.«

»Wann kommst du zurück?« fragte Annie, in einer unmöglichen Stellung an ihrem aufgegangenen Schnürsenkel bastelnd.

Er sah ihr aufmerksam zu, wie sie in verblüffender Ungeniertheit sich bemühte den Knoten aufzulösen. »Das weiß der Himmel,« antwortete er dann. »Solange sich meine alte Dame nicht von Grund aus ändert, kaum.«

»Dann seh' ich dich erst bei ihrer Beerdigung wieder,« prophezeite Annie. »Meinen Segen hat sie. Neulich hat sie der Mutter eine Mark abgezogen, beim Abwaschen, für ein zerbrochenes plundriges Glas.«

Er widersprach nicht. »Und du?« fragte er lakonisch.

»Ich?« gab sie verständnislos zurück.

Er blickte sie schweigend von der Seite an, mit ihren hübschen, blanken Stiefeln, den feinen Florstrümpfen, dem faltenlosen blauen Rock, der ihre überschlanken Hüften tadellos umschloß, der weißen Waschbluse, dem starken, schimmernden Knoten ihres rotgoldenen Haares.

Wohlig, wie stilles, gesättigtes Glücksgefühl lag es über dem Raum.

»Du hast dich eigentlich erstaunlich herausgemacht, Mausi,« sagte er. »Wenn ich bedenke, wie ich dich kennen lernte, – was warst du da noch für ein Schaf!«

»Gleich und gleich gesellt sich gern,« antwortete sie, endlich mit ihrem Schnürsenkel fertig.

Er warf sie mit einer Handbewegung hintenüber und küßte sie. »Und jetzt,« fuhr er dann nachdenklich fort, »bist du die frechste Rübe in ganz Wilmersdorf.«

»Guter Umgang veredelt,« antwortete Annie gleichmütig und fuhr sich glättend über das zerzauste Haar.

Er klopfte die Shagpfeife aus und blies hindurch.

»Ehrlich gesagt,« – er zog den Tabaksbeutel aus der Tasche und stopfte die Pfeife – »du machst mir Sorgen. Wirst du nun auch geduldig und in Züchten auf mich warten?«

Sie zögerte. »Geduldig gern,« erwiderte sie schließlich. »Aber züchtig? Das ist schon schwieriger. Und auch so unnatürlich,« setzte sie betrübt hinzu. »Wie wirst du es denn damit halten?«

Er stutzte. Dann sagte er mit ein wenig zu viel Nachdruck: »Natürlich ebenso.«

Sie sah ihn schelmisch an. »So siehst du aus,« sagte sie aus tiefstem Herzen.

Er schlug Feuer, sog angestrengt an seiner Pfeife. »Höre, Kind,« sagte er nach längerem Sinnen. »Ich muß jetzt fort; ich setze dich unterwegs am Kurfürstendamm ab. Versprichst du mir, daß du mit keinem inzwischen anbandelst, so komme ich im Frühjahr zurück.«

Sie stand auf, ging durch das Zimmer und kauerte sich auf das Bett. Und inzwischen überlegte sie heimlich. Mit keinem anknüpfen, nachdem Willy fortgereist war, das konnte sie ehrlich versprechen. Der hochgewachsene, neunzehnjährige Jockey, der ihr schon wochenlang nachstieg und dem sie für morgen abend ein Stelldichein im Kino versprochen hatte, mit dem war sie ja schon so gut wie einig, der rechnete nicht. Und der genügte ihr vollkommen.

»Mit keinem anbandeln?« fragte sie noch einmal vorsichtig. »Während du weg bist?«

»Ja.«

»Das schwör' ich dir,« sagte sie feierlich.

»Und hältst es auch?«

»Und halte es.«

»Gut,« antwortete er. »Scher dich doch mal von dem Bett 'runter und gib mir meinen Rock herüber. So, – danke. Und nun sollst du auch eine Freude haben. Den Zuschuß zahle ich dir weiter.«

Sie schmiegte sich dankbar an ihn an. »Du bist doch ein lieber Kerl,« sagte sie schmeichelnd, während sie blitzschnell in ihrem Köpfchen rechnete. Einhundertfünfzig Mark im Monat hatte Willy ihr bisher gegeben; ganz mit leeren Händen würde Charley, der Jockey mit seinen Renntips, gewiß auch nicht kommen. Dazu ihr Gehalt beim Rechtsanwalt. Wirklich, die Tugend fand ihren Lohn! Sie war bald reich zu nennen. Ein frohes Leuchten stand in ihren braunen Augen.

»Und eigentlich,« sagte sie, Willy an seinem Schnurrbart zerrend, aus voller Überzeugung heraus, »bin ich doch auch entsetzlich anständig.« Sie trat vor den Spiegel und setzte ihren Hut auf. »Vorgestern erst,« schwatzte sie weiter, »ist einer mir nachgelaufen, den ganzen Kurfürstendamm 'rauf, bis vor unser Haus.«

Er schwieg.

»Ein Offizier in Zivil, ein Hauptmann von Soundso. Er hat mir seine Adresse gegeben.«

»Die hast du genommen?« fragte er tadelnd.

»Warum soll ich denn grob sein? Ich gehe ja doch nicht hin. Rankestraße, ganz ungeniert. Ein lieber Mensch. Und so gebettelt hat er, wirklich rührend.«

»Na also,« brummte er verstimmt.

Er griff nach Hut und Stock, Mantel und Handtasche. Sie stiegen die Treppe hinab.

