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II Muß i denn, muß i denn ...

Luise Ingelaat, die Pflegetochter Naatjes, ging mit rotgeweinten Augen im Hause herum, und man merkte es diesen Augen nicht an, daß sie noch in den ersten Sommertagen selig und mit einem glücklichen Schimmer in das niederrheinische Land hinausgeblickt hatten, als hätten sie etwas Feiertägiges gefunden. Und sie hatten auch etwas Feiertägiges gefunden.

Damals waren die Chausseebäumchen noch nicht verstaubt; die Wiesen lagen so frisch und gelbgesprenkelt unter dem Himmel, als wären alle Sterne über Nacht heruntergefallen und seien im saftigen Grase haften geblieben. Und die stillen, dunklen Wälder, die den Horizont abgrenzten, winkten aus der Ferne herüber, und der Rhein blinkte dazwischen herauf, und so ein weicher Wind kam von Holland gegangen, scheitelte die Gräser sacht auseinander und umwehte zwei Menschen, die zwischen den Wiesen und inmitten der großen, niederrheinischen Einsamkeit standen.

Und das war sie und Johannes Wesselink, geachteter Leute Kind und ein guter Sohn, der sich in der Welt umgetan hatte, ein junger Zimmermann war, allsonntags über den Büchern saß und das Geschäft seines Vaters kräftig über Wasser hielt, als dieser eine ›Überfahrung‹ bekam und sich dann so ganz leise und sachte und auf weichen Socken aus dem Leben herausgemacht hatte. Dem jungen Zimmermann wuchsen ganz andere Gedanken unter der Stirn, wie man es sonst bei Leuten seines eigenen Standes und Schlages gewohnt war. Sein Sinn war von grüblerischer Natur, und sein Herz hing an Heimat und Scholle mehr wie das Herz von anderen Menschen, denn sie verstanden nicht den merkwürdigen Zauber, der ihrer eigenen Geburtserde anhaftete, aber Johannes verstand ihn und hatte ihn von Kind an verstanden. Denn wenn der Wind über die Gräser seiner Heimat dahinlief, wenn sich das Rohr mit den braunen Wedeln auf- und niederbewegte – dann sprach sie mit ihm, und wenn sich dann die schwarzen, fetten Ackerkrumen mit mannshohen Halmen bedeckten – dann wußte er, daß sie arbeiten wollte, und wenn es dann Abend wurde, die Windmühlenflügel scharfbegrenzt auf der Goldfolie des Himmels ruhten und sich nicht mehr bewegten, und wenn dann die tausend und abertausend Wisperstimmchen in den Wiesenschlägen sich regten, dann war es ihm so, als müsse jetzt das Glück aus der Niederung treten, ihm auf die Schulter tippen und sagen: »Hier bin ich, Johannes.«

So ein Abend war damals gewesen.

Die beiden Menschen standen in der großen Einsamkeit, die noch einsamer wurde, als sich die Fernen umdüsterten und ein großer Vogel über die weite Ebene revierte.

Da drängte Luise ihre volle Gestalt fester in seine Arme hinein, und da er es merkte, wurde er heiß und sagte dann mit verhaltener Stimme: »Das habe ich mir immer gewünscht, ein Glück zu haben, wie ich es heute besitze.«

»Wie meinst du das?« fragte sie leise.

»Weil es aus dem Boden herausgewachsen ist, den ich liebe.«

Da ging ein Schauer über sie fort, und sie küßte ihn lange. Er aber bemerkte, daß sie die Augen geschlossen hielt, als sie ihn küßte.

Und da legte er seine harte Hand um ihre Taille und sagte: »Du mußt mich ansehn, Luise.«

Sie gab keine Antwort, hielt aber ihre Augen geschlossen.

»Du sollst mich ansehn, Luise,« sagte er noch einmal und mit dringlicher Stimme. »Das tut die niederrheinische Erde doch auch, wenn ich arbeitsmüde bin und dann hinausgehe, um in ihr Auge zu sehn. Und du bist doch das Liebste, was ich habe und was mir die Heimat gegeben.«

»Ich bitte dich, laß mich, Johannes.«

»Du willst nicht, Luise?«

»Ich tu' es nicht gerne, denn wenn ich es tue ...«

»Und wenn du es tust?« fragte er mit einem beklommenen Anflug.

