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Atom saß, eifrig mit Studien beschäftigt, in seinem Geheimbüro im Zentraltunnel siebzehn Kilometer unter der Erdoberfläche, mitten in einer herrlichen Grotte von kolossalen, durchsichtig klaren Saphiren und Rubinen, die im elektrischen Lichte zaubrisch glänzten. Wie war Atom hierhergekommen?
Der Tunnelbau hatte in neuerer Zeit bedeutende Fortschritte gemacht, aber einen wahrhaft großartigen Aufschwung nahm die Technik desselben, als die Liquifizierung des Sauerstoffs gelungen war. Man konnte jetzt in früher unzugängliche Tiefen der Erde, ja unter die feste Schicht der Erdrinde in den feurig-flüssigen Teil des Erdinnern eindringen. Die große Hitze wurde dadurch beseitigt, dass man einen Strom von flüssigem Sauerstoff in den Tunnel leitete; derselbe band bei seiner rapiden Verdunstung so viel Wärme, dass man ohne Beschwerden in der größten Tiefe arbeiten konnte; und man hatte noch den Vorteil, dass der verdampfte Sauerstoff die beste Ventilation von selbst darbot. Ja noch mehr! Indem man den Strom des liquiden Oxygens in die geschmolzenen Massen des Erdkerns leitete, erstarrten dieselben unter seiner Berührung, und man konnte auf diese Weise eine Röhre gewissermaßen durch das Innere der Erde hindurchspritzen. Um den Sauerstoffstrom herum bildete sich eine starre Rinde von außerordentlicher Härte, die im Laufe der Zeit bei fortgesetzter Zuführung des Kälteerregers genügend dick wurde, um den ungeheuern Druck des Erdinnern auszuhalten. So hatte man zunächst kleinere Tunnel, welche bis zu zwanzig und dreißig Meilen ins Innere drangen, mit Glück gebaut und endlich im Jahre 3869 auch nach zwanzigjähriger Arbeit den großen deutsch-kalifornischen Tunnel vollendet.
Die Entfernung der beiden Ausgänge des völlig geradlinigen Tunnels betrug auf der Erdoberfläche, in der geodätischen Linie gemessen, 1322 geographische Meilen; das war also der kürzeste Weg, den man über der Erde von dem einen Punkte zum andern nehmen konnte; der Tunnel aber, der die Sehne des Bogens darstellte, war nur 1193 Meilen lang, schnitt also 129 Meilen ab. Die beiden Erdradien, von den Ausgangspunkten des Tunnels nach dem Mittelpunkt der Erde gezogen gedacht, würden dort einen Winkel von 88 Grad eingeschlossen haben; folglich betrug die Neigung, welche die Linie des Tunnels gegen den Horizont von Deutschland sowohl als gegen den des westlichen Kaliforniens hatte, 44 Grad, das heißt, der Tunnel ging mit einer Neigung von 44 Grad in Deutschland in die Erdoberfläche hinein und kam mit derselben Neigung gegen die Oberfläche Kaliforniens dort zum Vorschein. Dadurch hatte man den Vorteil, zum Durchfahren dieses Tunnels keiner andern Kraft zu bedürfen als der Schwerkraft. Auf drei Schienen, welche im Durchschnitt in dem kreisförmigen Tunnel ein gleichseitiges Dreieck bildeten, glitten die Wagen, deren Reibung auf ein Minimum reduziert war, wie Schlitten auf steiler, aber völlig glatter Eisbahn, von der Schwere getrieben, mit unglaublicher Geschwindigkeit hinab. Diese Geschwindigkeit nahm fortwährend zu, bis die Mitte des Tunnels erreicht war, welche von allen Punkten desselben dem Erdmittelpunkt am nächsten lag und sich 240 Meilen unter der Oberfläche der Erde befand. Von dort stieg der Schlitten wieder in die Höhe und überwand vermöge der gewonnenen Energie der Bewegung den jetzt auftretenden Widerstand der Schwere, bis er wieder an das Ende der schiefen Ebene in Kalifornien gelangt war.
