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Ein Liebespaar.

Die Sonne neigte sich zum Untergehen an einem rauhen Herbsttage, der Wind blies kalt über die Stoppeln, die Residenz lag in wenig lockender Ansicht vor einem Reisenden, der im zurückgeschlagenen Wagen saß. Es konnte höchstens fünfzehn Jahre her sein, daß der Wagen Mode gewesen war, auch die Pferde waren nicht älter: wer einige Uebung besaß, erkannte leicht die Equipage eines Landedelmanns, der in den ersten Jahren seiner Ehe sich der jungen Frau halber um die Mode gekümmert hatte.

Der im Wagen sitzende junge Mann war das einzige Kind dieser Ehe; die Mutter war gestorben; Dietrich kam vom kleinen Landgute seines Vaters, mit welchem er still und einsam, nur von den Ernteleuten berührt, den Sommer zugebracht hatte.

Ein ganzer Sommer, in der Stille des Landlebens verbracht, schafft ein Herz wieder jung, weich und empfänglich; das Leichtsinnige der Stadtgewohnheiten flieht schüchtern nach und nach mit all seinen oberflächlichen Eindrücken. Wir lesen wieder Dichter, die uns bereits langweilig geworden waren, und finden es nicht mehr thöricht, wenn die kleinen Aenderungen im einfachen Gemüthe beschrieben werden.

Dietrich war von Universitäten und Reisen als ein verwöhntes Weltkind nach Hause gekommen, hatte viel Bedürfnisse mitgebracht, viel unklare und ebenso unbeschränkte Wünsche. Wenn ihn der Vater fragte: Was wünschest Du Dir für eine Existenz, Dietrich? beschreib sie mir – dann hatte ihm der Sohn immer nichts Befriedigendes erwiedert; jedes abgeschlossene Verhältniß der Zukunft, es mochte noch so reich und glänzend sein, erschien ihm eine Beeinträchtigung seiner Hoffnungen.

Hierin liegt ein Reiz und Unglückskeim für die moderne Jugend.

Dietrich war ein guter Mensch mit mäßigen Anlagen und vieler Fähigkeit, lebhafte Empfindungen aufzunehmen. Sein Herz war keusch, er hatte Passionen und Liaisons gehabt mit Modedamen, aber er hatte nicht geliebt. Wäre er nicht zu wacker gewesen, um an einen großartigen, durchgehenden Welttrug denken zu können, er hätte die überschwenglichen Beschreibungen des Gefühls der Liebe für eine hergebrachte Convenienz ohne innere Wahrheit halten mögen. Sein Vater und sein Herz nur erinnerten ihn zuweilen an die wahrscheinliche Existenz eines Zustandes, den er nicht kenne: sein Herz schwoll in Sehnsucht auf bei stillen Sommerabenden, wenn er durch den Wald schritt, wenn die Vögel schwach und einzeln dem Tage ihren Abschied sangen, wenn die Luft flüsternd um sein Haupt spielte. Er blieb dann wohl stehen, als umschwebe ihn ein wunderbar süßes Geheimniß; im schönen blauen Zimmer zu Hause hing ein großes Bild seiner Mutter, zuweilen sah er den Vater lange davor stehen, einzelne Thränen rollten über die braunen Wangen des festen, bejahrten Mannes, und er drückte dem Sohne heftig die Hand und verließ das Zimmer.

Solche Scenen nährten den verdeckten Gedanken des Herzens, es müsse noch eine Welt geben, die ihm nicht nahe getreten sei.

Ob sie wohl hinter den hohen Häusern liegen wird? dachte er jetzt eben, als er sich der Stadt näherte. Er wollte den Winter dort zubringen, mit dem Frühjahre nach England reisen.

*

Dietrich bewegte sich in den geselligen Kreisen wie eben jeder Andere; er war ein hoch und tüchtig gewachsener Mann mit genügend leichten Bewegungen, er tanzte gut, sprach nicht übel, sang ein wenig, kurz er wurde ganz gern gesehn, ohne sich weiter auszuzeichnen, die Regelmäßigkeit, das Herkommen der Tage trug ihn; manchmal hoffte er auf Frühling.

