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Am frühen Morgen des folgenden Tages war in aller Stille vor dem dazu bestellten Beamten die Zeremonie vollzogen worden, welche Kotyledo und Lyrika für das Leben vereinte.
Strudel und Schulze hatten als Zeugen gedient. Propion und Funktionata waren zwar von dem Vorgefallenen sofort benachrichtigt worden, hatten aber nur ihre Glückwünsche geschickt. Der Brauch erforderte, dass eine Festlichkeit im Kreise der Verwandten und Freunde nach Verlauf der zehnten Pentade, am fünfzigsten Tage nach der Hochzeit, gefeiert wurde; bis dahin war das junge Paar sich vollständig selbst überlassen, und niemand kümmerte sich um dasselbe.
Schulze war Strudels dringender Einladung gefolgt, seinen Wohnsitz in seinem Hause aufzuschlagen, und Strudel bemühte sich mit rührender Sorgfalt, die altfränkischen Sitten des Wiedererstandenen zu modernisieren und ihn nach und nach mit den Vorteilen der Zivilisation des 39. Jahrhunderts bekannt zu machen. Ja, er brachte ihm sogar die Anfangsgründe des Fliegens bei, und gar zu gern hätte er Schulzes Gehirn in seinem Institut einer erziehenden Behandlung unterzogen, aber dazu hatte er den alten Herrn bis jetzt nicht bewegen können. Lyrika und Kotyledo traten nach der Trauung ihre Hochzeitsreise an. Ihr erstes Ziel sollten die herrlichen Gärten von Rampur im Tale des Satledsch auf den Abhängen des Himalaja sein; es war dies einer der wenigen Orte der Erde, wo noch große Gartenanlagen gepflegt und erhalten wurden, und Kotyledo wünschte sehnlichste diesen wundervollen Punkt Indiens seiner jungen Gattin zu zeigen. Auf dem Wege aber wollte er über Afghanistan fliegen und am Zentraltunnel einen kurzen Halt machen, um Atom zur Rechenschaft zu ziehen.
Atom war am Tage nach der verunglückten Jagd auf Lyrika in die Saphirgrotte zurückgekehrt und arbeitete an neuen Plänen, seine Absichten durchzuführen. Am Abend begab er sich wieder nach Deutschland und erfuhr hier von Propion die völlig umgestaltete Sachlage, die Auffindung Schulzes und die bevorstehende Vermählung Lyrikas. Damit waren seine Pläne zusammengestürzt. Bis jetzt hatte er bei all seinen rücksichtlosen Maßnahmen sich dadurch vor sich selbst entschuldigt, dass er nach den Gesetzen des Weltlaufs handele; dass Lyrika und Kotyledo kein Recht hätten, einander anzugehören, weil das Geschick ihre Vereinigung nicht wolle und mit Verderben bedrohe. Jetzt war es auf einmal klar, dass Funktionatas Rechnung ohne Bedeutung sei, dass der Heirat zwischen den Liebenden kein Grund aus Naturgesetzen entgegenzustellen sei. Den mächtigen Bundesgenossen, die Notwendigkeit, hatte Atom verloren – er hatte kein Recht mehr zu handeln, es sei denn aus dem unbezwingbaren Trieb seiner Leidenschaft und seines Egoismus heraus.
Im Innersten gedemütigt und doch wieder gewillt, dem Schicksal sich nicht zu beugen, brachte Atom die Nacht unruhig zu. Am frühen Morgen flog er nach dem Zentraltunnel. Er wollte mit aller Kraft sich der Arbeit im Tunnel widmen – vielleicht kam ihm dabei ein Gedanke, was ihm noch zu tun bleibe, vielleicht konnte er sein aufgeregtes Gemüt beruhigen.
