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IX. Die geheimnisvolle Kiste

Kotyledo wartete im Empfangssaal des Ozeanbahnhofs auf Strudel. Seit Jahren brachte der um 5 Uhr 12 Minuten Die Zeitmaße sind zur Bequemlichkeit des Lesers überall auf die uns gewohnten reduziert. eintreffende Zug den Direktor Strudel-Prudel unwandelbar mit sich. Heute geschah eine Ausnahme; der Zug traf wohl ein, aber ohne Strudel. Kotyledo beschloss zu warten und setzte sich an einen der Tische, von welchem aus er die vorüberflutende Schar der Spazierschwimmer beobachten konnte. Es war eine bunte Menge, denn auch die in der äußern Form ziemlich gleichmäßigen Taucheranzüge mit ihren runden Helmen hatte man geschmackvoll zu verzieren gewusst. Namenszüge und Embleme ließen die Besitzer erkennen. Der Wirt des Hotels hielt gezähmte Delphine, und manchen Touristen sah man sich dieses sagenberühmten Wesens als Reittier bedienen und als einen modernen Arion dahinfahren. Wer sich mit seinem Nachbar unterhalten wollte, verband zwei an den Taucherhelmen herabhängende Nebenleitungen, wodurch eine Verbindung hergestellt und ein Verkehr ermöglicht wurde, der durch die Stimme allein bei der verschlossenen Kopfbedeckung nicht ausführbar gewesen wäre.

Zug auf Zug fuhr in den Bahnhof, ohne dass Strudel aus einem derselben stieg. Weder der Zug um 5.17 Uhr noch der um 5.22 Uhr, noch einer der nächstfolgenden brachte ihn. Noch drei Züge wollte Kotyledo abwarten, und seine Ausdauer wurde belohnt. Um 6.07 Uhr traf Strudel ein. Kotyledo hatte ihn bald erblickt und eilte ihm entgegen. Zu einem Erstaunen fand er ihn nicht allein; zwei Arbeiter, mit Stricken, Beilen und Werkzeugen verschiedener Art ausgerüstet, begleiteten ihn.

Strudel begrüßte Kotyledo mit großer Freude.

»Vorzüglich«, rief er ihm durch seinen Schlauch zu, »dass ich Sie hier treffe. Eben war ich in Ihrer Wohnung, ich habe Sie auf der Oberwelt gesucht, wo Sie sich jetzt so hartnäckig versteckt halten. Daher meine Verspätung. Ich habe eine wichtige Arbeit vor, und Sie sollen mich dabei begleiten, mir helfen, wenn Sie wollen.«

»Mit dem größten Vergnügen«, entgegnete Kotyledo. »Ich begleite Sie, wohin Sie wünschen, und wenn ich Ihnen nützen kann, so soll es mich freuen. Übrigens war ich hierher gekommen, um meinerseits Ihre Hilfe, Ihren Rat zu erbitten.«

»Und warum?«

»Das erzähle ich Ihnen unterwegs. Doch was für Apparate haben Sie da mitgebracht? Welche Expedition haben Sie vor?«

»Es gilt«, sagte Strudel, »einen höchst merkwürdigen Fund zu heben, den ich gemacht habe. Zwischen Klippen, halb im Sande vergraben und mit Schaltieren besetzt, habe ich eine altertümliche Kiste auf dem Meeresgrunde gefunden. Sie hatte sich so fest zwischen die Felsen geklemmt, dass es mir allein nicht möglich war, sie sogleich frei zu machen. Deshalb habe ich mich heute mit Hilfe versehen, und Sie wollte ich um Ihre Begleitung bitten, weil ich glaube, dass Sie der Fund interessieren wird. Die Kiste ist wenigstens zweitausend Jahre alt, und ich bin überzeugt, sie wird höchst interessante historische Aufschlüsse gewähren; vielleicht enthält sie Dokumente von Wichtigkeit.«

»Wohlan«, sagte Kotyledo, »ich bin bereit und brenne vor Neugier, die geheimnisvolle Kiste zu öffnen. Aber wissen Sie auch, ob wir ruhige See behalten? Ich habe im Wetteratlas nicht nachgesehen.«

»Auch ich habe es versäumt.«

»Das ist schade. Doch wir wollen uns dadurch nicht stören lassen.«

»Vorwärts denn!«, schloss Strudel.