»Und gestern,« fuhr sie begeistert fort, indem sie sich zärtlich bei ihm einhakte, »hat mich ein anderer Herr angehalten. Ein Filmschauspieler, erste Nummer, ebenso berühmt wie Hindenburg. Ich sag' dir, tipptopp war der angezogen, genau wie ein englischer Fürst.«

»Weißt du denn überhaupt, wie ein englischer Fürst aussieht?«

Sie streifte ihn mit gekränktem Blick. »Dich hält keiner dafür, Willy, das kannst du mir glauben.«

»Ich verzichte,« knurrte er. »Bande die!«

»Es bleibt dir auch nichts anderes übrig,« antwortete sie. »Wo hast du bloß den karierten Reiseanzug her? Wie'n Mitglied aus 'm Athletenklub ›Blutige Nase‹ siehst du aus.«

Willy pfiff ein ihm langsam entgegenkommendes Auto heran.

»Aber gut bin ich dir doch,« schmeichelte sie sich wieder bei ihm ein – denn die versprochene Rente tauchte vor ihr auf –, während der Wagen einen Bogen beschrieb und vorfuhr.

Sie log auch nicht. Er war der Erste, dem sie sich gegeben. Nie würde sie ihn vergessen, mochte sie auch noch so vielen ihre Liebe schenken. Sie sah es als kein Unrecht an, die anderen Mädchen taten es alle so. Tanzen und lachen und lieben, die Stunde genießen und die Augen vor der Zukunft schließen, das hatte der Krieg sie gelehrt.

»Das Leben ist für uns arme Mädel so scheußlich kurz,« setzte sie leise hinzu, aus ihrem Grübeln heraus.

Dann saßen sie stumm, Hand in Hand, in dem peinigenden Schweigen des Abschieds, in dem das Wort vor der Fülle der Empfindungen versagt. Und er fühlte mit untrüglicher Sicherheit, daß er sie heut verlor, nie diese kleine Annie wiederfinden würde, die ihm ein Jahr lang Sonnenschein in sein Leben getragen hatte.

Das Auto bog in den Kurfürstendamm ein.

Er schlang den Arm um sie. »Vergiß wenigstens nicht, daß ich dein Freund bin und bleibe,« sagte er bedrückt, »und mache nicht mehr Dummheiten, als dringend nötig ist. Komm her, Kind, noch einen letzten lieben Kuß. Nicht weinen, Mausi ...«

Das Auto hielt an der Ecke.

»Nun Schluß, Annie,« sagte er entschlossen. »Auf Wiedersehn.«

»Auf Wiedersehn,« schluchzte sie im Aussteigen. »Und bleib mir gut, Willy ...«

Während der Wagen nach dem Olivaer Platz zu einbog, sah er ihr nach, wie sie mit ihrem zierlichen Gang die Straße hinabeilte. Und auch ihm schnürte sich das Herz zusammen. Es war ein Stück seiner Jugend, das er begrub. Er hatte sie sehr lieb gehabt.

 

Vier Monate waren vergangen. Kalt, mit schweren Schneefällen war das neue Jahr eingezogen. Noch immer schneite es leise, unablässig auf die Weltstadt herab. Es war vier Uhr, schon sank die Dämmerung.

Frau Schuppke, die Pförtnerin, Annies Mutter, stand im Hof, auf ihre Schaufel gestützt, mit der sie eben einen Gang freigemacht hatte. Drüben im Stalle zäumte ihr Mann die beiden Braunen auf, um sie scharf beschlagen zu lassen. Dann kam der eine Gaul unter seinem Woylach vorsichtig über die Schwelle geschritten, trat ins Freie hinaus und wartete geduldig, den Kopf zurückgewandt, bis der Stallgefährte ihm folgte und Schuppke den Mantel angezogen, die Pfeife in Brand gesetzt und die Zügel herabgenommen hatte.

Schwer hallten die Pferdetritte im Hausflur wider, als Schuppke in mürrischem Schweigen an seiner Frau vorüberzog.

Frau Schuppke sah prüfend zum schwarzgrauen Himmel hinauf. Sie wäre für ihr Leben gern in die Nachbarschaft gegangen, zu einem Plauderstündchen am warmen Ofen, beim dampfenden Kaffee; aber ihr Mann war fort, Annie noch in ihrem Rechtsanwaltsbureau, und einer mußte schon die Tür bedienen.

Plötzlich eilte Lisa in das Haus. Sie sah schneeweiß aus, hielt sich kaum aufrecht. Mit starren Augen rannte sie an der Pförtnersfrau vorbei.

Stumm, in forschender Neugier, sah die ihr nach. Schon seit den letzten Wochen hatte sie Lisa mit den Kenneraugen der Frau aus dem Volke beobachtet und allerhand zu bemerken geglaubt, das schmalgewordene Gesicht, die dunklen Ringe, die junge, sich straffende Brust. Aber immer wieder hatte sie sich eine Närrin gescholten. Die kleine Lisa Halm, das Schäfchen? Unsinn!

Mit einmal stürzte Lisa in die Ecke des Hofes zum Müllkasten und erbrach sich. Das helle Wasser in den Augen, richtete sie sich auf.

»Haste Worte?« sagte Frau Schuppte langgedehnt. »Na das Geschäft is richtig.« Sie war förmlich erstarrt.

Sie trat heran. Ihre schwarzen Schlangenaugen musterten argwöhnisch Lisas Gestalt. »Haben Sie das öfters, Fräuleinchen?« fragte sie mit erheuchelter Güte.

