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»Mama,« sagte Pitt Hoffmann, »alles auf dieser Erde hat seine Bestimmung,« wobei er das Wort ›Mama‹ so wehmütig betonte, als habe eine Unke gerufen.
»Wie sich das gehört;« versetzte Frau Hoffmann.
Sie war bereits in Hut und Mantille und hantierte an ihrem wachsledernen Handtäschchen herum, in welches sie verschiedene Gerätschaften, die sie bei Ausübung ihrer menschenfreundlichen Kunst nötig hatte, hineinpraktizierte.
»Mama – und soll ich dir das mal erklären?« sagte Pitt Hoffmann.
»Wenn's nicht zu lange dauert,« meinte die Dicke, »ich habe noch bei Schandarms zu bedienen. Die Frau ist pünktlich wie unser Julius mit die lateinischen Hefte. Und ihr Mann erst – der ist die Pünktlichkeit selber.«
»Weiß ich,« entgegnete Pitt und machte dazu eine pompöse Geste mit seinen schlenkrigen Fingern. »Alljährlich ein größeres Protokoll – alljährlich so 'n Schreihals. Zehn lebendige Kinder! – Der reinste Kaninchenstall!«
»Aber mein Salär ist man dünne,« sagte das pummelige Weibchen und ließ das Schloß ihres Handtäschchens einschnappen.
»Weiß ich,« konstatierte Pitt Hoffmann, »da springt nicht mehr heraus, wie der jährliche Mist wert ist von zehn Kaninchen zusammengenommen. Und nun, Mama, die Geschichte – denn alles auf dieser Erde hat seine spezielle Bestimmung. Das steht im Kalender für Zeit und Ewigkeit wörtlich geschrieben.«
»Zum Beispiel?« fragte Frau Hoffmann.
»Die Freimaurer – damit wir ebenso genau wie die in Amerika mit Kamelen aufwarten können.«
»Wer sagt das?«
»Alban Stolz. Dann ferner die Zivilehe – damit auch lebendige Selbstmörder herumlaufen können, denn so Kopulierte sind lebendige Selbstmörder. Der Leib ist zwar noch immer mobil, aber die Seele ist tot und stinkig geworden.«
»Wer sagt das?«
»Alban Stolz. – Desgleichen die Frösche.«
»Wieso denn?«
»Um lauthals: Calvin, Calvin, Calvin! zu quaken.«
»Wer sagt das?«
»Alban Stolz.«
»Das muß ja ein grundgelehrter Mann sein!« erstaunte sich Frau Hoffmann und ergriff ihr Ledertäschchen.
»Der?!« sagte Pitt mit einem überlegenen Lächeln, »der bedeutet mehr wie die heidenmäßigen Kerle Schiller und Goethe. Der ist 'ne Gotteslaterne und erleuchtet die dämlichsten Köpfe.«
»Ich bin noch nicht fertig, Mama« sagte Pitt Hoffmann. »Die Frau Schandarmin kann warten mit ihrem poweren Salär. Du kannst noch immer früh genug das elfte Karnickel in den Familienstall hineinkomplimentieren. Jetzt komm' ich an die Reihe.«
»Du?« fragte Frau Hoffmann.
»Ja – weil ich dafür sorgen muß, daß der neue Turmhelm nicht vom Nonnenhannes, sondern von Therese ihrem Schwager gemacht wird. Und dann kommt das an die Reihe« – und er deutete auf das Eckschab, auf dem die Bouteille mit Wacholdergeist stand – »weil mir das stärkt, wenn ich die Toten begrabe. Und dann kommt das an die Reihe« – und er zog ein Stück Kreide aus der Tasche – »weil es praktikabel ist, Namen von solchen an die Türen zu schreiben, die es wegen ihrer Miserabeligkeit doppelt und dreifach verdienen. Und so möge es allen ergehen ...«
»Christus!« warf Frau Hoffmann ängstlich dazwischen, »also das mit dem ›Nonnenhannes‹ ...?!«
»Ruhe, Mama,« sagte der salbungsvolle Beamte und ließ ganz ergeben und sachte die schweren Augendeckel herunter, »immer Ruhe, Mama; das braucht niemand erfahren. Gute Werke wollen nicht an die Luft; sie wachsen am besten in Mistbeeten, die Strohmatten über sich haben. Alles muß im geheimen, so im Dustern bleiben.«
»Wie sich das gehört,« sagte Frau Hoffmann. Sie war ordentlich erschauert unter den Worten ihres Mannes, denn sie hatten so gemessen und feierlich geklungen, gerade so feierlich und gemessen wie die weiche Erde auf dem Kirchhof, wenn bei einem Begräbnis der erste Spatenstich auf den schwarzlackierten Sargdeckel rumpelt.
»Und nun gehe man mit Gott zur Frau Schandarmin,« sagte Pitt Hoffmann, »laß dir aber mit gutem Kaffee traktieren, denn mehr kann so 'n königlich preußischer Beamter doch nicht bezahlen,« und damit dienerte er seine Frau bis zur Haustür, ging wieder zurück und trat, nachdem er sich am Eckschab gestärkt hatte, ans Fenster.
Die langen Hände auf den Rücken gelegt, sah er auf die Straße hinaus, aber recht lange und mit viven Augen, ob der Mensch mit dem Tonpfeifenstummel und dem blauleinenen Kittel, den er schon seit Monaten vermißt hatte sich noch immer nicht einstellen würde.