»Dann ist es mir, als wenn ich etwas sähe ... als wenn sich etwas zwischen uns drängte ...«

Sie sprach nicht weiter und da wußte er, daß nicht alles so war, wie er es sich bei der Arbeit und in seligen Stunden ausgemalt hatte.

»Gottverdammich!« kam es hart von seinen Lippen herunter.

»Johannes!« rief sie verschüchtert und warf ihre weichen Arme rund um seinen Nacken herum. »Es war ja nichts, lieber Johannes!«

»Nicht?!« sagte er tonlos, »aber mir ist so, als wenn das von früher...«

»Nein, nein, nein...!« sagte sie schluchzend.

Da zog er sie fester an sich und deutete mit der Hand in die umschleierte Landschaft hinein. »Sieh mal,« meinte er dann so ganz still und ganz leise, »das sehen andere Menschen nicht, wenn sie auch wollen. Ich will es dir zeigen, denn da ist etwas in die Gegend hineingekommen, was einem weh tut, wenn man es ansieht.«

»Du grübelst schon wieder,« meinte sie ängstlich.

»Das mußt du in den Kauf nehmen,« sagte er bitter, »wenn wir uns zusammentun wollen; denn es ist ein Stück von mir, was da rungeniert werden soll und absterben könnte. Es ist nicht von selber gekommen. Menschen haben es hineingetragen; es ist Menschenwerk. Es kommt von Rom her – es liegt auf den Kirchen – es kriecht in die Häuser hinein – es geht im Felde herum und zerdrückt den Frieden, den wir hier hatten, als wenn er nur eine erbärmliche Glasscherbe wäre. Und wenn das so weiter geht... Und sieh mal, Luise: wenn ich dann dich besehe und höre, was du mir gesagt hast, dann ist es mir so, als wäre etwas von der großen Not, die im Lande ist, auf dich übergesprungen, und dann sorge ich mich, daß du noch was im Herzen trägst, daß da noch etwas verborgen liegt, was unser Glück tot machen könnte.«

Er sprach nicht weiter. Sie hatte ihn so innig umschlungen, daß er nicht mehr zu sprechen vermochte.

»Das ist nicht wahr! – Das ist lange vorbei...!« sagte sie mit heißen Lippen. »Da sieh nur...«

Und da schlug sie ihre großen Augen auf, die sammetweichen Augen mit der durstigen Seele, und da fand er alles, was er stets in den Blicken seiner Heimat gewahrte, wenn sie ihn ansah: das Tiefe, Klare und das endlose Sehnen – nur das nicht, um das er noch soeben gesorgt und gebangt hatte.

Er hatte in ihnen etwas Feiertägiges gefunden, etwas von dem, was er brauchte, was er immer gewünscht hatte – und da glaubte er ihr und ließ alle Zweifel beiseite und wußte, daß er, der Fünfunddreißigjährige, glücklich werden sollte mit der, die ihren blonden Kopf an seine Schulter gepreßt hielt und nun wie verloren in das eingedunkelte Land sah, das seine Schleier um ein junges Geheimnis legte, das es soeben erlauscht hatte.

Mit diesem Geheimnis im Herzen gingen die beiden durch die stillen Wiesen nach Hause und bewahrten es noch lange vor den übrigen Menschen. Erst um die herbstliche Zeit sollte es offenkundig werden, so verabredeten sie, wenn sie auch nicht verhindern konnten, daß die Wiesen von ihrem Glück erzählten, und einige Leute es ahnten, die gesehen hatten, wie sie Hand in Hand durch den stillen Abend gekommen waren.