Nach seiner Ankunft im Tunnel begab er sich auf das Arbeitsgerüst im Grunde desselben. Dieses Gerüst schloss genau den Tunnel, es passte in die Öffnung wie eine Kugel in den Lauf. Der untere Teil bestand aus dicken, kreisrunden Platinplatten, die durch starke Federn und schlechte Wärmeleiter getrennt waren und so das Gerüst vor den unregelmäßigen Stößen und der Hitze der aus dem Innern entweichenden glühenden Gase schützten. An den Seiten war dieser Arbeitsraum ebenfalls geschlossen und nach oben durch eine Chresimkuppel gegen etwa in den Tunnel stürzende Gegenstände gedeckt. Zehn Arbeiter, die sich von Stunde zu Stunde ablösten, konnten in diesem Hohlraum tätig sein. Durch den Boden der Arbeitskammer führten die Röhren, durch welche der flüssige Sauerstoff unter ungeheurem Druck ins Innere der Erde gespritzt wurde. Dieser Röhren waren zehn; fünf von ihnen, welche auch Zweigleitungen in die Nebenräume des Tunnels abgaben, liefen gesondert voneinander an den Wänden des Tunnels entlang und besaßen an verschiedenen Stellen Hähne zum Absperren des Oxygens; die fünf übrigen, die eigentlichen Arbeitsröhren, waren in ein gemeinschaftliches Rohr eingeschlossen und trennten sich erst im Innern der Arbeitskammer. Sie waren nur hier, im Innern der Arbeitskammer, verschließbar.
Als Atom auf dem Grunde des Tunnels in der Arbeitskammer ankam, fand er den Bau nur wenig fortgeschritten und nicht mehr als zwei der kleineren Leitungen in Tätigkeit. Atom stellte den Werkführer zur Rede, aber dieser machte darauf aufmerksam, dass der Druck des glühenden Erdinnern sich seit gestern unter der Arbeitskammer außerordentlich verstärkt habe und die gehäufte Ansammlung der Gase keine stärkere Sauerstoffzufuhr vertrage. Man müsse mit der größten Vorsicht arbeiten und dürfe höchstens zwei Leitungen fließen lassen. Aber diese Langsamkeit war durchaus nicht nach Atoms Sinn. Er tadelte den Werkführer und öffnete sogleich noch zwei andere Nebenleitungen. »Wir müssen vorwärts«, sagte Atom, »diese Kammer hält auch einen größeren Druck aus; ich habe nicht Lust, drei Tage lang auf derselben Stelle liegen zu bleiben, und werde auch noch den fünften Hahn öffnen.«
»Die Hauptleitung?«, fragte ein Arbeiter, und alle sahen entsetzt auf Atom.
»Nein«, sagte dieser, indem er einen Blick auf das Manometer warf, »das werde ich allerdings weislich bleiben lassen; wir würden dann ohne Zweifel binnen einer Viertelstunde in die Luft fliegen. Aber die fünfte Nebenleitung.«
»Auch das ist zu viel«, rief jetzt der Werkführer entschlossen. »Wenn Sie dies tun wollen, so tun Sie es auf Ihre Gefahr und Verantwortung. Aber für diese Leute und ihr Leben ist mir die Fürsorge übergeben; ich protestiere gegen ihr Verfahren, und wenn Sie dennoch dabei verharren, so verlasse ich mit denselben den Tunnel.«
»Dann gehen Sie, wohin Sie wollen«, rief Atom ärgerlich. »Die Hähne bleiben offen.«
Der Werkführer und die Arbeiter verließen die Kammer und entfernten sich eilig aus dem Tunnel. Die Flüssigkeit strömte aus den fünf Leitungen mit voller Gewalt in das Innere, und die festgebaute Arbeitskammer zitterte unter dem Druck der unter ihr gärenden Gase.
Atom war dieser Kampf mit den Elementen gerade recht; er war ganz in der Stimmung, den gesamten Erdball zu zersprangen, und sollte er auch selbst mit in die Luft gehen. Mit Spannung beobachtete er das Steigen des Manometers und das ziemlich rasche und tiefere Einsinken der Arbeitskammer, welche den Tunnel aushöhlte. Er blickte auf den Haupthahn, welcher die fünf übrigen, jetzt nicht in Tätigkeit versetzten Röhren verschloss.
