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Zwei Tage hintereinander waren die Fensterscheiben an der Posthalterei völlig geblendet. Nur in die Stube, rechts neben der Haustür, wo der expedierende Sekretär seinen Arbeitsraum hatte, ließen die schräggestellten Jalousieläden noch eine Art von Dämmerlicht einfallen, das aber kaum hinreichte, die allernotwendigste Helle zu geben. Der Herr Sekretär Severin Piepmann hatte denn auch Mühe genug, die laufenden Arbeiten pflichtschuldigst zu erledigen. Aber er tat es, und während er die diversen Pakete ordnete, die Briefe sortierte, abstempelte und Kasse machte, pfiff er immer und immer wieder von neuem: »Es geht bei gedämpftem Trommelklang ...« und zwar so wehmütig, getragen und in düsterem Moll, daß die Leute, die ihre Korrespondenzen in den Briefkasten warfen, längere Zeit stehen blieben, um sich von der traurigen Weise durchschauern zu lassen.
Am Morgen des dritten Tages, und zwar punkt neun Uhr, schlug die große Totenglocke an. Dreimal schlug sie an mit ihrer feierlichen und sonoren Stimme, um dann von der Sankt Antoniusglocke, Preziosa und Anna Susanna begleitet zu werden. Anna Susanna tat nur mit, wenn eine Persönlichkeit begraben wurde, und ihr schmerzlicher Ruf kostete drei Taler extra.
Als das Sterbegeläut einsetzte, stempelte Severin Piepmann den einundzwanzigsten Brief ab und pfiff dann: »Ich, aber ich traf ihn mitten ins Herz.« Hierauf ließ er den Schalter herunter und ging nach Hause, um sich für das Begräbnis fertig zu machen.
Bei dem ersten Anruf der großen Totenglocke war Pitt Hoffmann auf der obersten Stufe seiner Haustreppe erschienen. Hier blieb er für einige Augenblicke stehen, damit alle es merken sollten, was er doch für ein stattlicher Kerl sei. Auf dem blankrasierten Gesicht, das so proper wie ein frisch gebügeltes Schemischen aussah, lag die große Not und die ganze Kümmernis des heutigen Tages verkörpert. Trotzdem vergaß er nicht, die Würde seines übrigen Menschen gehörig in die rechte Beleuchtung zu setzen. Pitt Hoffmann posierte – stellte den linken Plattfuß etwas zur Seite und wiegte sich, den Zylinder unter fünfundzwanzig Grad nach rechts geschoben, selbstgefällig in den mageren Hüften. Fünf Minuten mochte er so gestanden haben, als er den flottierenden Trauerflor mit seinen schlenkrigen Fingern unter der linken Achsel durchzog und keck über den gekrümmten Arm praktizierte; gleich darauf nahm er den Medaillenstab fester zur Hand, stieß ihn taktmäßig auf und stolzierte dem Sterbehaus zu, um hier auf der Türschwelle die Honneurs für die geladenen Gäste zu machen.
Die Herren Geistlichen kamen, die Leidtragenden kamen; selbst Miekske Pollmann hatte sich von etlichen Mädchen in ihrem Korbwägelchen ankutschieren lassen. Sie wollte doch Zeuge sein, wie Naatje Ingelaat von der schönen Posthalterei fort mußte und in die ›Pierekull‹ getan werden sollte.
Schlag Glock halb zehn setzte sich der Trauerzug in Bewegung.
Frau Rektor Hartjes, geborene Worms, verwitwete König, stand am geöffneten Fenster, als Naatje vorbeikam. Trotz ihrer fünfundvierzig Jahre war sie noch immer eine stattliche, man konnte fast sagen eine üppige Dame, die vornehmlich in sommerlichen Tagen, wo sie gewohnt war, eine dünne Kattuntaille zu tragen, noch Reize besaß, die nicht zu den alltäglichen gehörten. Ein allerliebstes Speckfältchen zog sich zu beiden Seiten des Halses bis zu dem niedlichen Grübchen herab, das sich unmittelbar über dem respektabelen Enkörchen ausgehöhlt hatte. Hier trieb denn auch so ein winziges Goldkreuzchen sein launiges Spiel. Es hob oder senkte sich, je nachdem das Innere der Frau Rektor mehr oder weniger freudig angeregt wurde. In ihren blankgeputzten Augen lag Selbstvertrauen und Würde. Selbstvertrauen, weil sie das von jeher gewohnt war; Würde, weil das zu ihrem Metier gehörte, denn sie konnte sich rühmen, Präsidentin des Paramentenvereins zu sein und die Bruderschaft zur ewigen Anbetung gegründet zu haben. Frau Rektor Hartjes war zudem ein Kirchenlicht, aber ein langes, großes, dickes, das fast mit einer souveränen Verachtung auf Andersgläubige herabschien, sobald es angesteckt wurde – und dieses Kirchenlicht stand nun am Fenster und sah, wie der arme Posthalter vorbeikam.