Wenn hier von einem Herab- und Hinaufsteigen gesprochen ist, so muss man natürlich verstehen, dass damit nur ein Annähern und Entfernen in Bezug auf den Erdmittelpunkt gemeint ist, die Bahn des Wagens aber eine vollständig geradlinige bleibt. Der Widerstand der Luft, der bei einer Fallgeschwindigkeit, welche in der Mitte des Tunnels fast eine deutsche Meile pro Sekunde betrug, nicht zu überwinden gewesen wäre, wurde einfach dadurch beseitigt, dass man den Tunnel luftleer gemacht und sehr zweckmäßige Ventile zum Verschluss angebracht hatte. So wirkte sogar jeder durchgehende Train wie der Stempel einer Luftpumpe aufs Neue entleerend. Die Reisenden waren ja alle mit Sauerstoffvorrat versehen.
Nachdem nun dieser großartige Tunnel vollendet war, beschloss man ein noch gewaltigeres Unternehmen, und diesmal zu rein wissenschaftlichen Zwecken. Man projektierte eine Tunnelbohrung nach dem Mittelpunkt der Erde, um die Geheimnisse des tiefsten Erdinnern aufzuschließen. Bei der Wahl des Ortes hatte man den Gedanken zur Geltung gebracht, ein ungefähres Zentrum des großen Landkomplexes der östlichen Halbkugel mit seiner antipodischen Stelle inmitten des großen Ozeans zu verbinden, die Erde gewissermaßen in einer Achse der Symmetrie zu durchbohren, und aus hier nicht näher zu erörternden Gründen dazu eine Stelle in Afghanistan in der Gabel zwischen den Flüssen Argandab und Hilmend gewählt. Da man täglich über einen Kilometer fortschritt, konnte man hoffen, in ungefähr fünfzehn Jahren den Erdmittelpunkt und, wenn kein unvorhergesehenes Hindernis eintrat, in der doppelten Zeit den Grund des Pazifischen Ozeans zu erreichen.
Seit kaum drei viertel Jahren arbeitete man über dem Tunnel und war mit der Bohrung bereits vierhundert Kilometer ins Innere gedrungen. Von Strecke zu Strecke hatte man seitliche Bohrungen vorgenommen und geräumige Höhlen zur Aufnahme der Apparate geschaffen. In der Tiefe von siebzehn Kilometern fand man in einer Schicht von gediegenem Aluminium große blasenförmige Hohlräume und hatte diese zur Hauptstation der Beamten und Arbeiter des Tunnelbaues eingerichtet, nachdem sich die Höhlen nach der Einleitung des Sauerstoffs und unter der Wirkung des großen Druckes mit einer Schicht von amorpher Tonerde bedeckt hatten.
Atom, welcher die chemischen Arbeiten des Tunnelbaues zu leiten berufen war, hatte sich in einer dieser Höhlungen sein Büro errichtet. Eines Tages bemerkte er, dass sich von einer Ecke seines Büros aus noch ein enger Gang in das Gestein hinzog; er drang durch denselben vor und befand sich vor einem schmalen Spalt, durch welchen hindurch das Licht seiner elektrischen Lampe auf herrlich widerstrahlende fußdicke blaue und rote Kristalle fiel. Das Aluminiumoxid war hier in Folge irgendwelchen örtlichen Verhältnisse zu den prächtigsten Saphiren und Rubinen auskristallisiert, die so schön klar und regelmäßig gebildet waren, dass sie keines künstlichen Schliffes bedurften. Atom erweiterte den Spalt und befand sich bald in einem Saale von Edelsteinen, wie ihn kein Märchen großartiger erdenken konnte. Die Entdeckung war übrigens nicht so wertvoll, wie sie im neunzehnten Jahrhundert gewesen wäre, denn die Edelsteine hatten nur einen Wert ihrer Härte und technischen Verwendbarkeit wegen; aber der Anblick im Glanze der elektrischen Beleuchtung war so bezaubernd, dass Atom beschloss, diese kolossale Kristalldruse zu seinem Privatbüro zumachen. Er ließ nur den äußeren Gang in seinem Amtszimmer durch eine Tür verschließen und hielt seine Entdeckung geheim. Nach und nach aber brachte er seine wichtigsten Bücher, Instrumente und Chemikalien dahin und zog sich in seine Saphirgrotte zurück, sobald er eine besonders wichtige Arbeit vorhatte.