»Ja,« antwortete die kleine Lisa ahnungslos. »Seit einiger Zeit. Ich muß mir den Magen verdorben haben.«

»Weiß Ihre Mutter das denn?«

Lisa schüttelte den Kopf. »Ich wollte sie nicht ängstigen.«

»Und immer müde und miesepetrig, und kein' Appetit?« forschte die Frau mit Feuereifer weiter.

Lisa nickte matt.

»Na also,« sagte Frau Schuppke mit Nachdruck. »Da haben Sie wohl 'n Bräutigam, Fräulein?«

»Einen Bräutigam?« wiederholte Lisa verwirrt. »Wieso?« Ihr war noch immer so übel, daß sie wankte und sich auf den Müllkasten stützen mußte. Aber so viel empfand sie doch dunkel, daß sich da etwas Schreckliches, Unfaßbares, Unmögliches vor ihr aufrichtete. Und plötzlich klangen ihr Bergs Worte im Ohr: Nun schreibe dir's selbst zu, wenn etwas passiert ist ...

Sie begann zu weinen.

»Ja, ja,« sagte Frau Schuppke nachdenklich, »aus Kindern werden Leute, und Leute kriegen Kinder.« Das war ein Ereignis, ein Skandal, der nicht mit Gold zu bezahlen war, den sie der alten Halm, dieser aufgeblasenen Person von Herzen gönnte! So was zog jeden Tag, die Nase in der Luft, wie eine Lumpenprinzessin an der Pförtnerstube vorbei. Nichts zu beißen, gnädige Frau vorn und hinten, und jetzt noch der Bankert!

Nur die arme Lisa tat ihr leid. Das war ein liebes Mädchen, bescheiden und höflich. Die war auf einem anderen Mist gewachsen als diese alte Vogelscheuche!

Gutmütig sprach sie auf Lisa ein: »Nun, Fräuleinchen, dann gehen Sie nur man 'rauf und trinken Sie 'n Glas Wasser. Zu sehen ist vorläufig noch so gut wie nichts. Und kommt Zeit, kommt der Sanitätsrat. Ich sage nichts, ich werd' mir den Mund nicht verbrennen.« Sie ahnte selbst nicht, welch eine schlechte Prophetin sie war.

Am selben Morgen hatte sie einen Streit mit der Pförtnersfrau des Nebenhauses gehabt. Zwar war diese ihre Busenfreundin; das schloß aber nicht aus, daß alle paar Wochen aus dem gemütlichen Schwatz heraus ein erbitterter Wortkampf zwischen ihnen ausbrach.

Frau Schuppke hatte trotz ihrer draufgängerischen Art eine zitternde Angst vor ihrem wortkargen, breitschultrigen Mann, der verschlossen seine Pflicht tat, mit kurzem Befehl sie selbst zur Arbeit anhielt und, wenn sie etwas versäumte, sie ohne langes Reden verdreschen konnte. So hatten sich denn Mutter und Tochter von Anfang an zu gemeinsamem Schutz gegen den Vater zusammengeschlossen; jede log die andere heraus, und die auf Annie angewiesene Mutter hatte bald gelernt, bei deren Heimlichkeiten ein Auge oder auch beide zuzudrücken, um sie vor jedem Zusammenstoß mit dem mürrischen, so leicht gewalttätigen Vater zu schützen. Lautlos nach außen, in steter Furcht und doch zugleich in unbezähmbaren Drang nach neuem Trug spielte sich dieser heimliche Kampf der beiden gegen den Gatten und Vater ab.

Anders bei der Nachbarin, die kinderlos war. Hier war der Mann, ein dürres Schneiderlein, der neben seiner schwerbusigen, hüftenstrotzenden, vollbeleibten Gattin fast verschwand, die schlechtere Hälfte im Ehebunde. Trotz seiner fünfzig Jahre lebte er nach der fälschlich Luther zugeschriebenen Regel: Wein, Weib, Gesang; nur, daß er den Wein durch eine lieblich gluckernde Branntweinbuddel, sein Weib durch jede ihm erreichbare Schürze, und den Gesang durch eine Flut von höhnenden Kadenzen ersetzte, mit denen er die zornbebende Frau ohne Gewissensbisse allmählich einem Schlaganfall entgegenführte. Auch heute hatte die Nachbarin geklagt, ihr Mann sei erst in aller Frühe heimgekehrt. Der sei wahrscheinlich hinter der Zeitungsfrau, einer jungen Kriegswitwe, her. So war denn das Gespräch nach alter Gewohnheit wieder auf die Ehe und ihre Schattenseiten gekommen, und Frau Schuppke hatte mit Vergnügen die Gelegenheit benutzt, ihre Weltweisheit zu offenbaren.

»Ich will Ihnen einmal meine Meinung sagen,« hatte sie geäußert. »Da las ich gestern im Anzeiger was von freiwilligem Dienstjahr für Mädchen, von wegen kochen und Kranke pflegen und so 'n Zeug. Das mag ja recht sein. Aber eins sollten die Mädel vor allem lernen: Menschen kennen, Männer behandeln, wie die es nun mal brauchen und gern haben. Dann würden die Mannsbilder ihre Ordnung haben und nicht noch als Ehekrüppel ex machen und auf die Straße gehn. Stimmt's?« Sie freute sich, der Nachbarin, die als nachlässige Hausfrau galt, eins auswischen zu können.