Aber er kam nicht.
»Himmel Zackerment noch einmal! – Henn Seegers ist, doch schon lange gefällig geworden ...«
Aber er kam absolut nicht.
»Und Fritz van de Horst ...«
Nichts ließ sich sehen.
»Schlechte Geschäfte,« sagte Pitt Hoffmann. »Seit Ingelaat keine menschliche Seele ...!« drehte sich gelassen herum, um einen Frühschoppen bei Marie Janssen im ›Ridder‹ zu trinken.
Es war auch besser so, daß er auf diesen Gedanken verfiel, sonst wären ihm die Beine vor langem Warten noch in den Körper gewachsen, denn Wochen vergingen Monate vergingen, fast ein ganzes Jahr verging, bevor, der Kerl mit dem grindigen Gesicht wieder vorsprach, mit den Händen in den Hosentaschen durch die Straßen latschte und stumpfen Auges in die Fensterscheiben hineinsah. Und wie der erste Tote aufgebahrt wurde ...
Inzwischen hatte Jans Prußt die schöne Anna Derksen geheiratet; die Tanzstunden nahmen ihren regelmäßigen Fortgang, und Bettje Theißen schlug in der Turnhalle so andächtig und seelenvoll das Triangel, während die alte Baronin aus Sparsamkeitsrücksichten zur Masurka, Quadrille und Polka aufpfiff, daß es den Tanzbeflissenen ordentlich bis in die Zehenspitzen hineinfuhr, und sie die besten Fortschritte machten. Und Julius Hoffmann, der Quartaner Julius Hoffmann, kletterte dann auf das Fensterbrett und sah mit finnenblütigem Gesicht und gierigen Augen in die erleuchtete Turnhalle hinein, wo sich all diese Herrlichkeiten abspielten und seine jugendliche Seele bewegten. Da waren Toni Küppers und Klara Horré, die Söhne des Notars und die anderen alle; selbst Adele Knipp hatte sich schließlich noch einschreiben lassen. Auch Fränkel Haas, dem Jud Haas sein ältester Junge, der die besten griechischen Extemporalien machte und immer ein Gewürznägelchen kaute, um einen feinen Atem zu haben, war ebenfalls mitten dazwischen, hatte seine krausen Haare mit Rindspomade eingefettet und komplimentierte jetzt schon so nobel herum, als wäre er mit seinem Vater niemals auf den Kuh- und Ziegenhandel gegangen. Das wurmte Julius, denn er selber durfte nicht mittun; dafür aber ließ er die allerliebste Tanzmamsell nicht aus den Augen. Früher hatte er Toni Küppers geliebt; jetzt aber ... Er wunderte sich Stein und Bein, was er für ein Einfaltspinsel gewesen und überlegte sich, ob er Pauline von Satzenhofen nicht einmal heiraten könne. Dabei war er eifersüchtig wie ein türkischer Pascha, weil Fränkel Haas jede Gelegenheit benutzte, sich an seine Auserwählte heranzudrängeln, um mit ihr in Berührung zu kommen. Nein – die verliebten Augen von Fränkel ...! – Julius stand Judasmartern aus; aber er tat es ja gerne. Er wollte alles ertragen, er wollte fleißig studieren und es zu der höchsten Staatsstelle bringen, wenn Pauline nur ein Einsehn hätte und ihn heiraten würde. Sogar der Plan einer Entführungsgeschichte nahm unter der blauen Quartanermütze schon so halber Fassung und Form an. Er grollte seinen hartherzigen Eltern und malte sich ihr Erstaunen aus, wenn es eines Tages heißen würde: Julius spielt die Rolle des trojanischen Paris. Ja, die wollte er spielen, wenn es zum Äußersten käme. Nein – wie es da drinnen flirrte und blitzte! – Und die tanzenden Paare – und die Tanzmamsell selber ...! – Er hatte noch niemals in seinem Leben so zierliche Schultern gesehen. Und die hatte sie. Und erst die bauschige Krinoline – und die Lastingschühchen – und der feine Ansatz des weißbestrumpften Beines, wenn sie die Röckchen zurücknahm, das Füßchen vorstellte, um die erste, zweite und dritte Position des schwierigen Rheinländers deutlich zu machen ...! – Und die lieblichen Bäckchen ...! – Er konnte nicht anders: er mußte an die schöne Rundung von zwei Pfirsichen denken. Und Pfirsiche kannte er; er hatte sie öfters vom Spalier des Herrn Doktor Steinberger gestohlen – zierliche, runde, rötliche Pfirsiche, mit einem duftigen Hauch überflogen ... Und Julius machte weite Nasenlöcher – und Bettje Theißen schlug das Triangel – und die alte Baronin ... Gott ja! – seine zukünftige Schwiegermutter sollte es wirklich gut bei ihm haben – und die alte Baronin pfiff dazu wie so ein ausgelernter Kanarienvogel ... Und dann war Sinter Klas gekommen, und der dritte Advent kam und schneite die Wiesen ein und stopfte den alten Weidenköpfen Watte ins Maul, und die Weihnachtsglocken sangen und riefen: »Friede den Menschen auf Erden!« Allein der Friede ließ auf sich warten, und als über die überschwemmten Wiesen sich eine glänzende Eisdecke legte, die heiligen drei Könige den Stern von Bethlehem wieder in die Pappschachtel taten, da führte Johannes Wesselink sein junges Weib aus der Posthalterei unter sein schlichtes Zimmermannsdach, legte die Arme um sie und sagte: »Hier sollst du es gut haben, Luise,« und dann zeigte er ihr die Kammer ... und die Sterne waren aufgegangen am Himmel.