Sie begaben sich auf den Weg. Kotyledo erzählte seine Schicksale und bat Strudel um seinen Rat. Dieser, der natürlich von der Existenz des Diaphots keine Ahnung hatte, war geneigt, an Sinnestäuschungen zu glauben, und schlug Kotyledo vor, einen Arzt zu Rate zu ziehen. Vorher aber wollte er selbst einmal Kotyledos Wohnung aufsuchen, um womöglich einer Erscheinung Lyrikas beizuwohnen.

Nach Verlauf von zwei Stunden waren die Forscher an der Stelle angelangt, wo die Kiste lag. Sogleich machten sich die Arbeiter unter Strudels und Kotyledos Leitung daran, den Schatz zu heben und die Kiste von den sie fest haltenden Hindernissen zu befreien. Das ging nicht so leicht; ein Teil des Felsens musste mit der Hacke abgesprengt werden, dann erst gelang es, die Kiste aus dem Schlamm und Sand, welcher die Zwischenräume füllte, unverletzt hervorzuziehen. Es war noch ein Glück, dass die Kiste auf diesen aus dem Schlamme hervorragenden Fels geraten war, sonst hätte man sie nie wieder gefunden. Die Kiste war zwei Meter lang; über einen halben Meter breit und ziemlich ebenso hoch. Strudel brannte vor Ungeduld, sie zu öffnen, aber unter dem Wasser ging es nicht an.

»Wir müssen den Fund nach der Küste schaffen«, meinte Kotyledo. »Aber wo finden wir das nächste Land?«

»Im Norden«, erwiderte Strudel. »Ich habe das schon vorgesehen und mich genau orientiert. In zwei Stunden können wir auf einer der Azoren sein.«

Der Marsch wurde angetreten und so sehr wie möglich beschleunigt. Strudel und Kotyledo selbst nahmen die Kiste zwischen sich, die freilich im Wasser kein großes Gewicht besaß. Der Meeresboden hob sich allmählich und zeigte die Nähe einer Insel an. Die Arbeiten zur Freilegung der Kiste und der Marsch hatten gut weitere drei Stunden fortgenommen. Es war völlig Nacht geworden, als sie der Oberfläche des Meeres sich näherten. Aber die Szene hatte sich geändert. Mehr und mehr kamen sie in eine vom Sturm aufgeregte See und mussten sich am Boden des aufsteigenden Ufers halten, um nicht willenlos hin und her geworfen zu werden. Die Kiste wurde noch mit Stricken an Handhaben befestigt und von den vier Männern mit Mühe getragen.

Jetzt war Kotyledo an die Oberfläche emporgedrungen und hatte sich durch die Brandung hindurchgearbeitet. Er befestigte das Seil, welches er hielt, an einer geeigneten Stelle oberhalb des Wassers; Strudel und die Arbeiter kletterten daran zu ihm empor; es galt jetzt, die Kiste nachzuziehen, was trotz ihrer vereinigten Anstrengungen längere Zeit hindurch nicht gelingen wollte. Endlich kam sie zum Vorschein. In diesem Augenblicke wurde, durch das Brausen der Wogen und das Heulen des Sturmes fast erstickt, ein kurzer Knall vernommen, und als die Männer den Strahl ihrer elektrischen Lampen auf die im Dunkel wogende See hinauswerfen, bemerkten sie einen weißen Gegenstand aus der Luft in das Meer fallen. Es mochte ein Mensch sein, der in der Luft vom Sturm überrascht worden war und jetzt in einer Entfernung von vielleicht fünfhundert Schritt mit den Wogen kämpfte oder vielmehr willenlos von ihnen hin und her geschleudert wurde. Rettung zu bringen schien unmöglich – auch wurde der Unglückliche von Wind und Wogen vom Lande abgetrieben.