Aber die beiden schwiegen, und Luise vergaß, daß sie einmal anders gefühlt hatte wie heute, und Johannes mußte immer an das Feiertägige denken, das auf ihn übergangen, das er zuerst bemerkt hatte, als die Wiesen einschliefen und die eingedunkelte Niederung ihn ansah mit großer Liebe und unendlicher Sehnsucht. Das waren die Blicke von Luise gewesen. Und er dachte daran, wenn er zwischen Gesellen und Lehrlingen mit den schweren Hölzern hantierte, wenn er die Hängewerke richtete und seine Baupläne ausführte; er dachte daran, wenn er Sonntags über seinen Büchern saß, nachgrübelte, seinen eigenen Gedanken nachging und mit tiefer Not und heimlicher Bängnis erkannte, daß sich etwas Dunkles, Schwarzes über seine engere Heimat hinweglegte, daß daraus eine energische, unerbittliche Hand wuchs, den Frieden packte und ihn zu zersprengen drohte, als wäre er nur eine minderwertige Scherbe gewesen. Das Feiertägige seiner Liebe aber verließ ihn nicht, das war sein Eigen geworden.

Und so waren die Tage vergangen und die Wochen vergangen. Ein weicher Spätsommerwind ging über die geworfenen Halme, wehte den Staub über die Chausseebäumchen und blies die Äpfel an, daß sie rote Bäckchen bekamen.

Nur über die Wangen von Naatje Ingelaat legte sich etwas, das dem jungen Zimmermeister nicht gefiel, das ihm Kümmernis machte. Er ahnte Schlimmes, aber Pitt Hoffmann, der es ja wissen mußte, ahnte das Schlimmste, ließ seinen Trauerzylinder bei Schneidermeister Olbers aufbügeln und durch einen neuen Florbesatz aufmunterieren, so daß er wieder so frisch aussah, als wäre er direktemang aus dem Laden gekommen. Und das gehörte sich so, denn Naatje Ingelaat hielt auf Äußerlichkeiten und verdiente es reichlich.

Und Pitt Hoffmann stand noch immer am Fenster.

*

Es war tiefe Dämmerung eingetreten, als Joseph von Arimathia seine Wohnung betrat. Hinter ihm machte auch der Tag seine müden Augen zu, und als er sie zumachte, ließ sich ein dünnes, gespenstisches Klingeln vernehmen, das von der Sakristei der katholischen Pfarrkirche herkommen mußte. Man konnte es für ein Geräusch ansprechen, das sich im Nebel verirrt hatte und jetzt nicht mehr wußte, wohin es seinen Weg nehmen sollte, so unruhig, kränklich und unstet drückte es sich an den Häuserzeilen vorbei, als müsse es irgendwo einen Ausweg gewinnen. Jetzt kam es durch das schmale Kirchengäßchen geklingelt – aber so spitz und verweht die seltsame Schelle auch klagen mochte, ihr wohnte eine geheimnisvolle, fast wundertätige Kraft inne; denn wie sie ertönte, da traten die Leute aus den Häusern und knieten verstört nieder, und die, welche sich auf der Straße befanden, knieten ebenfalls nieder, ließen die Köpfe sinken und machten das Zeichen des heiligen Kreuzes.

»Herr, sei deinem armen Diener Naatje gnädig!« sagten die meisten, und wie sie es sagten, da war auch Pitt Hoffmann mit seiner Frau, die das löbliche Amt einer ehrsamen Hebamme bekleidete, über die Schwelle getreten. Pitt machte eine bedeutsame Pose – und da knieten die beiden wie die übrigen Menschen: sie, die sich freute, wenn sie so einem kleinen Wesen den Eingang ins Leben leichter machen konnte, und er, der sich einen Wacholder vergönnte, wenn einer den dunklen Salto mortale tat und ins Gras beißen mußte. Geschäft ist eben Geschäft; man mußte es nehmen, wie's kam, ganz egal, ob es die Lebendigen oder die Toten spendierten.

Die geisterhafte Klingel war näher gekommen.

Da schlug sich Pitt Hoffmann mit seinen gelenkigen Fingern gegen die Brust und meinte dann mit salbungsvoller Betonung: » Dixi et salvavi ... Mama, bete mit« – denn er sagte der Feinheit und der noblen Lebensart wegen zu seiner Frau immer ›Mama‹ – » dixi et salvavi animam meam.«

Jetzt ging die heisere, kränkliche Schelle vorüber.