Die Nachbarin nickte. Aber sie hatte doch die Spitze gegen sich herausgehört. Und um auch ihrerseits Frau Schuppke zu ärgern, sagte sie:

»Wenn das so einfach wäre. Aber rackert man sich für den Mann ab und ist dann verbraucht, so geht er erst recht seine eigenen krummen Wege. Zum Beispiel Sie, Frau Schuppke, Sie sollten etwas für sich tun. Sie werden immer magerer.«

»Wir können nicht alle vor Fett platzen, bei den miserablen Zeiten,« hatte Frau Schuppke mit einem bezeichnenden Blick auf den beängstigenden Umfang der Freundin geantwortet.

Sofort fühlte sich diese beleidigt. »Das ist doch bloß der helle Neid bei Ihnen,« sagte sie giftig. »Ihr Mann hat neulich selbst zu meinem Alten gesagt, gegen Sie wär' jedes Plättbrett eine Alpenlandschaft.«

»Immer noch besser als Schmalztopf, wie Ihrer Sie nennt,« antwortete Frau Schuppke in höchster Erregung.

»Na so ein Schwindel,« brauste die Nachbarin auf. »Das haben Sie sich ja in Ihrer Wut bloß ausgedacht.«

»So?« trumpfte Frau Schuppke auf. »Ausgedacht! Nun will ich Ihnen auch die Wahrheit sagen: Sie sind ihm viel zu schmierig, sagt Ihr Mann. Der faßt Sie nicht mehr mit der Zange an.«

Die Nachbarin rang nach Luft. »Schmierig ...! Das ist 'ne ganz gemeine Lüge. Ihr Mann hat auch gesagt, Sie sind durch und durch verlogen.« Sie schäumte. »Aber ich frag' meinen Alten selbst, sowie er nach Hause kommt.«

»Meinetwegen,« sagte Frau Schuppke von oben herab; doch der Schreck fuhr ihr so in die Glieder, daß sie sich nicht einmal gegen die neue Kränkung zur Wehr setzte. »Und ich werd' meinen auch mal fragen, von wegen Alpenlandschaft.«

»Das tun Sie nur,« antwortete die Nachbarin ebenso entschieden, wenn auch in gleicher Angst. »Dann werden wir beide eben unsere Prügel besehen. Sie wissen ja, wie unsre Männer das Geklatsche lieben. Dazu hat man sich nun geschuftet,« heulte sie los.

»Und jetzt ist man 'n Plättbrett,« jammerte Frau Schuppke auf und wischte sich die Augen mit der blauen Schürze.

»Und schmierig –«

»Und verlogen –«

»Und 'n Schmalztopf –«

»Und kriegt noch seine Senge.«

»Wissen Sie, beste Schuppken,« sagte die Freundin plötzlich und trocknete die Tränen, »wissen Sie, was die Männer sind?«

»Von meinem weiß ich 's genau,« antwortete Frau Schuppte düster.

»Halunken sind sie durch die Bank,« verkündete die andere majestätisch. »Halunken!«

Und in der gemeinsamen Klage über ihr trauriges Los waren sie im Handumdrehn wieder ein Herz und eine Seele.

Doch wenn so die Gefahr einer schmerzhaft ehelichen Auseinandersetzung für Frau Schuppke auch glücklich abgewandt war, so zitterte doch die Erregung in ihr nach und lechzte nach einer Auslösung.

Und dafür kam ihr der Fall Lisa sehr gelegen.

Sie wich trotz der Kälte und Dunkelheit nicht vom Platz, bis eine Stunde später Frau Halm heimkam. Gewiß wußte Frau Schuppke, daß ihr Verdacht noch nicht bewiesen war, auch hatte sie versprochen zu schweigen; aber ein wenig glaubte sie doch ihr Mütchen an der Verhaßten kühlen zu dürfen.

Mit leichtem Neigen dankte Frau Halm für den übertrieben höflichen Gruß der Pförtnersfrau. Und plötzlich packte diese die Wut.

»Frau Halm,« sagte sie scharf hinter ihr her, kriegerisch ihre Schaufel packend, »wenn einer Sie anständig grüßt, dann können Sie auch anständig danken. Merken Sie sich das.«

Frau Halm wandte sich um. »Was wünschen Sie?« fragte sie abweisend.

»Daß Sie nicht so mit steifem Genick an unsereinem vorüberziehn. Die Zeiten sind jetzt vorbei.« Die Stimme der Frau schnappte über. »Ich bin doch nicht im Rinnstein geboren, wenn ich auch nicht mit 'nem verdufteten Hauptmann Staat machen kann.« Sie wußte auf dem Umwege über Frau Wagner und die Dienstboten genau Bescheid.

Frau Halm erblaßte unter dem Schimpf. »Ich werde mich bei meiner Cousine über Ihre Frechheit beschweren,« sagte sie empört.

Frau Schuppke geriet durch die Drohung ganz aus dem Häuschen. »Frech hin, frech her,« antwortete sie und trat mit festgefaßter Schaufel auf sie zu. »Aber bessere Augen im Kopf habe ich doch als Sie. Ich rate Ihnen, lieber die Nase mal 'n bißchen 'runter zu nehmen und sich um Ihre Tochter zu kümmern. Verstehn Sie mich?«

Frau Halm prallte zurück. »Sie sind ja verrückt,« stieß sie aus.