Eines Abends war er zum ersten Male in ein vornehmes Haus gebeten. Es bestand keine einzelne Beziehung zwischen ihm und dem Wirthe, nichts als eine gewöhnliche Ausfüllung des Abends hoffend, ging er hin. Er ward der Tochter des Hauses vorgestellt und tanzte mit ihr. Gewöhnlich ist solch eine erste Unterhaltung, wie sich etwa zwei Bücher mit einander unterhalten würden, wenn sie Mittheilungs- und Auffassungsorgane erhielten, um sich gegenseitig hören und sehen zu können. Es fehlt an unterscheidenden Beziehungen; Dietrich kam sich sehr steril vor, Fräulein Anna schien ihm auch etwas zerstreut, voll allgemeinen Antheils einer Wirthin, die sich überall umsieht und für Höflichkeiten Sorge hat.

Zwischen jungen Leuten bringt jene allgemeine, jene Begriffshöflichkeit selten nahe.

Ein Bekannter fragte Dietrich nach dem Tanze, wie ihm das Fräulein gefallen habe?

O, gut, erwiederte er, ohne etwas mehr sagen zu wollen, als gewöhnliche Redensart.

Der Zufall führte ihn noch oft in die Nähe der Dame bei den folgenden Tänzen; er betrachtete sie lange, wie ja dies oft zufällig geschieht, ohne daß man sich eines besondern Gedankens dabei bewußt wäre, er fragte sie, ob sie vielleicht noch einen Tanz für ihn frei habe, und er erhielt die Zusage. Das gab doch einen Bezug, und das Gespräch erhielt ein wenig Färbung, besonders, da ihn die Dame nach seinen Reisen fragte, und sich von Italien erzählen ließ. Sie war vom vielen Tanzen ermüdet, und das ist immer ein Vortheil für den Herrn, der nicht blos tanzen will.

Er wollte nicht das völlige Ende der Gesellschaft abwarten und verließ bald nach Mitternacht den Tanzsaal; Anna stand nicht weit von der Thür, und es schien ihm einen Augenblick, als bemerkte sie sein Fortgehen, und als blicke sie nicht ganz zufrieden dazu. Sie ist eine gute Wirthin, fiel ihm ein, aber er war dennoch einen Augenblick Willens, wieder umzukehren, wenigstens noch einmal hineinblicken in den Saal wollte er, ohne selbst zu wissen, was ihn interessire.

Wünsche und Interessen, wenn sie sich zu bilden beginnen, geberden sich immer wie die kleinen Kinder; es könnte etwas passirt sein im Saale, meinte Dietrich, obwohl er wußte, daß in einem Tanzsaale nie etwas passire, wenigstens nichts Aeußerliches, was einen neugierigen Zuschauer befriedigen könnte.

Anna war noch an derselben Stelle, eine schlanke, jugendlich erfüllte Figur. Sie trug ein einfaches weißes Kleid, das von einem einfachen weißen Gürtel umschlossen wurde. Solche Gleichfarbigkeit des Gürtels hebt den Wuchs ungemein, denn jede abstechende Farbe nöthigt das Auge zur Unterbrechung des Anblicks. Blendende Schultern, blendender Nacken, schlanker Hals, glatt gescheiteltes Haupt, es war eine lockende Ballfigur, wenn man noch den kleinen Fuß mit dem weißen Atlasschuh spielen sah.

Das Gesicht war nicht so formell schön, wie der Körper, aber es lag ein lieblicher Ausdruck darin – sie blickte sich eben im Saale um, und es streifte Dietrich ihr suchender Blick – ja, welch ein reiches Vokabelbuch hat die Phantasie für Blicke! »Es ist recht, daß du noch nicht fortgegangen bist«, glaubte er lesen zu können, und über seine Eitelkeit lächelnd, ging er. Aber schon in der Garderobe, als ihm der Bediente den Mantel umhing, war er unschlüssig, ober er nicht lieber noch ein halbes Stündchen bleiben solle.