Sie wurde von einem kleinen Meßjungen in Bewegung gesetzt, der, mit schwarzem Chorrock und weißem Röckling bekleidet, eine Laterne mit Messingbeschlag in der linken Hand hielt und sie hin und her balancierte. Ein mattes Wachsartigen flimmerte hinter den Scheiben. Ein abgezirkelter Dunstkreis glitt über die Erde und von hier aus über eine kleine Gestalt, die dem Meßjungen folgte. Es war der Dechant Doktor Steinberger, ein tolerant gesinnter Mann, der die Worte des Heilandes nicht nur auf den Lippen, sondern auch im Herzen hatte und sie zu betätigen wußte. Wie sein kleiner Adlatus trug auch er Chorrock und Röckling. Sein Kopf war vornübergebeugt; er sah weder zur Rechten noch zur Linken, und seine weißen, frommen Hände umspannten eine kleine Kapsel mit den Heilssakramenten für christkatholische Menschen, die hier auf Erden nicht mehr mittun wollten und sich anschickten, ein weißes Kleid anzuziehen, um barfuß nach oben zu pilgern.

Die Klingel ging weiter.

»Nu können wir aufstehn, Mama,« sagte Pitt Hoffmann. »Heute in drei Tagen sind wir um fünf Taler zehn Groschen reicher, Mama, denn Naatje wird erster Klasse begraben.«

Hierauf machte er wieder eine bedeutsame Pose, half seiner kompletten Frau auf die Beine und verschwand mit ihr in den dunklen Hausflur.

Und immer noch das Bimmeln – das feine Gebimmel ...! –

Im vorderen Zimmer der Posthalterei lag Naatje zwischen hochgeschichteten Kissen. Im Hause gingen die Mädchen auf Zehenspitzen herum. Der expedierende Sekretär hatte schon lange den Schalter geschlossen, war aber nicht heimwärts gegangen, weil jeden Augenblick das Ableben seines Herren eintreten konnte. Stäwe Rademaker machte sich geräuschlos in den Ställen zu schaffen. Die Halfterketten hatte er durch Stricke ersetzt und eine dicke Streu unter die Pferde geschüttet, damit kein Klirren entstände und das störende Getrampel aufhören sollte.

»Das kann so 'ne arme Seele nicht leiden,« sagte der Alte, »denn sie geht auf Filzparisern herum, und wenn sie verschreckt wird, denn verliert sie die schlenkrigen Schuhe und kann das ewige Leben nicht finden.«

Und dann wischte sich Stäwe über die stahlblauen Augen und horchte in Richtung der vorderen Stube, ob sich noch alles beim alten verhielte.

Nichts ließ sich hören.

»Die arme Seele hat noch nicht den Postschein genommen,« sagte er leise, »sie wartet noch 'n bißchen. – Liese, sei still; du kriegst was auf den Kopp, wenn du mit dem verfluchten Leinewebern nicht aufhörst.«

Friedlich lief der Schein der Stallaterne über die Pferde.

Und da drinnen ...

Man mußte ordentlich zusehen, um Naatje zwischen den hohen Kissen zu finden. Er hatte sich ganz in sich zusammengezogen, so klein und vermickert sah er aus. Das gedämpfte Licht einer Lampe spielte um die eingefallenen Züge, die so durchsichtig wie dünnes Postpapier waren. Aber etwas von Verklärung ging darüber hin, etwas von jener Verklärung, die der gefunden, der leichten Herzens die große, unbekannte Wanderung antritt, um das ewige Reich zu gewinnen. Er hatte den Kampf aufgegeben und sich in Gottes unabänderlichen Willen gefunden.

Luise und Johannes Wesselink befanden sich im Nebenzimmer, während der Rektor Franz Hartjes am Kopfende des Bettes saß, eine Hand des Sterbenden gefaßt hielt und mit ruhigen Augen die Atemzüge des Kranken verfolgte.

Ab und zu sah er in die Nebenstube hinein, als wisse er nicht, warum Johannes Wesselink sich bei Luise befände. Er hätte es aber wissen können, wäre er nicht ein so etwas verwehter Kopf gewesen wie alle Gelehrten. Zudem stand er unter der Fuchtel einer energischen Frau, die, bei allen häuslichen Pflichten, noch die Präsidentschaft des Paramentenvereins besorgte und ihre noch immer respektabelen Reize dazu benutzte, den braven Gatten an der Strippe wie an einem Gängelbande zu halten. Das machte ihn stutzig, unentschlossen und ängstlich, und so kam es denn auch, daß er für gewisse Dinge kein Verständnis mehr hatte, denn er war eben verweht, wenngleich er auch ein denkender und strebsamer Mensch war.