»Verrückt?« kreischte Frau Schuppke. »Ich will Ihnen wünschen, daß Sie das nicht noch werden. Vorläufig steht fest, daß mir das Fräulein mit ihrem Brechen meinen Hof verschandelt. Da tun Sie Wohl entschieden besser, ein Loch oder auch zwei zurückzustecken. Die Hebamme wohnt schräg gegenüber. Bitte stark zu klingeln. Guten Abend, Frau Halm.«

Wankend, mit blutleerem Gesicht ging Frau Dora über den Hof, begann sie die Treppe emporzusteigen. Aber jäh blieb sie stehn. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen; blitzartig erfaßte sie alles das, was ihr bisher so ganz entgangen war. Sie sah Lisa, die schüchterne, gleichmäßige Lisa vor sich, wie sie plötzlich erblühte, sich schmückte, bald jubelte, bald mit den Tränen kämpfte, wie sie der Mutter selbstbewußt Trotz bot, Kritik an ihr übte, zuletzt verstockt, fast feindselig ihr entgegentrat. Sie dachte an so manches unverständlich freie Wort, an Lisas Eintreten für den Vater, die Haarnadel, die zerbrochene Tasse, das Theaterbillett, fragte sich jetzt, warum Lisa nach jenem Abend noch tagelang verstört gewesen, bei Bergs Abreise so jäh am Fieber erkrankt war. Glied reihte sich an Glied, zu langer, unzerreißbarer Kette. Und während alles noch in ihr sich gegen die entsetzliche Möglichkeit sträubte, ahnte sie doch, daß ihre Lisa, ihr Einziges auf der Welt, die Ehre verloren hatte.

Es gibt Handlungen, Bosheiten, Verbrechen, auf die ein sittlich gefestigter Mensch nie kommt, die ihm weltenfern bleiben, mögen sie auch tagtäglich um ihn herum begangen werden, weil eben sein schlichter, ehrlicher Verstand, sein reines Herz keinen Raum für solchen Frevel hat. Ein solcher Mensch gleicht einem Nachtwandler auf hohem First, der nichts vom tiefen Abgrund zu seinen Seiten ahnt, der, wenn er geweckt wird, unfehlbar haltlos abstürzt.

So hat jetzt auch Frau Dora Halm den Boden unter ihren Füßen verloren.

Stufe um Stufe zieht sie sich die Treppe hinauf, immer von neuem nach Atem ringend. Mit zitternder Hand öffnet sie die Tür.

Taumelnd tritt sie herein.

Lisa sitzt zusammengesunken am Fenster und starrt in die Nacht hinaus.

Die Mutter steht aufrecht am Tisch. Ihre Augen graben sich in ihres Kindes Gestalt. Und mit einem Schlage weiß sie die Wahrheit.

Immer wieder setzt sie zum Sprechen an, während Lisas Blick verstohlen, dann in jähem Erschrecken zur Mutter gleitet.

Sie wird totenbleich.

»Lisa,« sagt die Mutter endlich mit zugewürgter Kehle.

Lisa erhebt sich wie automatisch, unter den zwingenden Augen der Mutter. Und mit einem Wehlaut bricht sie vor ihr zusammen.

Frau Dora regt sich nicht. Dann, ihr Kleid wie vor etwas Widerlichem zusammenraffend, weicht sie zurück.

»Mutter,« wimmert Lisa, »liebe, gute Mutter!«

Ein langes Schweigen. Dann stößt Frau Halm erstickt heraus: »Wer? Berg?«

»Sei nicht so böse, Mutter, so furchtbar böse,« fleht Lisa. »Ich wußte ja nicht, was ich tat.« Ihre zarten Schultern fliegen in herzerschütterndem, lautlosen Weinen.

»Assessor Berg?« wiederholt die Mutter hart.

»Ja.« Ganz leise, wie ein verhallender Seufzer.

Wieder weicht die Mutter zurück. Regungslos steht sie fernab, schneeweiß, um Jahre gealtert. Nur die großen entsetzten Augen scheinen alles Leben in sich aufgesogen zu haben.

»Er wird dich heiraten?« fragt sie nach langem Zögern heiser.

Lisa hat sich aufgerichtet. Unter der eisigen Strenge versiegen ihre Tränen, versteint sie innerlich. Und ein wilder Zorn gegen die Mutter steigt in ihr auf.

»Nein,« antwortet sie schroff.

»Warum nicht?«

»Weil ich arm bin.«

»Hat er dir das gesagt?«

»Ja.«

»Und keine Rettung?« Die Stimme der Frau erlischt.

»Keine.«

»Wer hilft uns nur, mein Gott, mein großer Gott!« stöhnt die Frau auf.

»Niemand,« erwidert Lisa mit zusammengebissenen Zähnen. »Niemand auf weiter Welt.«

Doch in der Not der Stunde kocht es wieder in der Mutter auf. »Und hast du denn nicht an mich gedacht, an all die Liebe, die Sorge, ehe du – ehe du –«

»An dich? An deine Liebe?« Lisa ist aufgesprungen. Mit verzerrten Zügen steht sie vor der Mutter. Und alles, was sie so lange auf dem Herzen getragen, in wehen, dunklen, verzweifelten Stunden, alles, was sie sich hundertmal gesagt, in den schrecklichen, endlosen, angstdurchbebten Nächten, bricht sich mit einem Schlage Bahn.