Es war kalte, trockne Nacht draußen, fest in den Mantel gehüllt, schlenderte er durch die Straßen. Es giebt keinen schönern Dämmer im innersten Menschen, als wenn ein Mädchen mit halber Lockung an die Thür unseres Herzens tritt: Alles ist noch so fern, Absicht, Gefühl, Verhältniß, daß die Phantasie ihre buntesten Farben aufziehen kann. Wie oft war es Dietrich begegnet, daß er mit irgend einem Mädchenauge beschäftigt aus der Gesellschaft heim ging, aber es wollte ihm doch bedünken, als pulsire heut größere Wärme in ihm.

Indessen schien es nichts Bedeutendes zu sein; ein Lebefreund, wackrer, offner junger Mann, der von demselben Balle kam, holte ihn ein, Dietrich nahm erfreut die Gesellschaft auf. Freilich, es ist noch nicht so ausgemacht, ob nicht die ersten Anfänge der Neigung gern von ihrem Gegenstand sprechen und sprechen hören; sie sind noch nicht entdeckt, haben noch kein Aufziehn zu fürchten, und ein gewisses Vorgefühl mag ihnen rathen, diese erste und einzige Zeit der Neutralität zu unparteiischen Mittheilungen zu benutzen. In so fern unterscheiden sie sich vielleicht von der schamhaften Verschlossenheit aufgeblühter junger Liebe.

Das Gespräch kam auf Anna, das Gespräch ist meisthin der Stunden- und Minutenweiser unsers Herzens: sie ist eine schöne Ballfigur, sagte der Freund, aber das Gesicht ist nicht schön zu nennen, hat am Tage wenig Farbe und erscheint immer ein wenig todt – da ist die kleine Bergen, die ihr im Contretanz gegenüberstand, ein ander Mädchen, voll Leben, Feuer und Glanz. – Nun gute Nacht, Dietrich!

Gute Nacht!

*

Die nächsten Tage brachten Dietrich vielfältige Zerstreuung, das Bild jenes Abends ward immer tiefer in den Hintergrund gedrängt. Dazu kam ein wunderlicher Brief des Vaters, welcher ihn gegen Gewohnheit auf ein Mädchen aufmerksam machte; es war nicht klar ausgesprochen, der Charakter des Vaters war auch ganz so beschaffen, daß es niemals mehr als Wunsch sein konnte, aber es war nicht zu verkennen, daß dem alten würdigen Einsiedler keine größere Freude aufblühen würde, als wenn Dietrich in die nächsten Verhältnisse zu diesem Mädchen treten könnte. Sie war aus der Familie von Dietrichs Mutter, und sollte mannigfache Aehnlichkeit mit dieser haben.

Pietätsverpflichtungen sind gewaltiger als alle Befehle und Verbote. Diese eingeleiteten Beziehungen waren Dietrich sehr unangenehm, ja sie waren peinlich für den Sohn, aber er liebte seinen Vater von ganzem Herzen, und war bereit, sich ihnen zu unterwerfen.

Fräulein von Bergen hieß die Dame, welche sein Vater protegirte. Dietrich vermuthete, daß es dieselbe sein werde, welche neulich beim Heimgange vom Balle sein Freund Julius so ausgezeichnet hatte. Es war den Abend große Gesellschaft beim Minister, Dietrich sollte sie dort finden, sollte ihr vorgestellt werden.

Wie ist es nur möglich, dachte er beim Hingehen, daß sie mir noch nicht aufgefallen ist? sie soll schön und liebenswürdig sein.