Auch heute saß er bei der Arbeit im »Rubinzimmer«, bei einer Arbeit, die ihn Tag und Nacht beschäftigte und seinen ruhelosen Geist zu immer neuen Anstrengungen trieb. Aber es war auch eine Riesenarbeit; es galt nicht, die Erde zu durchbohren oder Vulkane auszulöschen, es galt nicht, das Meer zu verdampfen oder den Mond gegen die Erde zu sprengen – Atom wäre davor nicht zurückgeschreckt; es galt etwas Schwereres – es galt, den Willen eines Weibes zu bezwingen. Und Atom war entschlossen, die Aufgabe zu lösen.
»Es muss möglich sein«, sagte er zu sich, »auch durch eine verhältnismäßig kurze Behandlung der Zentralorgane des Nervensystems eine Wirkung auf den Willen und auf die sympathischen Empfindungen des betreffenden Individuums hervorzurufen. Alles ist vorbereitet, die Apparate sind nach unendlicher Mühe zusammengestellt, die Chemikalien beschafft, die erforderlichen Stellen in Gehirn- und Rückenmark ermittelt, es fehlt nur eines: das Versuchsobjekt selbst. Es fehlt Lyrika. Und somit ist meine Aufgabe klar formuliert! Es gilt, Lyrika in meine Gewalt und in dieses Zimmer zu bringen. Freiwillig wird sie mir nicht folgen, ich muss sie also zwingen. Das wird nicht zu schwer sein – ein leichter Gasstrom aus dieser Hülse, und sie ist bewusstlos, bewegungslos. Leicht kann ich sie dann hierherschaffen. – Ha, ich bin entschlossen, bis zum Äußersten zu gehen! Ich werde sie erwerben, und wenn sie mir ihre Liebe nicht schenken kann, so werde ich ihre Neigung selbst erzeugen. Nicht umsonst habe ich mich seit drei Monaten unausgesetzt mit der Theorie der Gehirnfunktionen beschäftigt!«
So sprach Atom zu sich selbst. Wo aber war Lyrika? Wie konnte er sie finden? Dies schien ihm nicht schwer. Atom hatte, nachdem er seine Diaphot-Erfindung vervollkommnet, mit gutem Erfolg unsichtbar um Kotyledos Wohnung spioniert und nach kurzer Zeit Lyrikas Geheimnis entdeckt. Lyrika war die einzige Person außer Propion gewesen, zu welcher Atom einmal vom Diaphot gesprochen hatte. Daran hatte Lyrika sich erinnert und sich dasselbe an jenem Morgen, als sie auf ihre Liebe verzichtete, aus Atoms Laboratorium zu erwerben gewusst. Die Glasflasche mit Diaphot war verschwunden, und so war es für Atom nicht schwer zu erraten, dass Lyrika dieselbe benutzt hatte, um ihrerseits zu verschwinden. Aber Atom wusste auch, dass das Diaphot nur auf acht bis neun Tage vorhalte und dann eine neue Dosis dem Körper zugeführt werden müsse; im andern Falle gewann derselbe seine Undurchsichtigkeit wieder, indem das Diaphot durch den Stoffwechsel aus den Geweben ausgeschieden wurde. Zuerst wurden dabei eigentümlicherweise Haare und Knochen wieder sichtbar, sodass von einem solchen Menschen nichts als das Skelett zu sehen war; allmählich trat dann auch die Haut hervor, und der Körper nahm sein gewöhnliches Aussehen an. Der Vorrat von Diaphot, welchen Lyrika entwendet hatte, musste nun, nachdem über drei Monate vergangen waren, aufgebraucht sein; sie sah sich also genötigt, einen neuen Vorrat zu gewinnen, was ihr freilich durch ihre Unsichtbarkeit erleichtert wurde.