Sie ließ denn auch alle, Honoratioren und nicht Honoratioren, Revue passieren. Zuerst kam Pitt Hoffmann – aber wie! – Das war verkörperte Wehleidigkeit, in sanftem Tempo dahinschreitende Trauer! Er vereinigte in sich die Allüren eines gespreizten Hofmarschalls und das sanfte Benehmen, die geberische Güte eines Beichtvaters. Er war ein rätselhaftes Wesen, eine Art von Schmierenreporter, ein Großhans, eine klagende Sphinx – Pitt Hoffmann war alles. Ihm folgte die Geistlichkeit. Dann kam der Leichenwagen und das Trauergefolge und ganz zuletzt Severin Piepmann, der noch immer nicht begreifen konnte, daß sein Herr auf den Kirchhof hinaus sollte. Er vergaß sich denn auch und pfiff immer und immer wieder »Es geht bei gedämpftem Trommelklang ...« gegen die Pflastersteine, aber so laut und getragen, daß es auch die Frau Rektorin hören mußte.
»Gefällt mir nicht,« sagte diese indigniert, und sie gedachte schon, vom Fenster zurückzutreten, als sie Frau Pitt Hoffmann bemerkte, die von einem Geschäftsgang zu kommen schien und eiligst mit ihrem schwarzen Täschchen aus Wachstuch nach Hause wollte.
Die kam ihr gelegen.
»Einen Moment, meine liebe Frau Hoffmann!«
»Gerne, Frau Rektoratschülerin,« sagte das vive, pummelige Weibchen, trat in den Hausflur und von hier in die behagliche Stube.
»Ei, schon so fleißig gewesen?«
»Wie sich das so gehört, meine verehrte Frau Rektoratschülerin. Heute morren so um viere 'rum die Frau evangelische Pastorin bedient – 'ne feine Sache, wie wir Wehmütters das heißen – und nu bin ich von Anna Derksen gekommen.«
»Aber ich bitte Sie, meine liebe Frau Hoffmann, doch nicht dem Schmied Derksen ...!«
»Ja – dem Schmied Derksen seine älteste Tochter.«
»Die damals – ich meine, als der Herr Vikarius Sauerbier ...«
»Dieselbigte Anna.«
»Wie ist das nur möglich?!« entsetzte sich Frau Hartjes und schlug vor lauter Erstaunen die Hände zusammen. »Wie ist das nur möglich?!«
»Alles ist möglich,« war die ruhige Antwort.
»Und da haben Sie ...?! – Aber das muß ich näher wissen, das muß ich genauer erfahren ... Bitte, meine liebe Frau Hoffmann, wollen Sie nicht Platz nehmen und sich meines Sofas bedienen.«
»Wie sich das gehört, meine verehrte Frau Rektoratschülerin,« sagte die rundliche Person, stellte ihr Wachstuchtäschchen auf den Tisch und schickte sich an, ihre kompletten Sitzteile in eine bequeme Sofaecke zu schieben.
»Eins zuvor,« meinte Frau Hartjes.
»Bitte,« sagte das rundliche Weibchen und schnellte wieder wie'n Gummiball von dem bereits halbeingenommenen Polster.