»Von deiner Liebe sprichst du?« Ihre Augen blitzen. »Es gibt auch eine hassende Liebe. An mir hast du alles geliebt und gehaßt, was dir das Leben geraubt, Jugend und Glück und Sonne. Und eins vor allem, meinen Vater. Hast alles gehaßt, bis du mit deinem Haß mich unglücklich gemacht hast. Jawohl, ich tat's. Mein ist die Schmach, doch dein die Schuld.«

Kein Laut ist zu hören. Wie Todfeinde stieren sich Mutter und Tochter in die Augen. Dann wendet sich Frau Dora stumm ab.

In der Tür bleibt sie stehn, sieht sie zurück. Und all die Demütigung, die diese schwerste Stunde ihres Lebens ihr gebracht, all ihre lodernde Empörung legt sie in das eine Wort, mit dem sie für immer Abschied nimmt von dem, was sie wie ein Panier durch ihr verfehltes Dasein getragen, von ihrem Leben, ihrem Stolz, ihrem Kinde, – das eine, bitterschwere Wort:

»Dirne!«

Dann, noch in Hut und Mantel, geht sie hinaus, die Treppen hinab, die Vordertreppe zu Hildegard Wagner hinauf.

 

Sie sah grotesk aus, mit dem unmodernen schwarzen Hut auf dem fliegenden, schon ergrauten Haar, dem Schweiß auf dem verblühten, blassen Gesicht.

Als sie bei Wagners auf der Diele stand, schallten ihr aus dem Eßzimmer die lebhaften Stimmen ihrer Cousine und Trudes entgegen. Denn dort wurde soeben in großer Erregung über sie verhandelt. Frau Schuppke, die doch ein schlechtes Gewissen bekommen hatte und der immer mehr die Möglichkeit eines Irrtums aufgedämmert war, hatte sich vorsichtigerweise schleunigst zu ihrer Hauswirtin hinaufbegeben, um durch eine zweckentsprechende Darstellung des Vorgangs jedem Nackenschlage vorzubeugen. Nach ihrer Schilderung hatte Lisa anläßlich ihrer Übelkeit auf dem Hofe halb und halb eingeräumt, daß sie eine Herrenbekanntschaft gemacht habe. Und da hatte sie, Frau Schuppke, es für ihre Menschenpflicht gehalten, der Mutter einen Wink zu geben, daß diese etwas auf das Fräulein achte. Die Frau Hauptmann sei aber ohne weiteres unglaublich ausfallend gegen sie geworden, gerade als ob sie schon Bescheid gewußt habe und sich darüber ärgere, daß die Geschichte ans Tageslicht gekommen sei.

»Schuppken,« hatte Frau Hildegard entsetzt gefragt, »erbrochen hat sich die Lisa? Sie meinen doch nicht –?«

»Ausgeschlossen,« rief Frau Schuppke und hob die dürren Arme beschwörend zum Himmel, »ganz ausgeschlossen, gnädige Frau. Da leg' ich die Hand für ins Feuer.«

Befriedigt zog sie ab; ihr konnte nichts mehr passieren.

Und nun kam Frau Dora.

Zuerst, als das Mädchen sie meldete, trat tiefe Stille ein.

»Wir sind nicht zu Haus,« sagte Frau Wagner dann außer sich. »Laß sie ihren Schmutz bei sich oben ausfegen, statt daß sie ihn uns in die Wohnung trägt.«

Aber schon hatte Frau Dora die Anmeldung nicht abgewartet und trat herein. Niemand begrüßte sie, wie sie selbst in ihrer Erregung den Gruß vergaß.

»Hildegard, kann ich dich wohl allein sprechen?« stieß sie hervor.

»Trude, geh hinaus,« herrschte Frau Hildegard in übelster Laune. »Was ist denn los?«

Und doch hatte sie seit Jahren auf diese Stunde gewartet. Schon immer hatte sie die jüngere, hübschere Cousine beneidet, besonders seitdem Dora den Offizier geheiratet hatte. Dann trennte sich Dora von ihrem Gatten, zog nach Berlin zur Mutter, bis diese starb und Robert Wagner sich Doras annahm, ihr gegen bescheidene Miete die Gartenwohnung einräumte. Von Anfang an hatte sich in Hildegard die Überzeugung festgesetzt, daß ihr Mann an diese Dora sein Herz verloren habe; und je unsinniger dieser Verdacht war, je weniger irgendwelche Veranlassung zu ihm vorlag, desto mehr fraß er sich in Hildegard hinein. Alle Enttäuschungen ihrer Ehe legte sie Dora zur Last; sie haßte sie um so mehr, als diese nach Frau Hildegards Meinung trotz ihrer Notlage, heute noch mit unerträglicher Herablassung auf sie, die Kaufmannsfrau, herabblickte.

Dazu kam, daß Frau Hildegard immer sparsam gewesen war; und wie jede Tugend gar leicht zum Laster ausartet, war diese bei ihr im Laufe der Jahre zum ausgesprochenen Geiz geworden. Die erhöhte Unterstützung, die sie nach dem Testament ihres Gatten notgedrungen Dora zuwenden mußte, wurmte sie unbeschreiblich; und sie ergriff mit beiden Händen nun die willkommene Gelegenheit, den Streit vom Zaun zu brechen und ihn so zuzuspitzen, daß zwischen ihr und Dora das Tischtuch ganz zerschnitten wurde.

Dora rang vergebens nach Worten.