Dies sah jedoch Atom voraus und hatte deshalb seinen Besitz an Diaphot in dem »Rubinzimmer« verborgen und verschlossen.
Die Existenz des Rubinzimmers hatte nun Lyrika bald ausgekundschaftet, indem sie sich unsichtbar dicht hinter Atom hielt: so gelangte sie in das Geheimbüro; aber in den verschlossenen Diaphot-Schrank zu dringen war ihr unmöglich. Sie musste also warten, bis Atom einmal zufällig den Schrank aufschloss, vielleicht konnte sie dann die Büchse ergreifen und entfliehen. Aber auch Atom rechnete darauf, dass das Diaphot Lyrika selbst in seine Behausung treiben würde; sobald er sie dann entdeckte, wollte er sie betäuben und sich ihrer bemächtigen, um sein psychophysisches Experiment mit ihr vorzunehmen. Die so veränderte Lyrika wäre dann natürlich nicht nur ohne Weigerung, sondern gemäß ihres Gesinnungswechsels mit Freude die Seine geworden.
Aber Atom wusste nicht, dass Lyrika bereits seit langer Zeit sich jeden Tag einige Stunden unsichtbar in seiner Grotte aufgehalten, dass sie manches Wort erlauscht hatte, was er im Eifer des Nachsinnens hervorstieß; dass sie unausgesetzt den Fortschritt seiner Vorrichtung beobachtete und seine Absicht durchschaut hatte; dass ihr völlig klar war, welche Gefahr ihr von Atoms rücksichtsloser Entschlossenheit drohte. In seine Gewalt zu fallen wäre ihr mit dem Tode gleichbedeutend gewesen, und doch musste sie sich in die Höhle des Löwen wagen, denn er von allen Sterblichen allein war im Besitze des Mittels, das sie brauchte, um bei dem Geliebten zu weilen, ohne ihn zu töten. Sie handelte daher entschlossen, aber mit Vorsicht. Als Atom die Grotte verließ, blieb sie zurück; sie war eingeschlossen in einer Saphir- und Rubinhöhle, siebzehn Kilometer unter der Erdoberfläche.
Freiwillig hatte sie sich einschließen lassen. An Luft und Nahrung war kein Mangel, denn die Sauerstoffleitung floss fortwährend, und mit Kraftpillen, die auf Wochen aushielten, hatte sie sich versehen. Ungesäumt ging sie an die Arbeit. Sie befand sich im Stande der Notwehr, und gegen Atom durfte ihr jedes Mittel gelten. Werkzeuge befanden sich im Rubinzimmer genug, und bald hatte sie den Schrank erbrochen. Aber, o Unglück, der Vorrat an Diaphot betrug nur wenige Gramm – er konnte höchstens für zwölf Tage ausreichen. Sogleich nahm sie denselben zu sich, da schon die Wirkungen der früheren Dosis nachließen, und suchte nach mehr. Vergebens! Nirgends eine Spur. Entweder führte Atom das Übrige bei sich, oder er hatte überhaupt im Eifer seiner neuen Unternehmung die Herstellung größerer Mengen unterlassen. Nun musste sie hoffen, dass Atom bald zurückkäme, solange sie noch unsichtbar war; sonst konnte sie ihm nicht entschlüpfen.