Hartjes hatte das Gesicht einer Spitzmaus, aber das einer gutmütigen Spitzmaus, stand in den fünfziger Jahren und war seit langem ein ständiger Skatkollege von Naatje gewesen – und nun saß er hier, hielt die Hand seines älteren Freundes gefaßt, um ihm das Ende leicht werden zu lassen.

Jetzt bewegte sich Naatje.

»Du,« sagte er mit kaum wahrnehmbarer Stimme, »klopft da nicht jemand?«

»Nein,« sagte Hartjes.

»Aber ich habe es doch deutlich gehört.«

Da drehte sich der Rektor ängstlich herum und sah durch die Scheiben.

»Nein, es hat niemand geklopft,« meinte er schließlich.

»Aber die Tür hierneben steht offen?«

»Ja – die steht offen.«

»Dann mache sie zu,« sagte Naatje und wollte sich in den Kissen erheben.

Da ging Hartjes und machte die Tür zu.

Und dann wurde es wieder still in der Posthalterei, so still, daß man die einzelnen Briefschaften fallen hörte, die draußen ganz sachte in den Einwurf hineinpraktiziert wurden.

Hartjes weinte leise vor sich hin, und wie er so weinte, da tastete Naatje ganz verloren über die Bettdecke hin, als suche er etwas, und da merkte Hartjes, daß er wieder seine Hand haben wollte.

»Da ist sie, da ist sie ...!« meinte der Rektor, und als Naatje sie hatte, da sagte er plötzlich mit deutlicher Stimme: »Laß das man, Hartjes. – Mir wird's ja leicht, und für Luise habe ich schon Sorge getragen. Beim Notar ist das Testament deponiert. Ich gehe ja gern von meinem Geld und der Posthalterei fort, da ich nun weiß, daß es mir nicht ums Sterben so schwer wird. Aber das mit Luise ... das mit Luise ...!«

»Was denn?« fragte der Rektor. Er gab sich einen ordentlichen Ruck, um nicht in seinen Tränen ersticken zu müssen.

»Das mit Luise. Sie hat ja mal früher ... Aber sie ist ja nun wohl mit Wesselink einig ... Da ist sie versorgt für die Zukunft ... Aber wenn sie mit dem anderen Menschen – mit dem da in Rom – mit dem Kerl in der päpstlichen Jacke ...«

Naatje reckte sich auf. Er setzte die letzte Kraft daran und streckte die Hand aus: »Hartjes, dann mag sie ... Hartjes, dann ist alles auf Doktor Steinberger und unsere Kirche ... Hartjes, was ist das ...?!«

»Wo denn?«

»Da klopft es doch wieder.«

»Aber ich bitte dich, Naatje!«

»Nicht?! – Aber da kuckt doch immer einer durch die Scheiben ins Zimmer!«

Dem Rektor lief es kalt über den Rücken.

»Keine menschliche Seele! – Niemand! – Hörst du, Naatje, keine menschliche Seele ...!«

»So ...!« sagte Naatje, fiel in die Kissen zurück und legte sich still auf die Seite. Sein Sprechen wurde nun ein wirres Gerede. Er war wieder ein junger Posteleve, der hinter dem Schalter saß und Briefe sortierte, und dann kamen wieder die dreißigtausend Taler und Luise dazwischen, und Karlo Antonio Pollmann ... Und dann saß er mit seinen Kollegen im Herrenstübchen und hatte einen Grand mit Vieren und angesagtem Schneider in Händen. Sein Reden wurde immer verwirrter und seltsamer, bis er schließlich einschlief, und so ein stiller, seliger Abglanz sich über sein Gesicht austat, als wäre eine sanfte Hand ganz leise darüber gefahren.

In diesem Augenblick war das heimliche Gebimmel, das bisher draußen gewesen, in den Hausflur gekommen.

Auf weichen Sohlen, lautlos und wie ein lieber Sendbote des Herrn war Doktor Steinberger ins Sterbezimmer getreten. Und die Tür nebenan öffnete sich auch, und da kamen Luise und Johannes Wesselink herein, hielten sich bei den Händen und knieten an der Bettlade nieder.