»Sehn Sie mal, meine Beste,« erklärte Frau Hartjes, »Sie nennen mich immer ›Frau Rektoratschülerin‹. Das stimmt nicht, das entspricht nicht den wirklichen Tatsachen. Mein Mann ist allerdings Rektor; das Institut, dem er vorsteht, heißt Rektoratschule, und ich kann daher füglich auf den Titel ›Frau Rektorin‹ Anspruch erheben. Falls Ihnen nun dieses zu fern liegt, so bitte ich Sie, mich einfach Frau Präsidentin zu nennen. Die Damen der ewigen Anbetung nennen mich so, Miekske Pollmann tut es, und der Herr Vikarius Sauerbier gibt sich gleichfalls die Ehre – und, Hand aufs Herz, ich schmeichle mir, dieses Titels nicht unwert zu sein, denn, wie Sie selber wissen, bin ich bei der letzten Firmelungsfeier dem hochwürdigen Herrn Bischof als Präsidentin des Paramentenvereins vorgestellt worden.«
»Aber ich bitte Ihnen,« meinte Frau Hoffmann, »das tu' ich ja gerne,« und damit machte sie sich's wirklich bequem auf dem gemütlichen Sofa.
»Und nun – wie ist das mit der Anna Derksen gewesen?« sondierte ihre Partnerin, die sich gleichfalls niedergelassen hatte und ihr Goldkreuzchen zurechtwies, das vorwitzig in den Busen herabrutschen wollte. »Keine pure Neugierde läßt mich diese Frage tun,« fuhr sie erläuternd fort, »sondern lediglich meine Pflicht, mein Recht und meine Stellung als Präsidentin genannten Vereins, der nur unbescholtenen Frauen und Jungfrauen die Mitgliedschaft gestattet. Wie Sie ja wissen, ist Anna Derksen bislang ein regsames Glied meines Vereines gewesen; allein unter den obwaltenden Umständen ... Also – wie ist nun die Sache?«
»Je – wie soll die nu sein!« meinte Frau Hoffmann. »Die Anna ist ja wohl von jeher so'n rassiges Frauenzimmer gewesen. Mit dem Herrn Vikarius hat sie auch anbändeln wollen, als der noch so'n junger Student war.«
»Ist mir bekannt,« sagte Frau Hartjes, »aber der ist ihr bei diesem sträflichen Manöver schön unter die Augen getreten.«
»Wie sich das gehört,« replizierte Frau Hoffmann, »denn er ist immer ein selbstverleugnerisches und edles Faktotum gewesen. Aber was sie ist: sie hat wohl ihre alte Liebe vergessen und ist so dreißig Jahre drüber geworden, denn vor 'nem geweihten Menschen soll die Welt Estimierung besitzen – aber das Rassige, was ihr nu einmal im Blut sitzt, dem kann man nicht wie 'nem Kröpper den Hals umdrehn; das will an die Luft, das will Aufmunterung haben. So hat sie denn auch öfters auf der Bettkante gesessen und hat ihre Beine besehen, und wie sie so kuckte, da kuckte auch immer der erste Geselle Jans in die Stube, und wie das so ist: der hat Gefallen an ihre Beine gefunden, und dann ist das so weiter gegangen, bis ich ihr heute morren bedienen mußte, genau so wie ich mir bei der evangelischen Frau Pastorin bemühte.«
»Nur mit dem Unterschied,« fiel Frau Hartjes dazwischen, »daß die Frau Pastorin, wenn auch – leider Gottes! – keine christkatholische, so doch eine ehrlich getraute Person ist,«
»Wie sich das gehört, meine verehrte Frau Pergamentpräsidentin. Aber auch hier, gütigst zu melden, habe ich durch meine Fixigkeit 'nem properen Jungen das Leben gegeben.«
»Himmlischer Vater!« ereiferte sich die würdige Dame, »das ist ja Sünde, das ist ja eine nichtswürdige, himmelschreiende Sünde!«
»Für mir nicht,« entgegnete Frau Hoffmann mit einem etwas patzigen Tonfall, »denn ich beziehe aus diesem Geschäft meine tägliche Nahrung, und das tägliche Brot kommt von Gott, und was unser himmlischer Vater ...«
»Aber ich bitte Sie,« fiel ihr die Erregte dazwischen, »ich meine Sie ja auch gar nicht, meine beste Frau Hoffmann! Ich meine die andere – ich meine das sündige Mädchen ...! – Da muß ich eingreifen, das verlangt meine Eigenschaft als Präsidentin des Paramentenvereins, das gebietet meine Ehre als Vorsitzende der Bruderschaft zur ewigen Anbetung. Die muß mit Schimpf und Schande ...«
»Wie sich das gehört,« konstatierte Frau Hoffmann, »denn warum hat sie immer so im Hemd auf die Bettkante gesessen und hat sich ihre Beine besehen. Und Jans muß ihr heiraten, sonst muß Joseph von Arimathia ihm einheizen, daß er meint, er wäre schon jetzt in die überirdische Hölle gekommen.«
»Das muß er, das wird er,« sagte Frau Hartjes, und dann sah sie wie in Überlegung auf die Straße hinaus, wo die Schwalben ihr heiteres Spiel trieben und in zierlichen Schwenkungen an dem geöffneten Fenster vorbeischossen.