Das war sie wirklich. Der Thee wurde noch herumgegeben, als Dietrich eintrat; die Gesellschaft stand in großen Partien zusammen, und füllte eine lange Reihe von Zimmern. Er durchstrich sie langsam, nachdem er der Frau vom Hause und dem Gastgeber sein Compliment gemacht hatte; flüchtig, zerstreut begrüßte er hie und da seine Bekanntschaften, sein Antlitz war sorgendüster, und die hohe Gestalt mit dem ernsten Ausdrucke paßte nicht recht zu den schwatzhaften Gruppen, an denen sie vorüberstrich. So kam er bis in's letzte Zimmer. Anna lehnte in einer Fensterbrüstung, einige Damen neben ihr führten das Gespräch, sie selbst schwieg und sah auf Dietrich, der ein großes Bild betrachtete, das an der Wand hing. Ihre Nachbarin fragte umsonst, Anna war in den Anblick des jungen Mannes verloren, er selbst gewahrte sie nicht; ein alter Herr näherte sich ihm und stellte ihn einer jungen, schönen Dame vor, die am Sofa stand und lebhaft mit Julius sprach. Es war das Fräulein von Bergen.

Dietrich mußte sich gestehen, daß sie wirklich sehr schön sei, da sie ihn nun sehr freundlich aufnahm, und da durch die Gegenwart des gemeinschaftlichen bekannten Julius das Gespräch schneller, als sonst bei erster Bekanntschaft, Beziehungen und Interessen erhielt, so ward Dietrich bald von seinen Gedanken abgewendet, und die liebenswürdige Gewandtheit, die herzliche Artigkeit der Dame brachten ihm die angenehmsten Eindrücke. Als sie aus der Ferne durch die Musik erfuhren, daß der Ball eröffnet sei, bat er sie um den ersten Tanz, und verließ mit ihr das Zimmer, ohne Anna gesehen zu haben.

Diese stand noch auf derselben Stelle, die Farbe ihres Antlitzes war lebhafter als gewöhnlich; als ihr Tänzer erschien, war es, als ob sie sich von einer Gedankenreihe losmache, die wichtiger wäre als der nächste Tanz.

Es war bereits länger als eine Stunde getanzt worden, Dietrich war nicht sehr aus der Nähe des Fräuleins von Bergen gewichen; man tanzte eben nicht und er stand wieder bei ihr, das munterste Gespräch flatterte scherzend zwischen ihnen hin und her – da erblickte er beim schnellen Umwenden Anna dicht in seiner Nähe, ihr Blick traf den seinigen, es war ein eigner Blick; – die Bergen ward eben engagirt, er ging zu Fräulein Anna, sie zu begrüßen. Freilich, Julius hatte Recht; es war kein Vergleich mit dem sprudelnden Leben jener; Anna empfing den Herankommenden mit einer wunderbar kühlen Atmosphäre, das Brausen der Worte und Gedanken ward niedergehalten in ihrer Nähe. Und dennoch fühlte man sich in ihrer Nähe zu Gedanken angeregt, die Kühle hatte nichts Kältendes, sondern erfrischte, Maaß und Behagen breitete sich über die Stimmung.

Sie pausirte den Tanz, Dietrich stand neben ihr an einer Säule, und es entwickelte sich ein Gespräch, das aus kleinen, wunderbar interessanten Bemerkungen von ihrer Seite zusammengewoben war, und den Theilnehmer zu eifriger Beschäftigung anregte.

Worin lag der Zauber von Anna's Augen, welche ihm so überaus wohl thaten? Sie waren allerdings schön und groß, aber die Farbe unbedeutend, wie man sie oft findet bei braunblondem Haare. Eine beglückende Ruhe lag darin, eine wohlthuende Stille und Klarheit, und in tiefster Tiefe mochte man ein reiches, wohlgeordnetes Leben entdecken. Der Vergleich mit einem klaren, tiefen See lag so nahe, daß er auch Dietrich beschäftigte.

Anna war zurückhaltend, ohne scheu zu sein, ernst ohne steif zu erscheinen; ihr seltnes Lächeln war ihm deßhalb von außerordentlichem Reize, das ganze Wesen des Mädchens fesselte ihn mit den feinsten Organen, er wäre nicht von ihr gewichen, wenn sie nicht den nächsten Tanz angenommen hätte.