»Gerade wie damals,« dachte das junge Weib.
Aber damals standen sie in laulicher Sommernacht, und das Korn rauschte herüber. Die Wachtel lockte im Feld, und ein warmer Duft ging über die befruchtete Erde.
Und jetzt? – Schnee und fröstelnde Sterne – und der Männergesangverein ›Concordia‹ war am späten Abend heimlich gekommen, hatte sich in der Nähe des Zimmermannshauses gruppiert und wartete auf ein gegebenes Zeichen.
»Fertig,« sagte Pitt Hoffmann, und wie er das sagte, steckte jedes Mitglied zwei Finger in den Mund – jedes zwei Finger.
»Eins, zwei, drei!« kommandierte hierauf der Herr Dirigent, wobei auf ›drei‹ ein so infames und gellendes Pfeifen ertönte, daß die Scheiben der benachbarten Häuse[??r??] davon in ein gelindes Klirren gerieten.
Dreimal pfiffen die Kerle, schrien noch unisono »Nonnenhannes soll leben!« und waren dann auf dem weichen Schnee wie auf lautlosen Socken in den zunächst gelegenen Gassen und Straßenecken verschwunden.
»Die pfeifen den dreißigtausend Talern nach,« sagte Bettje Theißen, die bereits in den Federn lag und von dem niederträchtigen Ständchen des christkatholischen Männergesangvereins ›Concordia‹ unsanft aufgeschreckt wurde, »und das nennt man Toleranz und christlich Benehmen!« und dann legte sie sich wieder auf die Seite und träumte von den Johannisfeuern, die auf den Deichen und in der Niederung brannten. Die Feuer aber brannten nach Kleve und andere dem Rhein zu und leckten mit ihren gierigen Zungen gen Himmel. Und Bettje machte in Gedanken heilige Augen, denn sie war glücklich, ach, so glücklich im Traume! – Und ihre Einwohnerinnen ...?
Die alte Baronin war schon schlafen gegangen. Die Tanzmamsell aber saß noch am Fenster im Wohnzimmer und sah über den Platz fort, auf welchem die eingeschneiten Hölzer im fahlen Dämmer lagen und Winterschlaf hielten. Sie hatte ihr Köpfchen in die linke Hand gestützt und beobachtete unentwegt das erleuchtete Fenster im Zimmermannshause, hinter dem die Kammer war, wo sich die jungen Hochzeitsleute befanden. Ab und zu lief ein scharfumgrenzter Schatten über die klarhelle Fläche des Vorhangs. Der Ärmsten war dabei so wunderlich und weh ums Herz, als wäre um ihr ganzes Fühlen und Denken ein Dornenkränzlein geflochten. Sie wußte nicht warum, aber eine tiefe Wehmut ergriff sie; sie mußte an so vieles denken. Eine weite Landschaft tat sich vor ihren Blicken aus. Sie war ganz allein in der Landschaft, und die Landschaft war einsam und leer und trostlos; nur jenseits des dunklen Waldes, der den Horizont abgrenzte, stand ein verheißungsvolles Licht ... Ach, wer da hineinfliegen könnte ...! – aber ihr waren keine Flügel gewachsen, und sie konnte nur tränenfeuchten Blickes hineinsehn ...
So saß sie wohl eine Stunde und länger und sah auf das erleuchtete Fenster, hinter dem sich hin und wieder zwei glückliche Menschenkinder bewegten.
Jetzt verlöschte der Lichtschein.