»Was hast du mit der Schuppke vorgehabt?« fuhr Hildegard fort. »Wenn ein gebildeter Mensch mit einem ungebildeten sich zankt, trägt immer ersterer die Schuld. Das solltest du als ehemalige Offiziersfrau doch wissen.«

»Es handelt sich nicht um Frau Schuppke,« antwortete Frau Dora mit Anstrengung. Die welken Hände in ihrem Schoß flogen. »Es handelt sich um Lisa.«

»Nun?« erwiderte Frau Hildegard. »Was Gutes scheint das ja auch nicht zu sein.«

»Sie – sie –« Frau Halm griff sich mit beiden Händen verzweifelt in das Haar, sodaß der Hut sich verschob und der Schirm zu Boden fiel. Stockheiser kamen die Worte heraus: »Sie hat – mit dem Assessor –«

Frau Hildegard richtete sich befremdet, mit grenzenlos verwundertem Gesicht auf. Innerlich freute sie sich ihrer schauspielerischen Begabung, denn auch sie hatte natürlich sofort an Berg gedacht.

»Was?« fragte sie gedehnt. »Lisa und Berg? Ein Flirt?«

»Ein Kind,« stieß Dora verzweifelt heraus.

»Ein was?« fragte Hildegard entsetzt.

Dora wagte es nicht zu wiederholen.

»Allmächtiger,« stöhnte Hildegard. »Und was nun?«

»Er muß sie heiraten,« antwortete Dora leidenschaftlich, mit blitzenden Augen.

»Wer?«

»Berg.«

»Die Lisa?«

»Ja.«

Frau Hildegard schwieg. »Er wird euch sonst was tun,« sagte sie dann mit unverhülltem Hohn.

»Er muß!« Die ganze Verzweiflung der Frau lag in den beiden Worten.

»Er muß garnichts,« erwiderte Hildegard. Sie kannte das Gesetz nur zu gut, von ihrem Seligen her. »Er braucht nur zu zahlen.«

»Und Lisas Ehre?« fragte Dora außer sich.

»Ist eben futsch,« erwiderte Frau Hildegard trocken. »Sag mir doch bloß, wie ist so etwas möglich? Warst du denn blind? Hast du sie garnicht gewarnt?«

»Ich wollte sie rein erhalten,« flüsterte Dora.

»Das ist dir ja glänzend gelungen,« entgegnete Hildegard verächtlich.

Dora schloß die schmerzenden Augen. Wieder der furchtbare Vorwurf, der ihr, der Mutter, die Schuld zuschob!

Plötzlich stand Hildegard auf. Rote Flecken glühten auf ihrem Gesicht. Mit hartem Blick sah sie auf ihre zusammengebrochene Cousine.

»Heiraten!« sagte sie schneidend. »Das weißt du wohl nicht, daß er sich um Trude bewirbt? Willst du die auch noch unglücklich machen?«

Es war dies zwar nur so hingesagt – denn Hildegard begünstigte aus tausend Gründen die Kandidatur Goldstein –, aber es gab ihr die Handhabe, sich nun von dieser ganzen unsauberen Geschichte fernzuhalten.

Dora fuhr in unsäglichem Erstaunen hoch. »Du wirst doch solchem Schuft nicht deine Tochter geben?«

»Und du?« fragte Hildegard erregt zurück. »Was willst du denn anderes tun? Wenn wir heutzutage jeden Bewerber abweisen wollten, der sich einmal zu einer Dummheit hat verleiten lassen, dann könnten wir ebenso gut unsere Töchter einkampfern.«

»Du willst mir nicht helfen,« sagte Dora mit erstickter Stimme.

»Nicht helfen!« antwortete Hildegard, vor Aufregung glühend. Nichts versetzt den Menschen in größere Empörung, als wenn man ihm das Schlechte zutraut, das er im Sinne hat. »Wer hat seit Jahr und Tag sich hingestellt und über meine Trude die Nase gerümpft, als ob sie jeden Tag vor die Hunde gehen könnte? Wer hat denn immer sich für wer weiß was Extras gehalten? Da nimmt man nun mit seinem guten Herzen die Verwandte ins eigene Haus. Eine schöne Schande! Denn was die Schuppke weiß, weiß ganz Berlin.«

Ein leises Rascheln ließ sich an der Tür hören. Trude hing zweifellos am Schlüsselloch. In ihrer Empörung achtete Hildegard nicht darauf.

»Ich kann nichts tun,« setzte sie schneidend hinzu. »Mir hast du wahrhaftigen Gott keine Veranlassung gegeben, mich deinetwegen in Unkosten zu stürzen. Du konntest anderen immer klug raten, nun hilf dir selbst. Alles hast du stets besser gewußt, obwohl du grundsätzlich nur Unheil angerichtet hast, mit deinem dicken Schädel. Das muß einmal gesagt werden. Deinen Mann hast du nach Afrika und Amerika gejagt, – Herrgott, daß der bei deiner Laune einmal aufatmen wollte, das wird wohl jeder verstehn! Die Lisa hast du erst zum Bettelkind gemacht, und nun hast du sie glücklich ganz auf dem Gewissen. Wo du den Mut da hernimmst herzukommen, ehrlich gestanden, das ist mir schleierhast. Und darum sage ich: Ob ich für Lisa etwas tun kann, das werde ich mir überlegen, so wenig sie es verdient hat. Mit dir aber, Dora, will ich nichts zu schaffen haben. Hochmut kommt eben vor dem Fall.«

Und Dora fühlt, wie ihr die Füße absterben, wie langsam die Kälte an ihnen aufwärtskriecht, bis zu dem Scheitel, auf den es sich wie Eis legt; im Munde hat sie einen seltsam metallischen Geschmack.