Er zog sich nun in eine Ecke des Saales zurück, und verfolgte sie mit den Augen: wie graziös, wie schön waren all ihre Bewegungen! der hohe, stattliche Mädchenleib spielte so leicht und doch so gemessen auf dem glatten Parquet umher. Heute trug sie ein rosenrothes Gewand, nirgends war ein störender Zierrath angebracht, nur ein einfaches Halsband von großen, weißen Perlen umschloß den Hals. Zuweilen fand ihn das stille, schöne Auge in seinem Winkel auf, verweilte einen Moment, ging wieder, kam wieder – wer beschreibt die feenartigen dünnen Fäden dieses Reizes, welche ein entstehendes Begegnen mit sich bringt! Des Menschen Seele wird weit, alles Edle, was seiner Empfindung, seinem Gedanken jemals nahe getreten ist, wacht wieder auf mit großen Augen, man wird durchwallt von der Bereitwilligkeit; die größten Opfer zu bringen, und erwartet dies Alles in noch größerer Art bei dem Wesen, das unsere Freude und Sehnsucht so mächtig geweckt hat.

Man tanzte Kotillon; das Fräulein von Bergen holte Dietrich in den Kreis, Anna schien mehrmals auf dem Wege zu ihm, war es Scheu, zu Viel auszudrücken, war es Gleichgültigkeit, sie wählte ihre Kandidaten immer, ehe sie bis in seine Nähe kam.

Nach dem Kotillon verließ sie den Saal, der nun auch für Dietrich eine Wüste mit Menschen war.

Sein Heimweg führte ihn an dem Pallaste vorüber, der Anna's Eltern gehörte, ein mattes Licht schimmerte im Seitenflügel – ob Anna dort wohnte?

Es war eine klare Mondnacht, und Dietrich stand lange im Häuserschatten; weiche, sehnsüchtige Gedichte schwebten durch sein Herz, eingewiegt in süße Träume, wie ein Vogel in den großen Blumen des Südens schlafen mag, kam er in sein Zimmer. Er hat noch lange gesungen in jener Nacht, und noch am andern Morgen wachte er mit dem letzten Liede auf, das aus der Seele ihm gewachsen:

Süß ist doch zu Deinen Füßen
Tag um Tag und Jahr um Jahr,
Einmal Jahres möcht' ich küssen
Dir Dein aufgelös'tes Haar. –

Möchte Dir in's Herze schauen
Durch Dein Auge still und klar,
Und Palläste, Welten bauen
Aus dem Blicke wunderbar.

Jemals Deinen Mund berühren,
Dies zu wünschen wag' ich nicht,
Möcht' nur Deine Hand berühren,
Wenn mein Aug' im Tode bricht.

*

In des Menschen Seele liegt die Farbe für sein Leben. Ohne Muth, resignirt sah Dietrich zu der vornehm gestellten Anna empor, er wagte nichts, nicht einmal eine Hoffnung. Wer nicht zu hoffen wagt, schafft sich Unglück: so zögerte er unschlüssig mit der Visite im Hause von Annens Eltern, und als er endlich hinkam, fand er Niemand zu Hause. – Nun mußte er eine Einladung abwarten, Anna war nirgends in Gesellschaft zu sehen, man sagte, sie sei unwohl. So vergingen mehrere Wochen, endlich kam die Einladung, er sah sie bei Tische, sie war blaß, ihr Auge vergeistigter als je, sein Platz war weit von ihr entfernt, ein mit Orden decorirter Mann saß neben ihr, und bewies sich sehr artig und galant. Als der Champagner kam, erhob sich der Wirth, Anna's Vater, und brachte die Gesundheit des verlobten Paares, Annens und ihres Nachbars aus – ein Schwert ging durch Dietrichs Herz. War sein eignes Auge gebrochen, und nahm es deßhalb die Gegenstände fälschlich auf, oder schwankte dieser unbeschreibliche Blick wirklich durch Anna's Auge?