Da schlug sich die arme Tanzmamsell die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. –
Die Tanzstunden nahmen ihren ruhigen Fortgang, und Joseph von Arimathia ging mit verbissenem Gesicht umher, konnte die ihm durch Doktor Steinberger angetane Schmach nicht vergessen, sorgte aber im stillen dafür, daß die leidige Affäre zu Ohren des Generalvikarius in Münster gelangte, während Miekske sich mit der gescheiterten Hoffnung, Tante zu werden, abfinden mußte, eifrigst ihrer Nähschule vorstand und gewissenhaft dafür sorgte, den Inhalt der ›Malör-Penning-Kasse‹ immer mehr in die redlich verdiente Blüte zu bringen. In dieser Hinsicht hatte die sonst so gutmütig veranlagte Person kein Erbarmen. Jede Ungebühr wurde, ohne lange Fisematenten zu machen, verkupfert, und da Miekske durch regelmäßige Übung so hellfindig wie eine flinke Küchenschabe geworden war, so wurde auch der geringste Verstoß gegen die Nähschulordnung in Tribut und Verpflichtung genommen, denn soviel stand fest: trotz der ganz miserablen Lage der Kirche, trotz des durch die Wicken gegangenen Ingelaat'schen Kapitals – in diesem Jahre war sie nicht mehr gesonnen, den Inhalt der ›Malör-Penning-Kasse‹ zu opfern. Und wie auch Therese und die Frau Rektorin Hartjes ihr vorstellten, der veränderten Sachlage Rechnung zu tragen, Miekske blieb standhaft: kein Kastemännchen wurde für kirchliche Zwecke verwendet. Sie wollte sich doch auch amüsieren und den im verflossenen Jahre sistierten Ausflug in diesem Sommer doppelt und dreifach begehen. Das war sie nicht nur sich, sondern auch ihren kleinen Untergebenen schuldig. Zudem hatte ihr Bruder Karlo Antonio bereits eine herrliche Festwiese in Aussicht gestellt, wo alles so feierlich und pompös hergehen sollte, als wäre Miekske in das hundertste Geburtsjahr getreten, ein Vorhaben, das besonders Therese von Arimathia absolut nicht zu billigen vermochte, zumal die Drangsalierung der Geistlichen immer unverschämter und bedrohlicher wurde. Dunkle Schatten legten sich überall hin und bedeckten vornehmlich die niederrheinische Erde. Neue Maigesetze standen in Sicht. Die verflixten Landräte und die verfluchten Kerle in Berlin machten schon Miene, sich vor den Brotkorb der Geistlichen zu spannen und ihn mit Hallo außer Greif- und Sehweite zu fahren. Alle gläubigen Herzen standen unter dem Druck banger Erwartung. Wo sollte das hinführen – und was sollte alles noch kommen?! – Natürlich ließen es die Gemaßregelten an Gegendemonstrationen nicht fehlen. Eigenwillige Köpfe verfielen dem Scherbengericht. Johannes Wesselink, der Kerl mit der preußischen Staatsreligion, wurde geächtet, und das von Rechts wegen, denn sein ganzes Verhalten, seine liberalen Ideen, seine Stellungnahme während des kirchlich-politischen Haders – alle diese Dinge genügten, im klerikalen Heerlager gegen ihn mobil zu machen und das ›Philister über dir‹ mit schallender Kriegstrompete gegen seine Haustür zu blasen. »Wie sich das gehörte,« meinte Frau Hoffmann. Warum auch unterfing sich der Mensch, eine schon halb für den geistlichen Stand prädestinierte Person als seine Hausfrau zu nehmen und mit einem Kapital, das, genau besehen, eigentlich der Kirche und milden Stiftungen zukam, so zu schalten und zu walten, als ob es sein eigenes wäre?! Das war doch schon die höhere Frechheit, erinnerte an Freimaurerhochmut, wie Pitt Hoffmann sich ausdrückte, und drängte gebieterisch darauf, ihm etwas auf die Finger zu kloppen und seine Ehefreudigkeit so'n bißchen tiefer zu hängen. Und wie auch der mildgesinnte Doktor Steinberger abmahnen mochte, wie sich auch Rektor Hartjes, Leopold Derksen und der Posthalter Herr Severin Piepmann auf die Seite des Geächteten stellten – der Stein war ins Rollen gekommen und näherte sich in bedrohlicher Weise dem jungen Liebesglück und dem Anwesen Wesselinks, der das ferne Grollen und Murren nicht unterschätzte und bedenklichen Sinnes, wenn auch selbstbewußt und mit ausgestemmten Ellenbogen, in die Zukunft hineinsah. Maulwurfsarbeit ist eben Maulwurfsarbeit! – und so ein dunkles Miniergeschäft, so gehässig und kleinlich es auch nur immer sein mochte, es blieb immer ein Miniergeschäft, dem die Kraft innewohnte, auch den sichersten Schritt in ein gefährliches Straucheln zu bringen. Neue Bestellungen blieben aus, alte Aufträge wurden zurückgezogen – und als die Sonne schon kräftig genug war, den Schnee von den Dächern lecken zu können, lief ein Schreiben mit beigefügter Bleistiftnotiz vom Stadtrat im benachbarten Griet ein, in welchem Wesselink die Gerechtsame, die Balkensiele für die Entwässerung in der Stadtgemarkung zu bauen, kurzerhand und unter nichtigen Gründen aufgesagt wurde. Und die Bleistiftnotiz selber ...? Eine liebevolle Hand hatte sie in eine Ecke des Schriftstückes gekritzelt. Sie rührte vom dortigen Kirchenrendanten her, der gleichzeitig den Posten eines Bürgermeistereisekretärs versah und mit Therese Vogels verwandt war. Und als Johannes sie las ... da stand klipp und klar und deutlich geschrieben: »Wer sich 'nen Sack mit dreißigtausend Talern unter den Hintern schieben kann, soll auch anderen Leuten was gönnen. Sequestriertes Kirchengut macht nämlich so fett, wie 'ne Ratte fett wird, wenn sie in 'nem Faß mit ausgelassenem Talg sitzt. Die Lieferung auf Balkensiele bekommt Grades Gertzen. Im übrigen gute Verdauung.« Da fühlte Johannes Wesselink, wie sich ihm die Kehle verschnürte. Er stierte dumpf und stumpf vor sich hin, und Luise sah in ihrer Herzensnot, wie der Boden unter den Füßen ihres Mannes immer mehr ins Wanken kam, wagte es kaum, unter die Menschen zu treten, und wenn sie es nicht vermeiden konnte, tat sie es mit niedergeschlagenen Augen. Sie wollte die hämischen Blicke nicht sehen, die so billig und häufig geworden waren wie die übelen Nachreden, denen sie nicht mehr zu entgehen vermochte. »Da kommt die Frau vom [[??Nonneshannens??]] gegangen!« sagten die Kinder; das scheuchte sie auf, und sie flüchtete erregt an die Brust ihres Mannes. Der aber umfing sie mit kräftigen Armen, riß sie an sich und fragte mit tränenerstickter Stimme: »Willst du bei mir aushalten, Luise?«
»Ja, das will ich,« sagte sie leise und mit bitterem Herzweh – und dennoch: immer mußte sie an die Kinderstimmen und die Vergangenheit denken.