In diesem Augenblick tönte aus dem Nebenzimmer der muntere Gesang eines Stieglitz herüber.
»Ach, wie schön!« meinte das lebhafte Weibchen. »Das ist wohl ein Stieglitsch; der singt wohl den ganzen Morren so lieblich! – Und das ist immer von 'ner guten Vorbedeutung, denn mein Pitt sagt immer: Wenn so'n munterer Stieglitsch im Hause ist, dann leben die Eheleute lange zusammen.«
»Das gebe der Himmel!« sagte Frau Hartjes, »und ich wünsche zu Gott, er möge mir noch ein langes, gemeinschaftliches Eheleben mit meinem lieben Franziskus vergönnen, denn bei Lichte besehen: selbst Herr Ingelaat ist viel zu früh aus diesem Leben geschieden.«
»Viel zu früh,« konstatierte Frau Hoffmann. »Ich wüßte aber zu gern, wie sich das mit seinem Testament verhalten tun täte.«
»Nun ich dächte, die Kirche und diverse milde Stiftungen werden den Hauptteil erhalten.«
»Wie sich das eigentlich gehört, meine verehrte Frau Pergamentpräsidentin. Aber die Leute reden so viel. Es soll ein schweres Akkuschemang mit's Testament gewesen sein, und viele behaupten: Johannes Wesselink und Luise ...«
»Kaum glaublich,« sagte Frau Hartjes, »weil er doch wissen muß, wie die Kirche in Not ist, wie wir arbeiten und kämpfen müssen, um unsere milden Stiftungen über Wasser zu halten – und dann: er wird doch wohl an das ewige Leben gedacht und sich überlegt haben, wie Gott diejenigen belohnt, die in seinem Namen Gutes tun und die bedrängte christkatholische Kirche mit einem mildtätigen Scherflein bedenken.«
»Je,« machte die Kleine, »es gibt merkwürdige Leute auf Erden! – Indessen jedoch: was Ihr Herr ehelicher Mann ist, der könnte es wissen, denn er ist doch offenbarer Zeuge gewesen, wie Naatje ein langes Gesicht bekam und abrutschen mußte. – Aber nein, meine liebe Frau Pergamentpräsidentin, wie Ihr munterer Stieglitsch doch singt! Genau wie'n Paradiesvogel im Himmel! – Und nu muß ich gehn, denn Pitt kommt bald retour, und wenn er so mit 'ner kostbaren Leiche zu tun gehabt hatte, dann will er auch immer 'nen extra Kaffee vorgesetzt haben. Und daher ...«
Die pummelige Frau hatte sich aus ihrer bequemen Sofaecke erhoben.
»Grüßen Sie ihn vielmals von mir.«
»Wie sich das gehört,« sagte Frau Hoffmann, griff nach ihrer schwarzen Wachstuchtasche und ging mit einem äußerst vornehmen Diener nach Hause.
Der Stieglitz jedoch sang immer schöner und schöner, als sei er durch das große Lob von Frau Hoffmann in seinen Leistungen angeregt worden. Dabei lachte die liebe Morgensonne so heiter ins Zimmer hinein, daß selbst die alte Stutzuhr lustig wurde, ein Viertel nach zehn schlug und mit piepsiger Stimme einen Choral zum Besten gab, der so recht in diese schöne Morgenstimmung hineinpaßte. Sie war mit diesem Choral noch nicht ins Reine gekommen, als auch schon der Herr Rektor Hartjes vom Begräbnis zurückkehrte, seinen Zylinder auf das Schreibpult placierte und die schwarzen, baumwollenen Handschuhe auszog.