Kotyledo zögerte nicht zu handeln. Er ließ sich in seinem Taucheranzuge an das längste der mitgebrachten Seile binden und nahm ein zweites mit sich. Die entschlossenen Männer, welche Strudel begleitet hatten, warfen ihre Taucheranzüge ab und legten die immer mitgeführten Flugmaschinen an. Dann fassten sie das Seil, an welchem Kotyledo hing, und indem sie es fest hielten, vertrauten sie sich der Gewalt des Sturmes an. Strudel blieb im Schutze der Kiste zurück und hielt sich bereit, den etwa Zurückkehrenden hilfreich beizuspringen. Der Sturm erfasste sofort die Fliegenden und warf sie aufs Meer hinaus, Kotyledo wurde in den Wogen fortgezogen. Jetzt aber setzten die Arbeiter ihre Luftschrauben in Bewegung und regelten ihren Lauf durch die Luft. Das Unternehmen war schwierig, aber es gelang ihnen, in die Nähe des Versunkenen zu kommen. Weithin leuchtete Strudel mit seinen elektrischen Strahlen über das Meer, die Fliegenden hielten sich über der Stelle, wo das weiße Tuch schimmerte, und Kotyledo bemühte sich, dasselbe zu erfassen. Endlich glückte es ihm – fest eingehüllt in das Tuch fühlte er einen menschlichen Körper, ob lebend oder tot, konnte er nicht entscheiden. Die Fliegenden wandten jetzt ihre Schrauben und arbeiteten dem Sturm entgegen, Kotyledo und den Geretteten mit sich fortziehend.

Zum Glück hielten ihre Luftschrauben aus, und ihren vereinigten Kräften gelang es, die Gewalt des Sturmes zu besiegen. Wieder erreichten sie das Land, wo Strudel Wache hielt, und nun war es den drei Männern möglich, Kotyledo und seine Last durch die Brandung ans Ufer zu ziehen. Sogleich wurde die Kiste auch vollends heraufgeschafft, und alle waren geborgen. Kotyledo warf seinen Taucheranzug ab. Er hob einen Zipfel des Tuches auf und beleuchtete mit seiner Lampe das Gesicht des Ertrunkenen. Es war Lyrika –

Die Insel Terceira war dicht bewohnt. Nicht weit vom Strande befand sich ein großes Hotel, in welchem die Reisenden mit ihren Gütern Aufnahme und für sich ausreichende Verpflegung fanden. Ein tüchtiger Arzt war sogleich zur Stelle, und an Lyrika wurden alle Wiederbelebungsversuche, welche die moderne Heilkunde bot, angestellt. Nach langer Bemühung schlugen sie an; die Verunglückte atmete wieder und lag bald wohlgebettet in tiefem Schlafe. Der Arzt beruhigte Kotyledo.

»Nach zwei Stunden«, sagte er, »habe ich die Dame völlig wiederhergestellt. Sie ist nur noch sehr ermüdet – scheint einen weiten Flug gemacht zu haben.«

In diesem Augenblick stürzte Strudel in den Salon, in welchem sich die beiden Herren befanden.

»Herr Arzt«, rief er, »ich brauche Ihre Hilfe noch weiter! Bitte, begleiten Sie mich – und Sie, Kotyledo!«

Der kleine Herr zitterte vor Aufregung. In der rechten Hand hielt er ein Päckchen Papiere, mit dem er in der Luft herumfuchtelte. So schleppte er seine Begleiter in sein Zimmer. Die Kiste stand auf dem Boden des Zimmers, der Deckel war offenbar erst mit Widerstreben gewichen; jetzt zeigte sich, dass die Kiste von Kupfer war. Aber in derselben stand eine zweite, eiserne Kiste; außerdem hatte sich eine Blechbüchse darin befunden, welche Strudel zuerst geöffnet hatte und deren Inhalt er jetzt in der Hand hielt und den Herren unter die Augen breitete.

Es waren drei Schriftstücke in deutscher Sprache, in den altertümlichen Schriftzügen vom Ende des zweiten Jahrtausends. Das Erste enthielt die amtliche Versicherung, dass dem Fleischermeister Friedrich Schulze zu Berlin von seiner Ehefrau Friederike, geborne Müller, am 20. April 1821 ein Sohn geboren worden sei und derselbe nach Ausweis des Kirchenbuches in der heiligen Taufe die Namen Friedrich Wilhelm erhalten habe. Es war also ein Taufschein von Friedrich Wilhelm Schulze zu Berlin.

Das zweite Dokument lautete folgendermaßen.