Sie hätte an der Brust ihres Mannes aufschreien mögen; sie hörte wieder die Glocken über dem Walde – gerade wie damals. Und der Duft des blühenden Korns wehte von den Getreidefeldern herüber – und der Atem eines anderen berührte sie – und die Sonne war untergegangen – und die Nacht stieg herauf mit ihren schwülen Aromen ...
Der Verführer stand bei ihr. –
Pitt Hoffmann machte um diese Zeit eine pompöse Bewegung, trat auf die Türschwelle seines Hauses und sah zu, wie die Schneeschmelze von den Dachrinnen herabträufte, als der Zimmermeister Gertzen mit Schurzfell und einer Handsäge vorbeiging.
»Na, Grades,« rief Pitt Hoffmann ihn an, »wie ist das mit die Balkensiele geworden?«
»Ausnehmend – über alle Erwartung!« entgegnete Gertzen, »und ich freue mir kolosal, daß der Kerl mit die große Reputatschon neben den Leimpott gegriffen hat. Warum denn? – Weil ich die Balkensiele bekomme, und das bedeutet 'ne kolosale Satisfaktschon für die katholische Kirche. Das ist gar nicht abzumessen die Sache; das gibt 'ne ganze Revolutschon in die preußische Monarchie – und ich frage: warüm denn? – Weil mein Konkurrenzmann der neugebackenen Staatsreligion anhängt, und ich den ultramontanen Standpunkt vertrete. Und, Pitt, du sollst sehn – was da noch all hinterherkommt ... Da muß man zwei Zimmermannsbleistifte verschreiben, um das aufzunotieren.«
»Und wer hat die ganze Sache so proper gedeichselt?« fragte Pitt Hoffmann, indem er den rechten Plattfuß vorstellte und Anstalten machte, sich selbstgefällig in den schlenkrigen Hüften zu wiegen.
»Nu – ich dächte: ich bin doch auch nicht so ohne, denn jetzt bin ich der Kerl mit dem grindigen Schnabel geworden; dem Verdienst seine Krone. Ich bin berechtigt, mir fühlen zu dürfen.«
»Du?« fragte Pitt Hoffmann, und sein glattrasiertes Gesicht nahm einen Zug an, als habe er klitzekleine Mäusekorinthen in seiner Graupensuppe gefunden.
»Wieso denn?! – ich habe doch meine Reputatschon als Zimmermannsmeister.«
»Du?« fragte Pitt Hoffmann noch einmal.
»Natürlich. Wer hätte mir sonst mit die Balkensiele beauftragt?«
»Ich,« sagte Pitt Hoffmann und schlug sich dabei auf sein gestärktes Schemischen, daß es ordentlich einen energischen Knall gab, »und das nur allein, um dem Nonnenhannes einen Tort zu erweisen.«
»Das freut mir aber kolosal,« entgegnete Gertzen. »Ich glaubte bisher, du wärest nur für die toten und nicht für die lebendigen Menschen zu haben. Ich frage: warüm denn? – Weil ich die Meinung vertrete, daß du dein Brot nur unterm Sargdeckel hervorholst.«
»Wenn auch,« erwiderte Pitt, »aber ich habe auch ein Herz für wirklich reelle Leute, und darum bin ich für dich mit meiner ganzen Position in die Verlängerung getreten, und wäre es zum Schlimmsten gekommen – mein Freund Karlo Antonio Pollmann hätte mobil gemacht und wäre mit seinem heiligen Zuavensäbel dazwischengefahren.«
»Das freut mir aber kolosal,« sagte Gertzen und schnipste sich mit seinem Zeigefinger einen wasserhellen Tropfen von der Nasenspitze herunter.
»Außerdem kannst du dich bedanken bei deiner Schwägerin Therese Vogels und dem Herrn Vikarius. Was die Menschenmöglichkeit war, haben diese beiden geleistet – selbstverständlich, wenn ich meine eigene Person außer Beobachtung lasse.«
»Dann bedanke ich mir jetzt schon,« erwiderte Gertzen und hielt ihm die verschwielte Rechte entgegen.
»Nichts zu danken,« versetzte Pitt Hoffmann, »und wenn du dich proper im Geschirr hältst, dann kann es noch immer passieren ...«
Mit einer geberischen Würde zeigte er aufwärts und sagte: »Da steht noch immer der mulmige Turmhelm.«
»Weiß ich.«
»Der muß nächstens herunter.«
»Weiß ich.«
»Und da kann es immer passieren, daß der Kirchenvorstand auf dich verfallen könnte, denn was meine Stimme anbetrifft ...«
Mit einer nicht mißzuverstehenden Geste ließ der Sprecher seine Augendeckel herunter.