Aber Tag auf Tag verging – Atom ließ sich nicht sehen. Oft hörte sie ihn außerhalb in seinem Hauptbüro sprechen, aber in das geheime Zimmer kam er nicht. Und der zwölfte Tag brach an! Schon bemerkte sie beim Scheine der elektrischen Lampe, die sie angezündet hatte, einen leichten Schimmer, der wie ein Nebelstreif hin und her wogte und ihre Bewegungen begleitete. Vergebens putzte sie die Gläser ihrer Brille, die sie im durchsichtigen Zustande tragen musste, da sich ja auch die lichtbrechende Kraft der Flüssigkeiten in ihrem Auge geändert hatte. Diese Brille war überhaupt derjenige Teil in dem Prozess des Unsichtbarmachens, welcher die größte Schwierigkeit bot, da sie bei ungünstiger Beleuchtung zum Verräter werden konnte. Jedoch hatte Lyrika bis jetzt diesen Übelstand immer glücklich vermieden; es kam nur darauf an, das Glas vor jedem Lichtreflex zu hüten. Wie sie auch diese Gläser reinigte, die Streifen an ihrer Seite blieben – es waren ihre vollen dunklen Flechten, die an beiden Seiten des Kopfes herabhingen und schon anfingen sichtbar zu werden. Es war höchste Zeit, dass Atom kam!
Stunde auf Stunde verging, und immer deutlicher trat der reiche Haarschmuck ihres Hauptes hervor. Diesmal war es natürlich eine ganz andere Art des Sichtbarwerdens als ihre nebelhafte Erscheinung an jenem Abend auf den Lofoten. Damals mangelte es ihr nicht an Diaphot, sondern die optischen Eigenschaften der Luft hatten sich geändert; der Grund lag nicht an einer Veränderung ihres Körpers, und so war ihre ganze Gestalt auf einmal als leichter Nebel sichtbar geworden. Hier aber verlor sich das Diaphot nach und nach aus den einzelnen Teilen ihres Körpers, und diese erschienen dementsprechend allmählich deutlicher. Lyrika zitterte vor Ungeduld und Furcht. Wenn Atom noch eine Stunde ausblieb, so musste er sie bei seiner Rückkehr bemerken, und sie war verloren. Sie verbarg sich unmittelbar hinter der Tür, nachdem sie die Lampe wieder gelöscht hatte. Hier hoffte sie, nicht gleich gesehen zu werden und so zu entkommen, ehe Atom wusste, wohin er sich zu wenden habe. Endlich hörte sie Schritte im Büro, sie kamen durch den Gang – Atom nahte. Ein Lichtstrahl von seiner Lampe drang durch die Tür, das Schloss erklang, die Tür wurde geöffnet.
Atoms erster Blick fiel auf den Schrank, der erbrochen war, und im ersten Moment sprang er darauf zu. Diesen Augenblick benutzte Lyrika, um zur Tür hinauszuschlüpfen, aber auch Atom kehrte sofort um und sprang zur Tür, um sie zuzuschlagen und so ein etwaiges Entkommen zu verhindern. Aber es war zu spät. Schon sah er Lyrikas Haar am Ausgang flattern.
Keinen Moment besann sich Atom; er sprang in sein Büro zurück, ergriff seinen Flugapparat, den er in einer halben Sekunde umgeworfen hatte, und folgte der Fliehenden. Lyrika, die in den halbdunklen, unregelmäßigen Seitenräumen des Tunnels nicht rasch fliegen konnte, hatte nur einen kurzen Vorsprung. Als sie am Eingang zu dem Tunnel selbst anlangte, kam auch Atom schon aus der gegenüberliegenden Tür des Hohlraums und sah ihren Schatten zur Tür hinausflattern in den senkrecht aufsteigenden Tunnel. Hier schoss sie nun rascher als ein Pfeil empor, Atom etwa zweihundert Schritte hinter ihr her. In achtzig Sekunden waren die siebzehn Kilometer bis zur Erdoberfläche zurückgelegt, und Lyrika schwebte über dem sonnigen Boden Afghanistans. Atom folgte ihr unmittelbar, er gab die Verfolgung nicht auf. Jetzt kam es darauf an, wer den Flug länger aushielt, wer ihn rascher zu führen wusste. Für Lyrika gab es kein Entrinnen als durch Schnelligkeit, sodass sie Atom aus dem Gesicht kam. Es hätte ihr nichts genutzt, sich unter den Menschenstrom unten auf der Erde zu mischen, Atom hätte sie hier leicht eingeholt, ein Hauch seiner Gasphiole, und sie wäre machtlos umgesunken. Atom hätte eine Perücke auf dem Arm getragen – wer hätte sich darüber gewundert? Man sah von ihr nichts als den Schimmer ihres Haares. Also rasende Flucht, bis sie sich verbergen konnte.
