Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Veronika Honorines ungefährliche Wunde verbunden und Marie le Goffs Leiche in das große Zimmer gebracht hatte, das ganz mit Büchern angefüllt und wie ein Arbeitsraum eingerichtet war und wo auch ihr Vater lag, schloß sie Herrn von Hergemont die Augen, bedeckte ihn mit einem Tuch und begann zu beten. Aber die Worte des Gebetes kamen ihr nicht auf die Lippen, und sie konnte keinen Gedanken fassen. Sie war wie zerschmettert von all den Schicksalsschlägen, die einer nach dem anderen auf sie niedersausten. Sie saß da, hielt den Kopf in beide Hände gestützt und verharrte wohl eine Stunde in dieser Stellung, während Honorine im Fieberschlaf lag.
»Frau Veronika«, sagte Honorine leise.
»Was gibt es?« fragte die junge Frau, die aus ihrer Versunkenheit erwachte.
»Hören Sie nicht?«
»Was denn?«
»Unten wird geklingelt. Man bringt vielleicht Ihren Koffer.« Veronika erhob sich hastig.
»Was soll ich nur sagen? Wie soll ich alles erklären? Wenn ich das Kind beschuldigte ...«
»Sagen Sie lieber nichts. Ich werde sprechen.«
»Sie sind doch zu schwach, meine liebe Honorine.«
»Nein, nein, es geht schon besser.«
Veronika ging nach unten und schob dort in der mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegten Halle den Riegel einer großen Pforte zurück.
Es war in der Tat einer der Matrosen.
»Ich habe schon an der Küche geklopft«, sagte der Mann. »Ist denn Marie le Goff nicht da? Und Frau Honorine?«
»Honorine ist oben und möchte Sie sprechen.«
Der Matrose sah sie an. Ihr bleiches und ernstes Gesicht schien auf ihn großen Eindruck zu machen, und er folgte ohne ein Wort zu sagen.
Honorine erwartete sie oben. Sie stand vor der geöffneten Tür im ersten Stockwerk.
»Ach, du bist es, Corréjou? ... Hör' gut zu ... Man kann sich auf dich verlassen, nicht wahr?«
»Was gibt es denn, Mutter Honorine, Sie sind ja verwundet, was ist denn geschehen?«
Sie trat zurück, wies durch die offene Tür auf die beiden Toten und sagte:
»Herr Anton und Marie le Goff ... sind beide ermordet ...«
Das Gesicht des Mannes verzerrte sich in höchstem Schrecken.
»Ermordet«, stammelte er. »Ist es möglich ... Von wem?«
»Ich weiß nicht, wir kamen zu spät.«
»Aber der kleine Franz ... und Herr Stephan? ...«
»Sie sind nicht zu finden ... Man hat sie wohl ebenfalls ermordet.«
»Maguennoc? ... Warum sprichst du von ihm, Corréjou?«
»Ich spreche von ihm ... von ihm ... weil ... wenn Maguennoc noch lebte ... dann wäre alles, ganz anders. Maguennoc sagte immer, er würde der erste sein. Maguennoc sagt nur, was er sicher weiß. Maguennoc sieht den Dingen auf den Grund.«
Honorine dachte nach und erklärte dann: »Auch Maguennoc ist getötet.«
Diesmal verlor Corréjou alle Fassung. Sein Gesicht drückte jenen wahnsinnigen Schrecken aus, den Veronika schon verschiedentlich bei Honorine wahrgenommen hatte. Er bekreuzigte sich und sagte ganz leise:
»Ja dann ... dann Mutter Honorine ... kommt alles, weil Maguennoc es vorher gesagt hat ... Noch neulich, als wir zusammen im Boot fuhren, sagte er mir, jetzt kommt bald die Zeit ... Man müßte fort von hier.«
Und plötzlich machte der Matrose kehrt und stürzte auf die Treppe zu.
»Bleib hier, Corréjou!« befahl Honorine.
»Wir müssen fort von hier. Maguennoc hat es gesagt. Wir alle müssen fort.«
»Du bleibst«, wiederholte Honorine, und als der Matrose zögernd stehen blieb, fuhr sie fort:
»Wir sind also einig. Wir müssen fort. Morgen abend fahren wir. Vorher aber müssen wir Herrn Anton und Marie le Goff begraben. Schick' nach den Schwestern Archignat für die Totenwache. Es sind zwar bösartige Weiber, aber sie machen es immer. Zwei von den drei Schwestern müssen kommen, jede wird doppelt soviel bekommen als sonst.«
»Und dann, Mutter Honorine?«
»Du kümmerst dich zusammen mit den Alten um die Särge und bei Tagesanbruch werden wir die Toten in geweihter Erde begraben, drüben auf dem Kirchhof bei der Kapelle.«
»Und was dann, Mutter Honorine?«
»Dann bist du frei, ebenso wie die anderen, dann könnt ihr eure Sachen packen und abfahren.«
»Aber Ihr, Mutter Honorine?«
»Ich habe ja mein Boot. Und nun genug geschwatzt. Wir sind einig?«
»Einig wohl. Nur diese Nacht müssen wir noch hierbleiben. Aber ich denke wohl, daß von heute auf morgen nichts Neues passieren wird.«
»Sicher nicht ... nein, sicher nicht ... Geh nur, Corréjou, beeile dich, und vor allem sage den anderen nichts davon, daß Maguennoc tot ist, sonst bleiben sie keine Stunde mehr hier.«
»Soll geschehen, Mutter Honorine.«
Der Matrose eilte davon.
Eine Stunde später erschienen zwei der Schwestern Archignat. Zwei alte, knochige, hagere Gestalten, die wie Hexen aussahen und deren Hauben und schwarze Samtschleifen vor Schmutz starrten.