»Kanaille!« sagt sie laut, ohne es zu wissen.

Hildegard fährt hoch. Was, auch noch unverschämt benimmt sich diese Person, wo sie ihr nur die reine Wahrheit gesagt hat? Das soll sie sich in ihrem eigenen Hause bieten lassen? Und in Entrüstung, mit bebenden Knieen versendet sie ihren letzten, vergiftetsten Pfeil. »Schilt deine Tochter nicht Kanaille, Dora,« sagte sie kalt. »Das ist die Lisa nicht. Weit eher sieht es so aus, als hättest du der Trude diesen Berg wegfischen wollen, um ihm die Lisa anzuhängen. Und nun, wo glücklich der Topf in Scherben liegt, soll ausgerechnet ich dir die Kastanien aus dem Feuer holen und dann mit ansehn, wie Trude sich damit abfindet? Nimm mir nicht übel, zu solcher Zumutung gehört eine eiserne Stirn. Wenn ich mir das alles so überlege, – ich kann mir nicht helfen, die ganze Liebelei mit Berg hast du selbst eingefädelt.«

Dora erhebt sich jäh. Geraden Wegs geht sie durch das Zimmer, ohne ein Wort, ohne Abschied. Wie gelähmt hat sie unter den letzten furchtbaren Worten Hildegards dagesessen, vor diesem schwersten Vorwurf, der ihr, der Mutter, das Herz mit sieben Schwertern durchbohrt. Der maßlosen Schmach, die hier auf ihr Haupt gehäuft wird, hält sie nicht stand.

Schwer fällt die Tür hinter ihr zu.

Aufatmend setzt sich Hildegard in den Sessel, den Dora eben verlassen. »Gott sei gelobt,« sagt sie befriedigt vor sich hin. »So bald kommt die nicht wieder.«

Wie gepeitscht stürmt Dora die Treppe hinunter. In ihr ist alles dumpf, alles zerschlagen, und während sie den Kurfürstendamm hinabtaumelt, beherrscht der eine Gedanke sie zwingend: In den Augen der Menschen trägt sie, die Mutter, die Verantwortung; sie hat ihr Kind, ihren Stolz auf dem Gewissen!

Halblaut mit sich redend, den schwarzen, altmodischen Hut schief auf dem Kopf, den baumwollenen Schirm in der Hand, mit den Handschuhen in der anderen Faust hin und her fuchtelnd, so geht sie stieren Auges durch das Dunkel, durch die Kälte ihren letzten Gang. Die Leute sehen ihr belustigt nach; die Straßenjugend, die sie für betrunken hält, johlt höhnend um sie herum, wirft sie mit Schnee. In dem Wagengewirr an der Gedächtniskirche wäre sie um ein Haar überfahren worden; wilde Flüche tönen hinter ihr her. Sie biegt links ab, am Hippodrom vorbei, erreicht das Ufer des Kanals.

Einen Augenblick stutzt sie. Ein Polizeiwachtmeister kommt auf sie zu, macht hart vor ihr kehrt, verschwindet wieder in der Nacht.

Dann überkommt sie von neuem der unwiderstehliche Drang: Nur nichts sehen, nichts hören, nur ein Ende, ein rasches Ende! Hoch aufgereckt, die Augen auf die gegenüberliegenden dunklen Baumkronen gerichtet, geht sie geradeaus, auf das Wasser zu. Ein Gleiten, ein Fall, ein Knistern des dünnen Eises, dann ein schriller Schrei, ein Gurgeln.

Die eisige, trübe Flut dringt ihr in Mund und Nase, raubt ihr die Luft in unerträglichem Druck. In ihren Ohren brausen die Hammerschläge der Kirchenglocken, gellt eine rasende Mädchenstimme: Mein ist die Schmach, doch dein die Schuld! Dann lichtet sich das blutige Rot vor ihren Augen, wird es zum rosigen Lampenschein im heimlichen Stübchen. Und eines Mannes Stimme, seine Stimme, schmeichelt: Dora, Liebling, komm her zu mir ...

Zweimal taucht sie auf, das dritte Mal nur ihre Faust, die krampfhaft noch den Schirm umklammert. Und beruhigt schließt sich das Wasser über ihr.

Der Wachtmeister kehrt argwöhnisch zurück. Von einer Bank löst wie ein Schatten sich, eine Frauengestalt.

»Was ist hier los?« fragt der Beamte barsch.

»'s ist eine ins Wasser gegangen,« antwortet sie gleichgültig.

»Warum sind Sie nicht zwischengesprungen?« herrscht der Beamte sie an.

»Zwischengesprungen,« wiederholt das Weib höhnisch. »Das solltet ihr anderen nur tun, solange es Zweck hat. Ist eine erst mal so weit,« – sie weist auf das Wasser – »dann wär's 'ne Sünde, sie von abzuhalten. Und außerdem geht so was viel zu rasch.«

Der Wachtmeister zieht sein Notizbuch, schreibt Namen und Wohnung des Mädchens auf.

Mit zornigen Augen sieht sie ihm nach. »Zwischengesprungen,« wiederholt sie von neuem, erbittert. »Erst hetzt ihr unsereins in die Verzweiflung, dann gönnt ihr uns nicht mal den Frieden.«

Und wütend speit sie hinter dem Wachtmeister her.

* * *


 << zurück weiter >>