»Wenn ich diesen Hahn aufdrehe«, sagte er zu sich, »was wird geschehen? Der innere Druck wird dann binnen einer Viertelstunde alle künstlich erreichbaren Kräfte übersteigen und diese Kammer in die Höhe schleudern. Dieser vierzig Meilen lange Tunnel würde gerade wie der Lauf einer Riesenkanone wirken, und diese Arbeitskammer würde das Projektil darstellen. Unter der fortwirkenden Spannkraft der Gase würden wir sicherlich eine Geschwindigkeit von dreißig und mehr Kilometern in der Sekunde bekommen; eine solche von vierundzwanzig würde schon genügen, uns so hoch zu schleudern dass wir aus dem Anziehungsbereich der Erde hinaus in das der Sonne gelangten; unsere Richtung würde unter Berücksichtigung der Zentrifugalkraft der Erde gerade nach ihr hinweisen. Das Resultat ist klar; wenn ich diese Leitung öffne, so werde ich mich samt diesem Arbeitsraum und allem, was darinnen ist, nach einer Viertelstunde auf dem direkten Wege zur Sonne befinden. Es wäre vielleicht gar nicht so übel, diese Reise anzutreten. Was habe ich eigentlich noch hier zu suchen? Und es wird sicherlich Leute geben, die mir guten Weg wünschen.«
Seine Betrachtungen wurden durch ein Telegramm unterbrochen, welches vom Ausgange des Tunnels an ihn abgesandt wurde. Ein Herr sei eben angekommen und wünsche ihn in einer dringenden Angelegenheit sofort zu sprechen.
Atom antwortete, es sei ihm unmöglich, die Arbeit zu verlassen, er ließe den Fremden bitten, ihn im Tunnel aufzusuchen.
Weiter und weiter zischten die Röhren ihren Inhalt in den siedenden Abgrund. Atom sah sich nun doch genötigt, eine der Röhren zu schließen, da der Druck zu groß zu werden drohte. Eine halbe Stunde verging, dann öffnete sich die Tür der Chresimdecke, und Kotyledo schwebte in die Arbeitskammer.
Die Herren begrüßten sich förmlich.
»Sie werden wissen«, begann Kotyledo, »was mich zu Ihnen führt. Meine Frau – Lyrika – erwartet mich in der Nähe des Tunnels. Ich ersuche Sie, mich zu begleiten und ihr unverzeihliches Betragen von vorgestern vor ihr zu rechtfertigen.«
»Und wenn ich mich weigere?«, fragte Atom.
»Ich hoffe, dass Sie dies nicht tun werden. Ihre Handlungen und Ihre uns wohlbekannten Absichten sind straffällig. Wenn ich dieselben vor das öffentliche Gericht bringe, so werden Sie Ihrer bürgerlichen Stellung verlustig gehen.«
»Das ist möglich«, sagte Atom, indem er eine Hand nachlässig auf den Haupthahn der Leitung legte.
»Dies ist jedoch nicht meine Absicht«, fuhr Kotyledo fort. »Die Folgen jenes Tages sind, allerdings gegen Ihren Willen, für mich so außerordentlich glückliche gewesen, dass ich gern bereit bin, Milde walten zu lassen und Vergessen zu üben. Ich verlange nur, dass Sie sich dazu verstehen, meiner Frau gegenüber eine Versicherung abzugeben, dass Sie Ihre Handlungsweise bedauern und Ihre Verzeihung erbitten.«
»Sie sind allerdings sehr gütig«, entgegnete Atom scharf. »Ich sehe mich aber leider nicht in der Lage, Ihrem Wunsche zu entsprechen. Mein Verfahren war vorgestern noch berechtigt, vollständig berechtigt, nach allem menschlichen Ermessen. Ihre jetzige Frau existierte überhaupt nicht, und Sie werden mir zugeben, dass ein unbekanntes und unsichtbares Objekt als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung von jedem in Anspruch genommen werden kann, der sich dessen zu bemächtigen im Stande ist. Mir ist es leider nicht gelungen; Sie haben mehr Glück gehabt. Aber einen Grund, weshalb ich meine Handlungsweise entschuldigen sollte, kann ich nirgends erkennen.«
»Ich rate Ihnen«, rief Kotyledo zornig, »mäßigen Sie den Ton Ihrer Rede. Sie werden sonst Ihre höhnenden Worte bereuen.«
»Sparen Sie Ihre Erregung, verehrter Herr Kotyledo, ich bereue überhaupt nichts.«
»So werden die Gerichte entscheiden.«
Atom lächelte. »Die Gerichte können entscheiden, aber Kläger und Verklagte werden sich nicht mehr darum kümmern. Sie müssen nämlich wissen, dass ich mit Ihnen eine kleine Vergnügungsreise nach der Sonne anzutreten gedenke. Wenn ich diesen Hahn öffne, so werden die aus dem Erdinnern strömenden und aufgeregten Gase binnen einer Viertelstunde diesen Salon, in welchem wir uns befinden, gegen die Sonne sprengen. Ich werde jetzt den Hahn öffnen.«
»Sie werden es nicht wagen.«
»Ich habe es gewagt.«
Die Gase zischten, die Platinplatten zitterten – es war ein Riesenkampf zwischen Kälte und Hitze, der hier gekämpft wurde und aus welchem die letztere als Siegerin hervorgehen musste.