Sturm und Regen flogen durch die Straßen, als Dietrich des Abends durch sie hinschritt, die Worte kamen nicht aus seinem Sinn, wichen nicht von seinen Lippen:

»Jemals Deinen Mund berühren,
Dies zu wünschen wag ich nicht,
Möcht' nur Deine Hand berühren,
Wenn mein Aug' im Tode bricht.«

Zu Hause fand er eine Karte, auf welcher sich Julius und das Fräulein von Bergen als Verlobte empfahlen.

Am andern Morgen reis'te er nach England, obwohl noch lange nicht Frühling war. »Armer Vater«, waren die einzigen Worte, die ihm entschlüpften, als er aus dem Thore der Residenz fuhr.

*

Während er bei stürmischem Wetter über das Meer fuhr, gestaltete sich in der Heimath mancherlei zu seinem Besten. Aber er erfuhr nichts davon, denn er hatte alle Verbindungen abgebrochen; nur seinem Vater schrieb er zuweilen, und der konnte ihm nichts von Anna erzählen, denn er kannte sie eben so wenig wie das Verhältniß seines Sohnes zu ihr, was niemals aus der Brust desselben herausgetreten war.

Anna, ein starkes Mädchen, mit still, aber fest und gleichmäßig einherziehenden inneren Wogen des Charakters, erklärte ihrem Vater, daß sie den ihr bestimmten Bräutigam nicht heurathen könne. Es gab die gewöhnlichen Kämpfe bei solcher Gelegenheit, ihr fester Entschluß drang indessen durch, das Band, was schon zur Hälfte geschürzt war, wurde gelös't; sie war frei.

Aber sie war bei aller dieser Festigkeit eine schüchterne Mädchenseele: in warmer Frühlingsnacht stand sie am Fenster, sah die Wolken ziehn und die Sterne leuchten, und wenn Dietrichs Name über ihre Lippen schlüpfte, so folgte ihm ein Seufzer. Auch sie hatte keinen Muth, ohne weitere Beweise an seine Liebe zu glauben, ihr Herz war zu keusch.

Lange nach Dietrichs Abreise hatte sie nicht gewußt, daß er die Residenz verlassen habe; sie faßte sich endlich ein Herz, Julius nach seinem Freunde zu fragen. Auch der konnte nichts Sicheres mittheilen, Dietrich war ohne Abschied von dannen gereis't, wahrscheinlich nach England, wie er früher sich vorgenommen.

Daß er schon so lange fort sei, that ihr freilich wohl, konnte ihr ein Liebeszeichen sein: damals, am Verlobungstage, hatte nur er nicht gratulirt, war er verschwunden lange vorher, eh' die Gesellschaft sich trennte. – Anna wiegte sich in stille, verschlossene Mädchenromantik, sie gestand sich selbst nichts klar, sie hoffte nichts klar, sie ließ die Tage kommen. -

Ja, wenn Dietrich dies Alles gewußt hätte! bleibt man doch oft in größter Nähe fremd, und hier lag so viel Land und Meer dazwischen! Die Menschen legen den Verhältnissen so viel Trennung zur Last, ja sie trennen viel, die Menschen aber selbst noch mehr. -

– Es verging ein Jahr, es verging beinahe ein zweites. Anna hatte nichts von Dietrich gehört, immer eine Verbindung nach der andern hatte sie ausgeschlagen, ihr Vater war alt und schwach geworden, es schmerzte ihn tief die Einsamkeit seiner Tochter. Diesem Schmerz konnte sie nicht widerstehen; an dem Tage, wo Dietrich von England abreiste, um nach der Heimath zu kommen, gab sie ihre Hand am Altare einem Manne.

Es war ein alter Held, dem sie sich vermählt hatte, ein wackrer Mann: sie wollte so gern nach dem Norden reisen, wollte das Meer sehen; er konnte sie nicht begleiten, ließ sie aber mit seiner Schwester reisen, wohin sie wollte.