Über Asien ging die wilde Jagd, Afghanistan, Persien flogen unter den Eilenden dahin. Schon befanden sie sich über dem großen See, welcher sich dort wieder ausbreitete, wo früher die große Salzsteppe Persiens sich gedehnt hatte. Atom war Lyrika noch nicht näher gekommen. Die Flugmaschinen beider waren aus derselben Fabrik, völlig gleichmäßig gearbeitet, beide gleich stark, in gleich gutem Zustand, mit komprimiertem Sauerstoff zur Genüge versehen; die Körper der Fliegenden waren von gleichem Gewicht, das heißt: beide durch die Schwimmgürtel gewichtslos, auch der Widerstand der Luft war für beide gleich, da der Unterschied der Körpergröße bei der gleichen Form und Größe des umfangreichen Luftschirmes nicht in Betracht kam. So sausten sie in gleichem Abstande über die Gebirge im Süden des Kaspischen Meeres, überschritten das letztere und bewegten sich durch das Tal der Kura an der Südseite des Kaukasus entlang.
Atom konnte nur hoffen, dadurch näher zu kommen, dass Lyrika einen Umweg machte und er die kürzere Strecke wählen konnte; aber bis jetzt hatte sich keine Gelegenheit dazu geboten – Lyrika hielt genau Richtung und kannte die Gegend wie Atom. Um durch den Verkehr und die Luft selbst möglichst wenig gehindert zu werden, hielt sie sich in den höchsten Schichten. Schon schwanden die Zinnen von Tiflis hinter ihnen am Horizonte – sie hatten dreihundert geographische Meilen in wenig mehr als zwei Stunden zurückgelegt, einen Weg, zu dem man sonst mindestens drei Stunden brauchte.
Es war neun Uhr morgens, als die Abfahrt vom Zentraltunnel erfolgte, jetzt wäre es in Afghanistan zwei Stunden später, also elf Uhr gewesen, in Tiflis aber zeigte die Uhr erst ein Viertel auf zehn; denn Lyrika flog mit der Sonne. Noch war der Abstand zwischen Flüchtling und Verfolger derselbe, und schon war die Hälfte des Weges bis zum östlichen Deutschland zurückgelegt.
Lyrika schöpfte neue Hoffnung; schon tat sich das Schwarze Meer unter ihnen auf, dessen nördlichen Teil sie überflogen. Eine Stunde später glitten sie bereits an der Kette der Karpaten hin – noch eine halbe Stunde, und sie war in Schlesien, in Deutschland! Würde sie sich in ihre Wohnung retten können? Vielleicht am Fenster noch hätte sie Atom erreicht! Jetzt musste sie sich auch allmählich senken, aber damit kam sie auch in die von Luftwagen und Fliegenden reich belebten Regionen. Es war nicht zu vermeiden, dass sie nach oben, unten oder nach den Seiten ausbog, und näher und näher hörte sie Atoms Schraube klirren, hörte sie das scharfe Pfeifen seines Luftschirms durch die rasend schnell zerteilte Luft. Jetzt befanden sie sich am Eingang des deutsch-kalifornischen Tunnels; von dort waren es noch achtzehn Meilen zu Lyrikas Wohnung; um diese zurückzulegen, brauchte sie noch neun bis zehn Minuten. Aber schon in fünf Minuten musste Atom sie eingeholt haben. Da fasste sie einen Entschluss der Verzweiflung. Senkrecht ließ sie sich hinabstürzen, die Schraube nach oben gekehrt; so schoss sie mit einer Geschwindigkeit von 250 Metern in der Sekunde hinab – Atom ihr nach. Unmittelbar vor dem Eingang des Tunnels gab sie sich eine plötzliche Wendung, sodass ihre Bewegung eine schräg nach unten gerichtete wurde, und flog gerade in den Tunnel hinein. In demselben Augenblick fuhr ein Zug in den Tunnel, und es gelang Lyrika, den letzten Wagen zu erreichen, an welchem sie sich mit Aufbietung aller Kräfte festklammerte.