An Bord der Nirwana,
den 30. Juli 1876

Zur Aufklärung aller Missverständnisse, welche etwa daraus hervorgehen könnten, dass durch die Wirren späterer Zeit mein gegenwärtiger Entschluss vergessen werde, soll man folgende Erklärung meinem mumifizierten Körper beigeben:

Ich, Friedrich Wilhelm Schulze, wohnhaft Potsdamer Straße ... (Ziffern verwischt) in Berlin, Witwer, Rentier und Hausbesitzer, Sohn des verstorbenen Fleischermeisters Friedrich Schulze, unbestraft, im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte und eines Vermögens von 280 000 Mark 4 Pf., befand mich zum Besuche der Zentennial-Ausstellung in Philadelphia, woselbst ich Herrn Doktor Carl Müller kennen lernte, welcher im Begriff war, seine Entdeckung über die Mumifizierung und Wiederbelebung organischer Körper zu veröffentlichen. Derselbe teilte mir als schon längst bekannt mit, dass es Organismen gebe, welche, Jahre lang eingetrocknet, doch wieder zum Leben gebracht werden könnten. Er hat nun seine Versuche auf höhere Organismen ausgedehnt und es fertig gebracht, eine vollständige Erhaltung derselben zu ermöglichen. Es wird das Blut ausgepumpt, sofort eine von ihm erfundene und mir nicht näher bekannte antiseptische Lösung eingespritzt, welche die feinsten Adern und Kapillargefäße durchdringt, und die Haut selbst mit der Lösung getränkt. Der so präparierte Tierkörper hält sich beliebig lange Zeit und kann durch ein im Anhang näher beschriebenes Verfahren jederzeit wieder zum Leben erweckt werden, sodass der Lebensprozess gerade so fortgesetzt wird, als wäre er gar nicht unterbrochen gewesen. Nachdem ich mich an Kaninchen, Hunden und einem Pferde von der Zuverlässigkeit der Methode des Herrn Doktor Müller überzeugt hatte, bat ich denselben aus eigenem Antriebe, den Versuch an mir selbst zu machen. Endlich hat Herr Doktor Müller nachgegeben, er begleitete mich nach Europa und wird die Mumifizierung während der Überfahrt an Bord der »Nirwana« vornehmen. Man wird mich alsdann in einem eigens dazu konstruierten eisernen Kasten verwahren, welcher in Berlin noch von einem goldenen umgeben werden soll. Dies soll geschehen, damit ich bei meinem Wiedererwachen nicht ohne Subsistenzmittel bin, und zwar soll dazu die Summe von 130 000 Mark verwendet werden. Den Rest meines Vermögens habe ich bereits, um alle juristischen Bedenken zu vermeiden, von Philadelphia aus meinen beiden Kindern Wilhelm Carl und Wilhelm August Schulze geschenkt.

Ich erkläre nochmals, dass ich auf mein Verlangen und ohne fremde Beeinflussung einbalsamiert wurde, und bestimme, dass genau zweihundert Jahre nach meiner Mumifizierung, am 1. August 2076, ich durch die derzeitigen medizinischen Autoritäten wieder lebendig gemacht werde. Bis dahin soll ich in meiner Familie sorgfältig aufbewahrt werden.

Da es für mich gleichgültig ist, ob ich meine zehn bis zwanzig Jahre jetzt oder später noch ablebe, so ziehe ich's vor, lieber im einundzwanzigsten Jahrhundert zu existieren, wo alsdann die Mietspreise vielleicht wieder mehr gestiegen sind.

Friedrich Wilhelm Schulze
Hausbesitzer und Rentier

Hieran schloss sich eine Anweisung, wie durch Transfusion von lebendem Blut, künstliche Atmung, elektrische Behandlung usw. der stillstehende Organismus wieder in Bewegung versetzt werden könnte.

Das dritte Aktenstück lautete:

An Bord der Nirwana,
8. August 1876

Nachdem ich Herrn Friedrich Wilhelm Schulze nach allen Regeln der Kunst auf sein Verlangen mumifiziert und in den eisernen Kasten gelegt habe, sehe ich mich genötigt, ihn, ohne mein Versprechen zu erfüllen und ihn nach Berlin bringen zu können, dem Meere und einem unbestimmten Schicksal zu übergeben. Unser Schiff brennt in Folge einer Explosion. Wir sind gezwungen, dasselbe zu verlassen; Schulze mitzutransportieren ist trotz meines Verlangens als ganz unmöglich vom Kapitän zurückgewiesen worden. Ich schließe daher die Kiste noch einmal in eine Umhüllung von Kupferblech – noch habe ich eine Stunde Zeit – und übergebe sie dem Meere. Eine leere Tonne soll sie schwimmend erhalten – vielleicht findet der Verlassene einst Erlösung. Auch wir ergeben uns unserm ungewissen Schicksal.