»Guten Tag, meine liebe Petronella,« sagte er hierauf. »Nun haben wir unsern gemeinsamen Freund zur ewigen Ruhe geleitet. Es war eine erhebende, es war eine würdige Feier da draußen. Der Männergesangverein ›Concordia‹ gab sein Bestes her, und der Herr Schreiner- und Zimmermeister Gertzen hatte einen Sarg geliefert ... Nein, ich sage dir, Petronella, der Mann hat sich selbst übertroffen.«
»So?!«
»Ja – der Mann hat sich selbst übertroffen. Und ich für meine Person habe mich abgefunden mit meinem Schmerz und meiner gedrückten Verfassung, denn ich weiß ja: er ist selig gestorben, er hat die Krone des ewigen Lebens gewonnen – und was sterblich von ihm war, dem wird die Erde leicht werden hienieden.«
»So,« sagte Frau Hartjes, »das weißt du so sicher?!«
»Ja, das weiß ich bestimmt, Petronella.«
»Wenn ich aber nun eine andere Ansicht vertrete ...«
»Was verstehst du darunter?« fragte der Rektor etwas befangen, war näher getreten und versuchte mit dem possierlichen Goldkreuzchen seiner Frau unauffällig in Berührung zu kommen.
»Bitte,« sagte Frau Hartjes in abweisendem Ton, »ich möchte mir zuerst eine Frage erlauben.«
»Und die wäre?« meinte der Rektor.
»Wie steht es mit dem Testament?«
»Mit welchem Testament?«
»Nun, mit dem Testament, was der Verstorbene vor Notar und Zeugen errichtet hat?«
»Wie soll's damit stehen, Petronella? Luise dürfte sich als Universalerbin betrachten, falls sie gewillt ist, mit Johannes Wesselink ...«
»Und wenn sie ihn nicht nimmt?«
»Dürfte ein großer Teil milden Stiftungen und der Kirche verfallen.«
»Und was gedenkt Luise zu tun?«
»Wie ich wohl annehmen kann: sie hofft mit Johannes Wesselink in den Bund der heiligen Ehe zu treten.«
»Und dann wäre alles für die Kirche, für eine gottwohlgefällige Sache verloren?«
»Allerdings.«
»So!« sagte Frau Hartjes und begann mit ihren blankgeputzten Augen ungemütlich herumzuwuschern, »und das sagst du so leichtfertig, als wäre die ganze Angelegenheit nur ein Kinderspiel, nur ein Garnichts gewesen. Ich muß mich höchlichst darüber verwundern, Franziskus, daß du nicht mal den Mut gehabt hast, dem Testament eine andere, bessere, ich möchte sagen eine christkatholische Wendung zu geben.«
»Aber wie sollte ich können ...?«
»Können?!« fragte Frau Hartjes. »Du bist doch in der letzten Stunde bei ihm gewesen, hättest ihm die Hölle heiß machen sollen, hättest ihm von der ewigen Gnade, von den Werken der Barmherzigkeit vorreden können ... Lieber Herrgott im Himmel da droben, warum bist du nicht auf diesen glücklichen Einfall gekommen?!« – Wie konnte der Verstorbene überhaupt eine so hartherzige und unüberlegte Handlung begehen?! – Und du ...«
Mit funkelnden Augen war sie näher getreten.
»Weil ich nicht wollte,« trumpfte ihr Mann auf, »weil ich das für richtig gehalten habe, was mein Freund Naatje getan hat. Und dann merke dir selber: De mortuis nihil nisi bene.«
Frau Hartjes schnappte nach Atem. Ihr üppiger Busen kam in eine nervöse Bewegung.
»Das Letzte verstehe ich nicht,« sagte sie bitter, »aber das Erste versteh' ich. So – das hast du also für richtig befunden?! – Das ist ja niedlich, das ist ja herrlich, das ist ja um die Kränke zu kriegen! Aber so seid ihr Männer all miteinander – und ich würde mich gar nicht darüber wundern, wenn die fromme Anna Derksen eines Tages zu mir käme und mir rundweg erklärte, sie sehe sich genötigt, gegen dich eine Alimentationsklage zu richten.«
»Aber Petronella ...!«
»Alles ist möglich, wie Frau Pitt Hoffmann gesagt hat,« fuhr nun die energische Dame auf ihren verschüchterten Mann los. »Alles ist bei euch Mannsleuten möglich: Bockssprünge und andere Sprünge, aber wo ihr wirklich entschieden eingreifen sollt, wo es heißt Farbe bekennen, für derlei Artikel seid ihr niemals zu haben.«
»Ich bin von jeher ein königstreuer Philologe ...«
»Ach was mit der Königstreue!« schnitt ihm Frau Hartjes das Wort ab, »Kirchentreue ist eine bessere Nummer, die wird höher bewertet – und da du in diesem Punkte so elend vor mir stehst wie'n Quartaner, der sein lateinisches Pensum schlecht memoriert hat, so bin ich leider genötigt ... Strafe muß sein; so bin ich leider genötigt ... Aber warte mal eben – das paßt nicht für andere Ohren ...«
Und damit ging sie hin und schloß unsanft das Fenster ... »So bin ich leider genötigt, meine Maßnahmen zu treffen.«
Mit ihrem Taschentuch wedelte sie sich hierauf die nötige Luft zu, um besser sprechen zu können.