Atom stürzte dem Zuge in den Tunnel nach, ein paar Sekunden lang näherte er sich ihm noch, aber es gelang ihm nicht mehr, die Wagen zu erreichen. Der Zug hatte seine Geschwindigkeit schon zu sehr beschleunigt und passierte eben das erste Ventil. Bis hierhin drang Atom mit seinem Fluge noch mechanisch vor, aber hier war ihm auch Halt geboten, denn in den luftleeren Raum konnte er sich nicht wagen – sein Flugapparat wäre dort wirkungslos geworden. Schon viele Meilen weit im Erdinnern sah er die Lichter des Zuges durch die Chresim-Membran des Tunnelventils schimmern. Dann erst kehrte er um und entkam nur mit Mühe der Gefahr, von einem zweiten, nachfolgenden Zuge zerschmettert zu werden. In ohnmächtiger Wut flog er seiner Wohnung zu. Lyrika war gerettet.
In einer Stunde hatte der Zug, welcher Lyrika trug, unter der rasenden Beschleunigung der Schwerkraft den Tunnel passiert und hielt am kalifornischen Bahnhof. Als er Deutschland verließ, war es 9.45 Uhr; nach deutscher Zeit hätte man jetzt 10.45 Uhr vormittags gehabt, aber im westlichen Nordamerika herrschte noch tiefe Nacht; die Bahnhofsuhr zeigte 1.32 Uhr.
Lyrika benutzte ihre Unsichtbarkeit und das Dunkel der Nacht, um sich unbemerkt vom Zuge zu lösen, und flog ohne Aufenthalt dem Osten zu; sie fürchtete, Atom könne ihr durch den Tunnel folgen, und wollte so viel Vorsprung gewinnen, dass es unmöglich würde, sie wieder aufzufinden. Deshalb schlug sie auch nicht eine rein östliche, sondern südöstliche Richtung ein. Über die Gipfel der Sierra Nevada stürmte sie noch im raschesten Fluge; dann mäßigte sie die Bewegung ihrer Schraube und schwebte mit der üblichen Geschwindigkeit von 80 Meilen pro Stunde über die Gebirge und Ströme von Arizona und Neu-Mexiko. Ruhig legte sie sich in ihren Bügeln zurück und sah der aufgehenden Sonne entgegen, deren erster Strahl sie über Texas traf. Sie passierte den Mississippi, flog über den nordöstlichen Teil des Golfs von Mexiko, indem sie die Mobile-Bai und die Appalachen-Bai abschnitt, und kreuzte die Halbinsel Florida. Nach sechsstündigem Fluge erreichte sie fünf Meilen nördlich von Cap Canaveral den Atlantischen Ozean. Drei Stunden hatte sie dadurch verloren, dass sie nach Osten flog; es war zwischen zehn und elf Uhr vormittags – dieselbe Tageszeit, zu der sie Deutschland verlassen hatte –, als sie sich zum Gestade herabsenkte.