Dr. Müller, praktischer Arzt

Kotyledo und der Arzt schüttelten staunend den Kopf. Dann riefen sie wie mit einem Munde: »Wo ist Schulze?«

Strudel hatte schon über der eisernen Kiste gearbeitet. Mit großer Mühe, aber auch mit großer Sorgfalt wurde jetzt der Deckel abgehoben. In Baumwolle vorsichtig verpackt, kam der Körper eines ältlichen Mannes in der Tracht des neunzehnten Jahrhunderts zum Vorschein. Völlig frisch, als wäre er eben entschlummert, sah dieser Mann aus, der zweitausend Jahre auf dem Grunde des Meeres gelegen hatte. Der Arzt beugte sich über ihn und betrachtete ihn sorgfältig.

»Bis ins kleinste Detail erhalten«, sagte er bewundernd. »Die Alten waren doch nicht so dumm, wie wir uns gern glauben machen möchten. Jede Zelle, jedes kleinste Gefäß, jeder Nerv ist genauso, wie er zu Lebzeiten dieses Mannes war – die stoffliche Zusammensetzung ist unverändert, nur die organische Bewegung fehlt. Es ist eine Uhr, die vor zweitausend Jahren stehen geblieben ist. Dieser Biedermann wollte sie schon nach zweihundert Jahren wieder aufziehen lassen – er hat den Termin verschlafen. Nun, wir wollen es heute versuchen; ich hoffe, es wird gelingen, die Uhr wird wieder gehen.«

Inzwischen war es Morgen geworden. Aber Strudel ließ dem Arzt keine Ruhe, er sollte gleich die Wiederbelebung versuchen. Der Arzt erklärte sich bereit, er holte die nötigen Apparate. Die Anweisung des Doktor Müller brauchte er nicht erst nachzulesen, er wusste, was er zu tun hatte. Strudel bereitete alles nach seinen Anordnungen vor. Während dieser Vorbereitungen entschlummerte der erschöpfte Kotyledo im Lehnstuhl.

Nach zwei Stunden erwachte er wieder vom Lärm einer Stimme, die mit Ungeduld wiederholt das Wort »Kaffee!« rief. Er schlug die Augen auf und sah den wieder zum Leben gebrachten Herrn Schulze im Zimmer stehen und nach Kaffee verlangen, während Strudel und der Arzt ihn zu beruhigen suchten, aber offenbar nicht wussten, was er wolle.

Kotyledo sprang auf. »Kaffee!« Er lachte. »Ja, mein Herr, den werden wir wohl nicht gut schaffen können; Kaffeebohnen finden Sie nur noch in meinem Botanischen Garten.«

Er erklärte Strudel und dem Arzt, dass der Fremde ein Getränk verlange, das man früher nach dem Erwachen zu trinken pflegte. Da wusste der Arzt bald Abhilfe; er braute aus seinen Medikamenten eine Essenz zusammen, und Schulze gab sich zufrieden, da ihm gesagt wurde, der Kaffee sei jetzt nicht anders zu haben. Strudel stellte Kotyledo als denjenigen vor, dem die Rettung der Kiste zum großen Teile zu verdanken sei. Schulze ließ sich nicht abhalten, seinem Retter wiederholt die Hand zu schütteln, der nicht wenig über diese Zeremonie, deren freundschaftliche Bedeutung er nicht kannte, verwundert war. Übrigens konnte Kotyledo seinerseits nicht ahnen, welchen Glückswechsel er Schulzes Auferstehung zu danken habe; er wusste nicht, dass nun alle seine Not geendet sei; sonst hätte er wohl Schulzes Liebenswürdigkeit auf seine Art erwidert. Dieser verzehrte indes mit großem Appetit ein Gericht, das er für eine Trüffelpastete hielt. Hätte er freilich gewusst, dass die Ingredienzien dieser Pastete noch vor wenigen Tagen in einem Kalkbruche Zentralafrikas und einem Salpeterlager Südamerikas geruht, so hätte sie ihm bei seinen antediluvianischen Ansichten vielleicht minder gemundet.