»Aber Pitt, der Mensch mit der kolosalen Reputatschon ...!«
»Die wird ihm nächstens vom Leibe gerissen.«
»Und Doktor Steinberger ...?«
»Ach, der ...!« sagte Pitt Hoffmann in wegwerfendem Ton, »der hat zulängst auf seiner patriotischen Friedensklarinette geblasen.«
»Warüm?«
»Weil ihm der Generalvikarius nächstens die patriotische Blasepfeife entzwei schlägt. Wir können nur ultramontane Klarinetten gebrauchen. Joseph von Arimathia hat ihm die Sache gestochen, denn es sind hier heidenmäßige Zustände gewesen.«
»Pitt, das würde mir aber ausnehmend freuen, wenn ich den Kerl mit der kolosalen Reputatschon von seinem Thronsitz herunter bekäme. Das wäre nicht allein für mir, sondern das wäre auch 'ne große Satisfaktschon für die katholische Kirche.«
»Wirst du die Sache aber auch leisten können?« fragte Pitt Hoffmann.
»Ich?« erstaunte sich Gertzen und schnipste wieder einen wasserhellen Tropfen von seiner Nasenspitze herunter. »Ich frage dir bloß: hast du jemals 'nen Kerl gesehen, der Karnickels mit lebendigem Leibe verfuttert?«
»Ja – auf der Kirmes.«
»Und solche, die aus 'nem Hut fünfundzwanzig Ellen seidenes Band, acht Blutwürste, hundert Appelsinen, zehn Unterhosen, 'nen singenden Kanarienvogel nebst Käfig und Inhalt, zwei weibliche Busenkorsetter und schließlich noch – alles aus dem nämlichen Hut – 'nen karpaunierten Hahn mit krähender Stimme herauszaubern können?«
»Ja,« sagte Pitt Hoffmann, wußte aber nicht, wo der alte Prahlhans hinauswollte.
»Dann sind wir Dakohr,« erwiderte Gertzen, »und ich frage: warüm denn? – Weil diese Kerls ihr Handwerk verstehen, und was die mit die Hüte und die Karnickels vermögen, das bringe ich auch mit dem Turmbau zuwege. Meinen Konkurrenzmann bin ich schon immer mit's Können über gewesen, aber gegen seine kolosale Reputatschon habe ich bisher nicht anstinken können, denn so 'ne Reputatschon ist ein merkwürdiger Vogel – und ich frage: warüm denn? – Sich mal: der eine macht Brötchen mit die feinsten Korinthen dazwischen – und sie werden ihm altbacken. Der andere macht Wassersemmel mit Fliegendreck drauf – und sie gehen ab, als wären es Zuckerbrezel gewesen, alles nur deshalb, weil er die kolosale Renomasche gekauft hat. Und ich danke dir wirklich, daß du endlich dem Kirchenvorstand klar gemacht hast, daß Korinthenbrötchen besser schmecken als erbärmliche Wassersemmel, die außerdem noch Fliegenpunkte besitzen.«
»Hab's gerne getan,« sagte Pitt Hoffmann. »Indessen und dennoch – ich komme mir im vorliegenden Falle ungefähr so vor wie unser lieber Herr Jesus Christus am Kreuze.«
»Warüm denn?« fragte der Alte und schnipste sich zum dritten Male 'nen hellen Wassertropfen von der Nasenspitze herunter.
»Hat Christus nicht allen geholfen?«
»Natürlich.«
»Und hat er sich selber geholfen?«
»Nein,« sagte Gertzen.
»Also ...!« dozierte Pitt Hoffmann. »Habe ich dir nicht geholfen?«
»Stimmt,« sagte Grades.
»Habe ich in Verbindung mit Joseph von Arimathia nicht Miekske ihrem Bruder geholfen, um ihn Rentmeister werden zu lassen? – und dabei die große Ovation vor dem Posthaus ...«
»Stimmt,« nickte Grades.
»Aber ich,« sagte Pitt Hoffmann, und er machte dabei ein so pompöses und doch so ein wehleidiges Gesicht, wie er es zu machen gewohnt war, wenn er bei einem Begräbnis die Leidtragenden invitierte, näher an die offene Grube zu treten, »aber ich – ich kann mir selber nicht helfen, gerade so wie Jesus Christus nicht helfen.«
Mit verwässerten Augen sah er zu Boden und zählte die Ritzen, die sich in der Schwelle befanden.
»Warüm nicht?« fragte der Alte.
»Stirbt einer?« meinte Pitt Hoffmann. »Wird einer begraben? – So'n Toter ist rar wie 'ne weiße Ratte geworden. – Bis heute hundertfünfundsiebzig Taler fünf Groschen Manko gegen das Vorjahr, und wenn meine Frau mit ihrer medizinischen Wachstuchtasche nicht wäre ... Ich für meine Person kann doch keinen vergifteten Weizen ... hoffe aber noch immer, daß Henn Seegers und Fritz van de Horst ... Diese Kerle sind schon lange fällig geworden.«
»Du!« lachte der Alte, »Pitt, wenn du sonst nichts zu begraben hast – diese kolosale Hoffnung kannst du einbalsamieren.«
«Wieso denn?«
»Schnaps,« sagte Grades, »Boonekamp, den saufen die Kerls, und der präpariert alle menschlichen Kadavers, und wenn es die schlechtsten wären. Warüm? – das hab' ich mal an meiner eigenen Schwiegermutter erfahren, denn die Dökters sagten: Morgen brauchen wir uns weiter nicht zu bemühen. – Ja – piepe, denn wann ist sie alle geworden? – Drei Jahre nachher auf Johanni – und das ist 'ne kolosale Reputatschon für den Boonekamp of Magenbitter gewesen, und die nämliche Sorte ...«
»Himmel Zackerment noch einmal!« meinte Pitt Hoffmann, »da sollte man ja den Kerl, der das Zeug in Destillation hat, mit seiner eigenen Bouteille ...«
Der Mann mit den Plattfüßen und der geberischen Würde war nahe daran, seine unerschütterliche Ruhe beiseite zu werfen, wäre nicht in diesem Augenblick ein Zimmergesell zu ihnen getreten, der seinem Äußeren nach direkt von der Arbeitsstelle herkommen mußte.