Der kleine Meßjunge steckte zwei geweihte Wachskerzen an, die er aus seinem Röckling zog, und auf zwei Metalleuchter stellte, die das Hausmädchen in die Stube gebracht hatte.

Ängstlich, wie zwei arme Seelchen, die sich scheu im Kreise umsahen, standen die Flämmchen auf ihren niedrigen Schäften.

Über das milde Gesicht des Geistlichen glitt es wie ein überirdisches Licht, und das überirdische Licht ging auch wie erlösend auf die über, die gekommen waren, Naatje die Augen zuzudrücken, wenn sie vergessen hatten, die irdischen Dinge zu sehen und sich daran gewöhnen mußten, in den überirdischen Glanz des ewigen Lebens zu schauen.

Die heilige Handlung ging vor sich – und als sie vorbei war, als Doktor Steinberger, so mild und gütig wie er gekommen, auch wieder die Stube verließ, und das feine Geklingel der Schelle draußen verzitterte, da fühlte Naatje mit der Hand durch die Luft und legte sie zuerst auf den Kopf von Luise und dann auf den Scheitel von Johannes Wesselink ... Und dann flog so ein lustiger Zug um sein Gesicht, als er sagte: »Adjüs, Hartjes ...! – Rademaker soll kommen.«

Und Rademaker kam; er kam um Abschied zu nehmen. Er wußte aber auch, was er seinem Herrn schuldig war, hatte sich seine beste Uniform zugelegt und das Posthorn mit 'nem funkelnagelneuen Bandelier um die Schulter geschlungen.

Mit nassen Augen drehte er seinen Postillonshut zwischen den schwieligen Fingern.

Das sah Naatje noch mit verschwommenen Blicken und meinte: »Stäwe, das ist proper von dir – und wenn es denn alle mit mir wird – so in 'ner halben Stunde – dann weißt du ...«

»Well, Baas – dann weiß ich ...«

Die Worte kamen ihm schwer an; er konnte kaum sprechen.

»Schön so, Stäwe, dann bläst du – dann bläst du ...«

»Ja, Baas – dann blas' ich ...«

Und dann nahm er die Hand des alten Postmeisters und meinte: »Ja, in so 'ner halben Stunde, dann blas' ich. – Na, Baas – adjüs denn.«

»Na, adjüs, Stäwe. – Stäwe, da oben ...!«

Da ging Stäwe in seiner neuen Montur und dem blanken Posthorn zur Türe hinaus. Er mußte sich stramm halten, sonst wäre er vor Schmerz in die Knie gefallen.

Die halbe Stunde verging – und da kam es vom Posthofe her: leise, sanft, aber klar und erschauernd lief es durch den laulichen Sommerabend.

Die Menschen hielten den Atem an, als sie es hörten.

»Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus ...« klang es feierlich durch die Stille der Nacht hin.

Und da flog so ein schöner Zug über Naatjes Antlitz – und dann schien er auf die weichen, verlorenen Posthornklänge wie im Traum zu hören. Dann war's alle mit ihm.

Friedlich, zufrieden, glücklich war Naatje Ingelaat aus dem Städtle gegangen.

Und Luise drückte ihm die Augen zu, und Wesselink rückte ihm den Kopf bequemer in den Kissen zurecht, und Hartjes legte ihm sanft die Hände zusammen.

Und draußen ging Holzschuhgeklapper.

Naatje hatte doch recht gehabt. Es hatte jemand am Fenster gestanden und durch die Scheiben gesehen. Das war der Mann im blauen Kittel und mit der brennenden Tonpfeife gewesen.

Als alles aus war, ging er klappernd über den Markt fort.

Niemand hörte es, außer Pitt Hoffmann.

»Jetzt ist Naatje gestorben,« sagte er mit einer wehmütigen Pose. »Gott gebe ihm die ewige Ruhe.«

»Amen,« sagte Frau Hoffmann.

»Muß i denn, muß i denn ...«

Leise, wie im Traum verhallten die Posthornklänge.

Stäwe Rademaker aber setzte sich auf eine Futterkiste und weinte bitterlich.


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