Ermüdet ließ sich Lyrika am Ufer nieder. Einsam und öde dehnte sich Mosquito-Lagoon zu ihren Füßen, und glühend brannte die Sonne auf ihren Scheitel. Gern hätte sie ein schützendes Obdach aufgesucht, aber sie konnte sich nicht in der Nähe von Menschen zeigen und hatte deshalb diese wenig bewohnten Gegenden zum Ruheplatz wählen müssen. Die Wirkung des Diaphots hatte aufgehört, schon am Morgen war sie als ein Skelett durch die einsamen Höhen der Atmosphäre gezogen, und jetzt trat bereits ihre ganze Gestalt hervor; aber die mit Diaphot getränkten Kleider blieben natürlich unsichtbar, und sie musste versuchen, Abhilfe zu schaffen. Spähend erhob sie sich; bald entdeckte sie in mäßiger Entfernung einige Fischerfrauen. Rasch näherte sie sich ihnen, um ein Tuch zu erbitten. Aber bei ihrer Annäherung entflohen die Frauen und waren durch kein Flehen zur Rückkehr zu bewegen. Da half Lyrika sich selbst. Die eine der Frauen hatte ihr großes weißes Tuch zurückgelassen. Lyrika bemächtigte sich dieses Kleidungsstücks und ersetzte den Wert desselben reichlich durch Geld. Sie hüllte sich in das Tuch und beschloss nun, ohne Aufenthalt nach Hause zurückzukehren. Ihre Müdigkeit überwand sie durch den Genuss einiger Kraftpillen, aber der Mangel an flüssigem Oxygen in ihrer Flugmaschine machte ihr Bedenken. Doch auf acht bis neun Stunden reichte der Sauerstoff noch, und so lange brauchte sie bei gutem Wetter und günstigem Winde höchstens. Es fehlte noch eine Viertelstunde zu Mittag in Florida, als sich Lyrika in die Lüfte schwang und, nach Ostnordost steuernd, über den Atlantischen Ozean schwebte.
Die Fahrt war anfänglich günstig und rasch. Lyrika erhob sich über das Gebiet des Nordostpassats und benutzte die Äquatorialströmung zu ihren Gunsten. Schon war sie nicht mehr weit von den Azoren entfernt, als das Wetter sich plötzlich änderte und sie zwang, langsamer vorwärts zu dringen. Allmählich senkte sie sich bis auf einige tausend Meter über die Meeresoberfläche; aber hier war der Wind ihr zu stark entgegen, sie musste wieder eine höhere Luftschicht aufsuchen, da sie mit ihrem Kraftmaterial zu sparen Ursache hatte. Doch es gelang ihr nicht zu steigen. Zu ihrem Schrecken bemerkte sie, dass ihr Luftschwimmgürtel eine Verletzung erlitten hatte, wahrscheinlich bei der Fahrt durch den Tunnel. Dieselbe hatte sich allmählich zu einem kleinen Riss erweitert und ließ jetzt langsam atmosphärische Luft einströmen. Sie musste alle Kraft der Schraube anwenden, um sich in gleicher Höhe zu erhalten, aber auch diese ließ nach, und sie sank tiefer und tiefer. Die Wogen schäumten unter ihr, und der Orkan brauste ihr entgegen, an dessen Wut die Kraft der Schraube erlahmte. Schon acht Stunden war sie unterwegs, und hier herrschte bereits völlige Nacht; sie befand sich, soweit sie aus den elektrischen bunten Leuchtfeuern am Horizont erkennen konnte, noch immer zwischen den Azoren, und zwar zwischen den Inseln Graciosa und S. Jorge. Aber nur noch sechzig Meter von den Wogen entfernt vermochte sie ihren Flug zu halten, und sie musste suchen die Insel Terceira zu gewinnen.
Die letzte Reserve ihres Oxygenvorrates wurde entfesselt. Noch einmal drehte sich die Schraube, die heute schon seit zwanzig Stunden in Tätigkeit war, in rasender Geschwindigkeit um ihre Achse. Noch einmal wurde die Gewalt des Sturmes überwunden, und die Lichter der Insel erglänzten in der Entfernung von einem halben Kilometer. Da – ein plötzlicher Krach, ein Schrei –, die Schraube war mit einem kanonenschussähnlichen Knall gebrochen. Lyrika stürzte, der Sturm wirbelte sie herum, sie verlor die Besinnung, und die Wogen schlossen sich über ihrem Körper.