Jetzt wußte der Rektor, was kommen würde. Er versuchte daher einzulenken und meinte: »Aber, Petronella, ich weiß wirklich nicht ... ich kann mich' absolut nicht besinnen ...«
»Das ist immer deine elende Ausflucht gewesen« versetzte sie bissig, »aber ich lasse mir nichts mehr gefallen. Heute mittag kommt Gertzen, und dann muß deine Bettstellage herunter.«
Sie hatte ihren höchsten Trumpf ausgespielt, wobei sie sich so energisch in ihre stattliche Brust warf, daß das kokette Goldkreuzchen einen verliebten Hopser riskierte. Der arme Rektor war an der empfindlichsten Stelle getroffen, versuchte aber doch, mit halbem Auge über den derben Reiz seiner Gattin zu streifen.
Das bemerkte denn auch Frau Hartjes, warf ihm einen verächtlichen Blick zu und meinte: »Du solltest dich schämen, Franziskus, und was das Testament anbetrifft: der Herr Vikarius wird der Medaille schon die richtige Seite abgewinnen. Ich gehe zu ihm.«
Damit war sie aus dem Zimmer gerauscht, warf sich in Hut und Mantille und ging geradeswegs zu Joseph von Arimathia.
Und dabei sang der Stieglitz so schön, und die liebe Sonne blinkte so munter in die Stube hinein, als sei gar nichts geschehen, als sei alles Frieden und Eintracht gewesen – und dennoch sollten es bald die Spatzen von den Dächern pfeifen, daß die eheliche Gemeinschaft im Rektorat auf drei Wochen hinaus in die Brüche gegangen war.
»Sic transit gloria mundi,« sagte Herr Hartjes und legte betrübt die Hände zusammen. –
Der Herr Vikarius Joseph Sauerbier, eben erst vom Begräbnis zurückgekehrt, hatte sich umgekleidet und war dann in sein Studierzimmer gegangen. Hier fand er zu seiner Stärkung eine Tasse Bouillon vor. Unter Zuhilfenahme eines Milchbrötchens stippte er die kräftige Brühe herunter. Hierauf setzte er seine lange Pfeife in Brand, machte es sich in seinem Weidenholzsessel bequem und begann, zierliche Rauchwölkchen gegen die Zimmerdecke zu blasen. Und die bläulichen Rauchwölkchen umspielten die weißen Mullgardinen, hinter denen Nelken und Geranien standen, krochen die Bücherregale entlang und legten ihre zarten Schleier um das blecherne Gehäuse der ›Malör-Penning-Kasse‹, die vorläufig noch inmitten des geräumigen Tisches placiert war. Der feine Varinaskanaster kräuselte dünne Lasuren über die grellilluminierten Tapeten, so daß sie nicht mehr so grobmusterig aussahn, und belebte die ganze Umgebung mit seinen starken Aromen.
Joseph von Arimathia kam in ein behagliches Träumen, schlug die Beine übereinander und trommelte die charakteristische Weise irgendeines Kirchenliedes gegen die Tischplatte, als die Haushälterin den Kopf durch die Tür steckte und den Besuch der Frau Rektor Hartjes anmeldete.
»Mir sehr willkommen,« sagte der Herr Vikarius, erhob sich und ging dem Besuch mit einem sehr angenehmen Lächeln entgegen.
»Herr Vikarius ...«
»Frau Präsidentin ...!« sagte Joseph Sauerbier mit salbungsvoller Betonung und machte Anstalten, sein Pfefferrohr auf den Pfeifenständer zu deponieren.