Kotyledo begriff die volle Gefahr, in der er schwebte. Schon oben war er gewarnt worden, in den Tunnel zu steigen. Was sollte er tun – sich auf Atom stürzen? Die Hähne zudrehen? Es war nicht anzunehmen, dass er Sieger bleiben würde. Flucht, schleunige Flucht war das Einzige, was ihn retten konnte – wenn es nicht schon zu spät war. Diese Überlegung war das Resultat eines Augenblickes. Er flog in die Höhe.
»Nicht so«, rief Atom, »Sie bleiben hier.« Und er sprang auf ihn zu. Aber da er seinen Flugapparat abgelegt hatte, konnte er Kotyledo nicht mehr erreichen, der schon an der Decke schwebte und jetzt den Arbeitsraum verließ, um mit größter Anstrengung seiner Maschine den Tunnelausgang zu gewinnen.
»Noch entgehst du mir nicht«, murmelte Atom. »Zwanzig Minuten brauchst du wenigstens, um die vierzig Meilen des Tunnels zu durchfliegen; sobald die Explosion erfolgt ist, was binnen zwölf Minuten geschehen muss, wird ihn mein Geschoss in zehn Sekunden durcheilen. Ich treffe dich noch!«
Er kreuzte die Arme über der Brust und lehnte sich stumm zurück; sein Puls schlug rascher, und seine Augen funkelten unheimlich; unverwandt beobachtete er das Manometer, das höher und höher stieg.
»Gegen das Weltgesetz!«, sagte er dann leise. »ja, ich bin es jetzt, der ihm Trotz bietet – meine letzte Tat ist getan, es habe seinen Lauf!«
Kotyledo flog mit der größten Geschwindigkeit aufwärts, die seine Schraube gestattete, dennoch musste er sich sagen, dass die Explosion ihn noch im Tunnel erreichen müsse. Da kam ihm ein Gedanke. Er stürzte sich auf die nächsten Hähne der Sauerstoffleitung, die er zu erreichen vermochte, und drehte sie zu. Es waren freilich nur die Hähne der Nebenleitungen, die er abzusperren vermochte; die wichtige Hauptleitung blieb ihm unzugänglich. Aber er konnte sich sagen, dass er Zeit gewonnen habe; der Zufluss war doch vermindert – noch elf Minuten, und er war gerettet. Die Tunnelwände schossen an ihm vorüber, die an den Seiten angebrachten elektrischen Lampen bildeten eine einzige Lichtlinie für seine rasende Bewegung – da leuchtete der erste Strahl des Tageslichtes von oben, und wenige Sekunden später schoss er aus der Öffnung des Tunnels heraus.
Der Luftwagen mit Lyrika hielt in der Nähe; er sprang hinein, und ohne sich Zeit zur Erholung zu gönnen, lenkte er das Gefährt aus der gefährlichen Nähe des Tunnels.
Zwei Minuten darauf ertönte ein betäubender Knall. Es war die von der hinausgeschleuderten Arbeitskammer zusammengepresste Luft, welche sich an der Öffnung des Tunnels ausdehnte und weithin alles niederwarf. Dann folgte eine Feuersäule, die mehrere Meilen hoch in die Lüfte stieg, Wolken von zertrümmertem Gestein mit sich führend. Von der Arbeitskammer konnte man natürlich nichts sehen – sie blieb verschwunden.
Der Zentraltunnel war zu einem Feuer speienden Vulkan geworden, der einen seiner Steine bis in die Nähe des Luftwagens warf, in welchem Lyrika und Kotyledo im Schutze eines Felsenvorsprungs den ersten Stoß abwarteten. Lyrika hob ihn auf, es war ein glänzender Rubin von der Größe einer Kokosnuss. Atoms letzter Gruß – er flog zur Sonne.
Am Abend wandelten die Neuvermählten in den duftenden Gärten von Rampur; der Mond glänzte in den Fluten des Satledsch und auf den Schneegipfeln des Himalaja.