»Buschur,« sagte er mit einer gewissen Erregung.
»Was los, Dores?« fragte ihn Gertzen.
»Ich mache ›blau‹,« war die lakonische Antwort, »und will mir verändern.«
»Und da bist du auf mir – auf Grades Gertzen verfallen?«
»Ja woll.«
»Aber ich dächte, du wärest noch bis heute bei meinem Konkurrenzmann in Stellung gewesen?«
»War ich – aber meine Frau hat gesagt: Dores, so geht das nicht weiter, weil der Herr Vikar von der Kanzel herunter gemeint hat, wir dürfen nur von wirklich christkatholischen Meisters Logis und Gelder beziehen.«
»Ich also zu Wesselink und sage: Tag, Baas, so geht das nicht weiter. Zu solche Meisters, wie Sie sind, gehören calvinsche Gesellen. Da ich mich aber zu's Katholische bekehre, Sie sich aber mit die preußische Religiosität befassen, so bin ich genötigt, ›entweder – oder‹ zu sagen.«
»Bravo!« bemerkte Pitt Hoffmann.
»Ja,« bekräftigte Dores, »ich habe mir die Freiheit genommen und bin ihm dabei forsch unter die Augen getreten. Entweder, hab' ich gesagt, Sie lassen Ihr nonnenhaftes Verhältnis schießen und schwören sich von der neuen Religion los, oder ich beziehe mein Salär von heute ab von einer anderweitigen, aber 'ner katholischen Stelle.«
»Bravo!« sagte Pitt Hoffmann, »besonders das mit dem nonnenhaften Verhältnis. Gut – sehr gut.«
»War's auch, weil's ihn gefuchst hat,« entgegnete Dores, »ganz barbarisch gefuchst hat, denn er nahm ein Beil, hielt's mir unter die Nase und kühmte: Euch Kerle sollte man ja dieses Eisen ... und dann warf er's mit 'ner grandiosen Forsche in 'nen Tannenbalken hinein, daß es man so blitzte und krachte. Da hab' ich gesagt: Adjüs, Nonnenhannes – und bin hierher gegangen.«
»Brav so!« meinte Pitt Hoffmann.
»Ich nehme dir per sofort,« konstatierte der Alte, »und ich frage: warüm denn? – Weil das 'ne kolosale Satisfaktschon für mir und die katholische Kirche bedeutet. Das gibt 'ne ganze Revolutschon in die preußische Monarchie, denn nu sind wir die Kerle geworden.«
»Sind wir,« sagte Pitt mit einem Gesicht, als könne er Berge versetzen, drehte sich halbwegs um und rief über die Schulter: »Mama, drei Wacholder!«
»Wie sich das gehört,« meinte Frau Hoffmann, die im Hausflur erschien und die Herren freundlichst ersuchte, die Gute Stube beehren zu wollen.
»Höhö, Nonnenhannes ...!« lachte der Alte, als sie die Wohnung betraten. –
Und das Beil ...?
Da stak es noch immer. Fingertief hatte sich die bissige Schneide in den harzigen Balken gefressen und sah mit blankem Auge auf Johannes Wesselink, der mit zerrissenem Herzen davor stand und sich vergegenwärtigen mußte, was soeben passiert war. Nur mit Mühe geschah es; es kam ihm schwer an, seine Gedanken zu ordnen.
Drüben standen die anderen Gesellen; sie taten, als wenn sie nichts gesehn und gehört hätten. Sie schafften wie an den übrigen Tagen. Monoton klang die taktmäßige Arbeit ihrer scharfen Beile herüber. Es war ja eigentlich auch gar nichts geschehen. Daß ein unzufriedener Geist seinem Brotherrn aufkündigte, konnte nicht allzuschwer in die Wagschale fallen. Es gab auch sonstwo rebellische Köpfe; aber das fühlte Johannes: es lag Prinzip in dem ganzen Verhalten seines ersten Gesellen – und dieses Prinzip war nicht auf dessen Grund und Eigen gewachsen. Es war von auswärts gekommen, und in dieser Erkenntnis lag für ihn das Quälende und Niederziehende des soeben Durchlebten. Von diesem Durchlebten strömte eine gebieterische Macht aus. Die zeigte nach unten, und da sah auch er, wie der Boden wankend wurde unter seinen eigenen Füßen. Und das Beil in dem liegenden Baumstamm ...! – Wie es aufblitzte mit seinem gierigen Auge und sich gleichsam freute, sich eingefressen zu haben in die Masern des widerspenstigen Holzes! – Ach, wenn man es doch so hineintreiben könnte in die Machenschaften jener düsteren Kräfte, die sich anschickten, immer tiefer in die Herzen und Seelen der niederrheinischen Menschen zu kriechen ...! Johannes Wesselink stieß einen verhaltenen Laut aus. Eine quälende Unruhe beschlich ihn. Er horchte, als müsse er die Schritte des Glückes vernehmen. Aber das Glück kam nicht; keine Tröstung stellte sich ein. Da wandte er sich – und wie er sich wandte, da sah er das liebe Gesicht der Tanzmamsell hinter den Scheiben.