»Unter keinen Umständen, Herr Vikarius,« wehrte die würdige Dame ab, »wenn Sie nicht wollen, daß ich meinen Besuch auf das kürzeste Zeitmaß beschränke. Tabaksdampf aus einem geistlichen Munde kommt mir vor wie Myrrhen und Weihrauch.«
Über die Züge des kräftigen Klerikers glitt ein verbindliches Schmunzeln.
»Ich weiß Ihre feine Anspielung zu schätzen,« sagte er in gehobener Stimmung, nötigte seinen lieben Besuch auf einen Stuhl und setzte sich gleichfalls. Alsdann schlug er seine Beine wieder übereinander und fragte: »Und nun, meine hochverehrte Frau Präsidentin, was verschafft mir die Ehre?«
»Das ist mit wenigen Worten schwer auseinanderzusetzen,« meinte Frau Hartjes, »und Sie müssen mir schon gestatten, des längeren auszuholen, um auch das kleinste Titelchen in die rechte Beleuchtung zu stellen.«
»Ganz nach Ihrem Belieben,« entgegnete Joseph von Arimathia, »denn wie Sie wissen, meine hochverehrte Präsidentin, stehe ich immer willig und gern zu Ihrer Verfügung.«
Bei dem Wort ›Präsidentin‹ machte Frau Hartjes jedesmal eine leichte Verbeugung. Auch jetzt konnte sie es nicht unterlassen und warf ihm zudem noch einen recht liebevollen Blick zu.
»Da ist nun zuerst die äußerst fatale Geschichte mit der Anna Derksen,« begann sie. »Die Angelegenheit ist nicht so ohne weiteres tot zu machen und kurzer Hand zum alten Gerümpel zu werfen, denn in sittlicher Hinsicht ist hier ein Fall in die Erscheinung getreten, der Veranlassung gibt, betreffs der städtischen Moral, die allerschwersten Bedenken zu hegen.«
»Ganz meine Ansicht,« nickte Joseph von Arimathia.
»Und wenn man erwägt,« fuhr die Sprecherin fort, »daß besagter Person die Ehre zuteil wurde, dem Paramentenverein angehören zu dürfen, daß sie mir unterstellt war – dann allerdings muß ich sagen ...«
In nervöser Hast häkelte sie ihre Mantille auf und bekam ihr Goldkreuzchen zu fassen, das wieder Miene machte, in das Enkörchen zu rutschen.
Der Herr Vikar sah das Manöver und schlug verlegen die Augen zu Boden.
»Dann allerdings muß ich sagen ...«
»Sehr richtig,« fiel der geistliche Herr dazwischen, » Cum infamia wird sie aus der Liste gestrichen.«
»Die einzige Möglichkeit,« ergänzte Frau Hartjes. »Das wäre nun die erste Geschichte, was aber die zweite anbetrifft, so möchte ich folgendes sagen. Sehen Sie mal, Herr Vikarius: wir haben barmherzige Seelen so nötig wie die täglichen Brotschnitten. Die bedrängte Kirche braucht Geld, um den Kampf gegen unwürdige Anmaßungen tatkräftig in die Wege zu leiten, das Kloster braucht Geld, die Brüderschaft zur ewigen Anbetung ist für jeden Groschen herzlich erkenntlich – und ich bin dieserhalb schon von Pontius zu Pilatus gelaufen. Ich war beim Herrn Landrat, ich hatte eine Audienz beim hochwürdigen Bischof in Münster, allein überall hatte man nur vertröstende Worte ... und tritt nun mal so ein Glücksfall ein, wo ein wirklich Begüterter das Zeitliche segnet ...«
»Hm!« sagte Joseph von Arimathia, »Sie scheinen wohl den neuesten Testamentsskandal vor Augen zu haben.«
»Gewiß, Herr Vikarius.«
»So ist das leider immer gewesen,« konstatierte Herr Sauerbier. »Die es können, halten den Beutel zu, während die Armen im Geiste« – mit einer bedeutungsvollen Geste zeigte er auf die ›Malör-Penning-Kasse‹ – »während die Armen im Geiste gern und opferfreudig ihr Scherflein darbringen. So hat denn auch Miekske Pollmann das da gestiftet. Sie hat klugen Sinnes die kleinen Malörchen und Ungebührlichkeiten ihrer Untergebenen zu Geld gemacht – und anstatt ihren berühmten Ausflug zu unternehmen, hat sie gern und willig gegeben.«
»Die barmherzige Seele!« sagte Frau Hartjes.