Durch den Harz nahmen sie ihre Richtung. Es war ein klarer Abend im Frühherbste, als sie auf dem Brocken ankamen. Die alte Schwägerin war müde und verfügte sich bald in's Haus; Anna blieb allein auf einem jener Felsblöcke sitzen, die da herumliegen, und sah in die untergehende Sonne. Ein klein wenig rechts davon, dachte sie, muß ja England liegen. Ein Reisender, vergoldet von den Sonnenstrahlen, stieg den Berg herauf, blieb öfters stehen, schaute sich um, kam näher.

Wenn es Dietrich wäre! dachte Anna, ohne zu denken, denn es gibt Gedanken in uns, für welche wir nicht können, die wie Mückenschwärme im Sonnenschein unseres Herzens spielen. – Der hochgewachsene, gebräunte Mann stand dicht bei ihr, es war Dietrich. Auf der Heimreise ging er über den Brocken.

Dietrich!

Anna!

Sie hoben beide die Arme, aber Anna ließ sie sinken, sie berührten sich nicht.

Es wurde dunkel und sie standen noch ebenso neben einander, und erzählten sich in abgebrochenen Sätzen das Unwichtigste, und waren sehr glücklich. Die Schwägerin schickte heraus, Anna möge sich nicht erkälten und in's Zimmer kommen; dabei erfuhr Dietrich, daß sie anders verheirathet sei, als er geglaubt, und erst seit wenigen Wochen. – Hierbei trat eine lange Pause ein, es konnte es keines vom andern sehen, daß jedem helle Thränen über die Wangen rieselten; sie gingen langsam nach dem Hause.

Wir sehen uns doch morgen wieder? sagte Anna, als sie in die Kammer zu ihrer Schwägerin ging.

Heut' haben Sie die Sonne untergehen sehen, sagte der Brockenwirth dazwischen, morgen werden Sie einen schönen Aufgang haben.

Am andern Morgen war der Berg in dichten Nebel gehüllt – Anna stieg hinab nach Clausthal, im Nebel verschwand schnell ihr grüner Schleier, ihr Abschied winkendes Taschentuch – Dietrich ging langsam auf der andern Seite hinab, und reis'te ernst und gefaßt, traurig, aber nicht unglücklich zu seinem Vater. Anna hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Meere, und trat auch ihre Rückreise an, als sie den Fuß des Gebirges erreichte.

*

Als Dietrich einige Jahre darauf mit amtlicher Stellung in eine kleine Stadt versetzt wurde, war er nicht mehr traurig, sondern verdrießlich. Die Verdrießlichkeit ging allmählig in eine graue Indifferenz über; »wenn man hier nicht ein Weib zu lieben findet, so verdirbt man wie ein dorrender Baum. O, hätte mein Herz früher so entschlossenen Muth gehabt, wie ich jetzt einsehe, daß es nöthig ist, um etwas ganz zu ergreifen, um das Blut im Schwunge zu halten! Jetzt ist's zu spät. Verlasse Keiner die Residenz mit ihrer Abwechselung, den Reisewagen, der täglich zu Neuem führt, wenn er nicht noch die Kraft und den Drang in sich empfindet, die erste, beste Liebe fest an's Herz zu drücken. Wenigstens suche er das einfache Landleben, wenn er in die Provinz muß, dort vegetirt er sich vielleicht zu einiger Gesundheit: die Einsamkeit weckt und stärkt, aber die Provinzstadt hat die Oede und Leere im Herzen, und tödtet wie langsames Gift. Interesse, Interesse! nach dir lechze ich wie nach der Gesundheit!«

Diese Worte standen am Schlusse seines Tagebuchs. Nach einer mondhellen Nacht ward er auf einem Berge aufgefunden, hinter welchem die Sonne untergeht, wenn sie dies Thal verläßt; er hatte sich erschossen.


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