War das das Glück?
Er schüttelte langsam den Kopf; dann verließ er gesenkten Hauptes den Zimmerplatz und ging den nahegelegenen Wiesen zu, um sich dort Ruhe und Vergessen zu holen. Er schritt mit seinen Gedanken über den mächtigen Deich, den auch Joseph von Arimathia gegangen war, als auch er in seiner wirren Gedankenflucht sich die nötige Ruhe zu holen gedachte. Aber ihr Denken war verschieden – gänzlich verschieden gewesen.
Und Johannes Wesselink hob den Kopf und sah in die Landschaft.
Da lag sie vor ihm: die weite Ebene, das Land seiner Kindheit und des Mannesalters, die träumerische Erde, die ihm sein Weib gegeben hatte – und sie lag da in ihrem winterlichen Kleid, aber mit einem Gesicht, in dem schon die Ahnungen des kommenden Frühlings erwachten. Weiße Decken überspannten die Niederung; nur ab und zu drängten sich grüne Streifen ans Licht, und die Pfriemenschöpfe der alten Kappweiden standen ernsthaft dazwischen und wunderten sich, daß sie noch immer weiße Perücken trugen und noch keine grünen Häubchen bekamen. Aber die Schneeschmelze tropfte bereits wie große Tränen an der rissigen Borke herunter.
Feierlich stakelten etliche Windmühlen mit ihren langen Armen durch die ruhigen Lüfte. Ein seltsamer Duft lag über den schneeblauen Wäldern von Moyland.
Von dorther kam ein dunkler Punkt, der größer und größer wurde. Jetzt schwamm er fast regungslos und in großen Kreisen als Vogel dem einsamen Menschen zu Häupten. Es war ein Edelfalk, der dort oben revierte.
Mit einer wunderlichen Traum- und Nebelstimmung sah Johannes über die noch schlummernde Erde.
Bald mußte sie erwachen.
So war das immer gewesen.
Die große Angelusglocke brummte von Sankt Nikolai herüber – und wie sie herüberbrummte, da glaubte er, ihre Stimme vermöge das schlafende Leben zu wecken, denn wie er zu Boden schaute, begegnete er lieblichen Blicken ...
»Himmelsschlüssel ...!« sagte Johannes.
Wirklich – die Heimat erwachte! – Ja, sie erwachte mit ihrer Reinheit, mit ihrem Zauber, mit ihren Stimmen, so lieb wie die Stimmen der Kinder, die da beteten, bevor sie zum Abendmahl gingen.
Die Heimat sprach zu ihm.
Und er streckte die Arme.
»Und für das hab' ich auf den Höhen von Spichern gestanden,« sagte er tonlos, »und das möchte ich nicht mehr missen im Leben. Und für das ist Gerhard Brükers gefallen – und für das und für die Einheit des Reiches haben so viele die Arme gen Himmel gestreckt und gerufen: Adieu, Vater, adieu, liebe Mutter! und sind dann kopfüber getaumelt in den blutigen Rasen ... Es lebe die Heimat ...!«
Er sprach nicht weiter.
Über ihm stieß der Edelfalke einen heiseren Schrei aus. Krähengezücht und Dohlenvögel hatten sich an ihn gemacht und suchten, ihm die Flugkraft zu nehmen. Noch war er ihrem Angriff gewachsen, aber die schwarzen Vögel mehrten sich ständig. Wie eine dunkle Wolke stießen sie auf den königlichen Flieger und hüllten ihn ein. Noch ein verzweifelter Schrei – dann ging es talwärts. Langsam senkte sich die dunkle Wolke zu Boden. Hinter fernen Pappelkronen verschwand sie.
Und Johannes sah es und fühlte die Bedeutung des Vorgangs.
Florigen Auges sah er über die weißen Decken der Niederung und sagte: »Und das soll Schnee sein, und was dazwischen herauswill, das soll Hoffnung und Frühlingsfreude bedeuten?«
Er lachte bitter auf.
»Das ist kein Schnee nicht, das sind keine Himmelsschlüssel,« meinte er schließlich. »Das sind Sterbelaken, die ein unversöhnlicher Geist über die Erde gespreitet, und Totenlämpchen, wie sie brennen am Tag Allerseelen, aber keine Primeln – ich weiß doch, wie sonst die Himmelsschlüssel mich grüßen.«
Er war weiter gegangen, aber hier draußen hatte er auch nicht den ersehnten Frieden gefunden. –
Und die Tage vergingen.
Die fröhliche Fastnacht war nicht mehr fern.
Die alte Baronin pfiff noch immer zum Tanz auf, und Bettje Theißen schlug dazu das Triangel mit stiller Andacht und großen Augen. Und Julius Hoffmann sah allabends durch die erleuchteten Scheiben und konnte sich nicht satt sehn an all der Herrlichkeit und den tanzenden Paaren.
Und eines Tages bestimmte die Tanzmamsell: »Übermorgen ist Schlußball.«