»Allerdings,« ergänzte der Herr Vikar, »sehe ich die Dinge doch nicht ganz so schwarz an wie Sie, meine hochverehrte Frau Präsidentin; denn hinsichtlich des Testamentes könnten sich doch noch Ereignisse einstellen, die geeignet sind, der Sachlage eine ganz überraschende Wendung zu geben. Noch ist nicht das letzte Wort gesprochen – und was mich anbetrifft: ich pflege erst die Äpfel zu schütteln, wenn sie eßreif geworden sind, obgleich ich Ihnen nicht verhehlen will, daß Ihr Herr Gemahl, daß der Rektor ... Er ist doch in den letzten Stunden beim Erblasser gewesen und hätte es einrichten können ...«
»Das ist es ja eben!« sagte Frau Hartjes. Mit einem energischen Ruck war sie vom Stuhl gefahren und setzte ihr Sonnenschirmchen kampfbereit vor sich hin. »Das ist es ja eben, Herr Vikarius, was ich Ihnen besonders zu sagen hatte, und keiner bedauert lebhafter wie ich, daß ich mit einem Manne durchs Leben gehen muß, der nicht den christlichen Mut besessen hat, für eine gerechte, für eine heilige Sache eine gottwohlgefällige Lanze zu brechen. Aber Strafe muß sein. Ich habe ihm eine strenge Lehre zugedacht, die ihn hoffentlich befähigen wird, seine liberalen Anwandlungen beiseite zu lassen, und ihn bestimmt, sich fernerhin so zu betragen, wie ich es für richtig befinde. – Getrennt von Tisch und Bett für die nächsten drei Wochen ... Noch heute nachmittag kommt seine Bettstellage nach unten.«
»Gehen Sie nicht allzusehr mit ihm ins Gericht,« meinte Joseph von Arimathia mit einem zufriedenen Lächeln.
»Herr Vikarius,« entgegnete die entrüstete Dame, »ich mußte so handeln. Das bin ich mir selber schuldig, das mußte ich tun im Interesse der leidenden Kirche. Ich freue mich aber, daß Sie hinsichtlich des Ingelaatschen Testamentes noch nicht alle Hoffnung verloren haben. Und somit, Herr Vikarius, ich empfehle mich Ihnen und habe die Ehre.«
»Frau Präsidentin ...«
Von Joseph von Arimathia bis zur Tür geleitet, trat Frau Hartjes alsbald auf die Straße.
Von Sankt Nikolai läutete die Mittagsglocke. Alle hörten sie: die Friedfertigen und die, welche den Kampf suchten. Sie rief allversöhnend, und aus ihren Klängen tönten die Worte heraus: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers – und Gott, was Gottes!« – aber die meisten hörten nicht und wollten nicht hören, was die heilige Stimme verkündete. Nicht, daß alle mit Absicht fehlten. Sie waren betört, sie waren in ihrer Gewissensfreiheit beengt. Ihre Interessen waren lediglich kirchliche Interessen geworden – und ihre Seele lag jenseits der Berge. Sie dachten nicht mehr an die glorreichen Kämpfe, an den Einheitsgedanken, der wie Sturmwind durch Deutschlands Gaue gebraust war. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers – und Gott, was Gottes! – aber sie hatten kein Herz mehr für die heimische Erde, für die eigene Heimat. Ihre Blicke waren getrübt für die näheren Dinge, aber geschärft für die Dinge, welche von Rom kamen – und somit läutete die Glocke für die meisten vergebens. –
Von Joseph von Arimathia war Frau Hartjes nach dem Zimmer- und Schreinermeister Grades Gertzen gegangen und hatte dort Auftrag gegeben. Um die Vesperzeit kam er denn auch mit seinem Gesellen in die Wohnung des Rektors. Unter Assistenz der Frau Präsidentin wurde Hand angelegt, und es währte nicht lange, da stand das männliche Bett in einem unteren Zimmer.
»Herr, dein Wille geschehe,« meditierte der Rektor, war aber fuchsteufelswild dabei, nahm Stock und Hut, um in einer benachbarten Kneipe seinen Unmut herunterzuspülen.
Alsbald wußte denn auch die kleine Stadt, was bei Hartjes passiert war. Und die meisten lachten ins Fäustchen und sagten: »Nein – die Frau Rektern!«