Am vergnügtesten von allen schien Strudel; er freute sich wie ein Kind und hätte am liebsten den verwunderten Schulze, mit dessen Auffindung ihm ein Lieblingswunsch erfüllt war, unter eine Glasglocke gesetzt wie einen Frosch ins Aquarium. Eine Stunde später befanden sich vier Personen in einem bequemen und geräumigen Luftwagen, der mit großer Geschwindigkeit Lyrikas Wohnung zuflog. Es waren Lyrika, Kotyledo, Strudel und Wilhelm Schulze.

Schulze konnte sich nicht genug wundern über alles, was er sah – aber er hatte auch allerlei auszusetzen. Namentlich schien ihm das Luftschiff gar nicht recht geheuer, und er hätte eine Berliner Droschke sogar vorgezogen.

Zunächst erzählte Lyrika ihre Abenteuer. Kotyledo wurde zornig. »Dieser Atom!«, rief er. »Ist er es nicht, der sich über jedes Gesetz hinwegsetzt, der das Geschick zu bezwingen hofft? Aber er soll mir und dir Genugtuung geben!«

Glücklich war er, dass Lyrika lebte, dass ihre gespenstische Erscheinung wieder schöne Wirklichkeit geworden war; ja, er vergaß in der Freude des Wiederfindens ganz das dunkle Verhängnis, das über ihm und ihr waltete, und gab sich allein dem Glücke hin, bei der Geliebten zu sein.

»Was Sie da alles erzählen«, sagte Schulze, »davon glaube ich kein Wort; am allerwenigsten glaube ich die Geschichte von dem unsichtbaren Spiritus, oder wie Sie das nennen. So einen unsichtbaren Menschen müsste ich erst sehen, ehe ich daran glaubte. So etwas gibt es gar nicht.«

»Hier haben Sie mein Taschentuch«, sagte Lyrika lachend, indem sie ihre Hand hinhielt.

Schulze griff danach und fühlte wirklich ein ordentliches vollwiegendes Taschentuch. Er breitete es auf seine Hand, hielt es vor die Augen – vergebens, zu sehen war nichts –, aber das Gefühl musste ihn überzeugen, es war wirklich ein Taschentuch.

»Na«, sagte er, »das ist ja wohl so; aber für einen gewöhnlichen Menschen ist das wohl nicht zu brauchen, wenn er den Schnupfen hat.«

»Nu glaube ich alles«, murmelte er einige Zeit darauf und saß dann stumm und nachdenklich da; allmählich wagte er auch, auf die Erde hinabzublicken, wo jetzt Frankreichs Städte, Flüsse und Berge unter ihm dahinglitten.

Jetzt aber, als Kotyledo Schulzes Geschichte erzählt hatte, kam die Reihe des Erstaunens an Lyrika. Immer und immer ließ sie sich die Einzelheiten wiederholen und befragte die Dokumente, die ihr Strudel reichen musste, bis sie plötzlich mit einem Ausruf des Entzückens Kotyledo um den Hals fiel.

»Kotyledo«, rief sie, »mein Geliebter, wir sind gerettet, ich werde die Deine!«

»Lyrika, was sagst du?«

»Ja, Kotyledo! Funktionatas Rechnung ist wertlos, sie hat keine Geltung, denn ihre Annahmen sind falsch. Sie hat vorausgesetzt, dass unser gemeinschaftlicher Ahnherr gestorben ist. Er lebt aber noch, denn es ist kein anderer als der Rentier und Hausbesitzer Friedrich Wilhelm Schulze aus Berlin, den wir hier gesund und munter vor uns sitzen sehen.«

Und sie fiel dem alten Herrn um den Hals, küsste ihn und nannte ihn »lieber Großpapa«, und er ließ sich alles wohlgemut gefallen. Sie waren bei Lyrikas Wohnung angekommen.

»Morgen feiern wir unsere Vermählung«, sagte Kotyledo wieder. Diesmal hörte es Lyrika ohne Bangen vor der Zukunft.

»Und fürchtest du dich nicht vor Atom?« fragte Kotyledo sie.

»Oh«, erwiderte sie, »jetzt bin ich ja wieder sichtbar, da wird er es nicht wagen, mir nahe zu kommen. Auch verlasse ich mein Haus nicht mehr, außer...«

»Außer mit mir – um bei mir zu bleiben«, schloss Kotyledo.


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