Man brachte Honorine in ein eigenes Zimmer am äußersten Ende des rechten Flügels im selben Stockwerk.
Die Totenwache begann. Veronika saß abwechselnd am Lager ihres Vaters und am Bett Honorines, deren Zustand sich zu verschlimmern drohte. Veronika war in Halbschlaf versunken, als sie durch ein paar Worte der Bretonin geweckt wurde, die in einem Fieberanfall, aber noch halb bei Bewußtsein stammelte:
»Franz muß sich verstecken ... Und auch Herr Stephan ... Es gibt sichere Schlupfwinkel auf der Insel. Maguennoc hat sie ihnen gezeigt. Man wird sie nicht finden, und so bleibt alles unentdeckt.«
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher ... Hören Sie ... Wenn morgen alle Leute Sarek verlassen haben und wir beide allein sind, gebe ich ihm das Zeichen mit meiner Muschel, dann kommt er.«
Veronika aber wehrte sich dagegen.
»Ich will ihn nicht sehen ... mir graut vor ihm! ... Ich verfluche ihn, wie mein Vater es tat ... Bedenken Sie doch nur, er hat vor meinen Augen meinen Vater erschossen. Er hat Marie le Goff getötet ... Und auch Sie hat er töten wollen! Nein, nein, ich fühle nichts als Haß und Abscheu vor diesem Ungeheuer!«
Die Bretonin drückte ihr die Hand und flüsterte:
»Verurteilen Sie ihn noch nicht ... Er wußte nicht, was er tat.«
»Was sagen Sie! Er wußte es nicht! Ich sah seine Augen, es waren die Augen Vorskis.«
»Er wußte es nicht ... Er war von Sinnen.«
»Von Sinnen? Wie meinen Sie das?«
»Ja, Frau Veronika, ich kenne den Jungen. Niemand kann besser sein als er. Wenn er das getan hat, so hat er es im Wahnsinn getan ... Genau wie Herr Stephan. Jetzt weinen sie sicher beide vor Verzweiflung.«
»Das kann ich nicht glauben ... Das halte ich für ausgeschlossen ...«
»Sie glauben es nicht, weil Sie nichts von all dem wissen, was geschieht ... und geschehen wird ... Wenn Sie es wüßten ... Ich sage Ihnen, es gibt Dinge ... Dinge ...«
Ihre Stimme erlosch. Sie schwieg, aber ihre Augen blieben weit geöffnet und ihre Lippen bewegten sich lautlos.
Bis zum Morgen blieb alles ruhig. Gegen fünf Uhr hörte Veronika, wie die Särge geschlossen wurden; fast gleichzeitig wurde die Tür des Zimmers aufgerissen, und die Schwestern Archignat stürzten beide in höchster Erregung herein.
Sie hatten von Corréjou, der, um sich Mut zu machen, ein wenig zuviel getrunken und drauflos geschwatzt hatte, die Wahrheit erfahren.
»Maguennoc ist tot,« schrien sie, »Maguennoc ist tot, und Sie haben uns nichts gesagt! Wir müssen fort! Schnell, unser Geld!«
Sobald sie bezahlt waren, liefen sie davon, und eine Stunde später kamen andere von ihnen aufgehetzte Frauen, um ihre in der Abtei arbeitenden Männer zu holen.
»Wir müssen fort und alles vorbereiten ... Nachher ist es zu spät ... Die zwei Boote können uns alle aufnehmen.«
Honorine wiedersetzte sich ihrem Vorhaben mit aller Gewalt. Veronika gab Geld. In aller Eile fand die Beerdigung statt. Nicht weit von der Abtei lag eine alte Kapelle, die Herr von Hergemont hatte wieder herstellen lassen und in der jeden Monat ein Priester aus Pont-l'Abbé die Messe las. Daneben befand sich der alte Beerdigungsplatz der Mönche von Sarek. Dort wurden die zwei Leichen beerdigt, und ein alter Mann, der sonst als Mesner diente, stotterte das Totengebet.
Alle schienen wie von Wahnsinn ergriffen. Ihre Worte, ihre Bewegungen hatten etwas Panikartiges. Die fixe Idee, möglichst schnell aufzubrechen, beherrschte sie. Und um Veronika, die weinend abseits stand und betete, kümmerte sich niemand.
Noch vor acht Uhr war alles beendet. Männer und Frauen eilten zum Hafen hinab. Veronika aber, der zumute war, als hätte sie einen schweren Traum, darin die Ereignisse ohne Sinn und Zusammenhang einander folgten, Veronika kehrte zu Honorine zurück, die durch ihre Schwäche daran gehindert worden war, bei der Bestattung ihres Herrn zugegen zu sein.
»Es geht mir besser«, sagte die Bretonin. »Heute oder morgen fahren wir ab und nehmen Franz mit.«
Als Veronika aufbegehrte, wiederholte sie noch einmal:
»Wir nehmen ihn mit, sage ich Ihnen, und auch Herrn Stephan, und zwar so schnell als möglich. Auch ich will von hier fort ... Sie und Franz mitnehmen ... Hier auf der Insel geht der Tod um ... Hier ist er Herrscher ... Wir wollen ihm Sarek überlassen ... Wir wollen alle fort.«
Veronika wollte ihr nicht widersprechen. Aber gegen neun Uhr hörte man von neuem eilige Schritte. Es war Corréjou, der aus dem Dorf kam; kaum im Zimmer, rief er bereits:
»Man hat Ihr Boot gestohlen, Mutter Honorine. Ihr Boot ist verschwunden!«
»Unmöglich!«
»Es ist verschwunden«, behauptete atemlos der Matrose. »Heute morgen schon ahnte ich so etwas ... Aber ich hatte wohl etwas zuviel getrunken ... und so dachte ich nicht mehr daran. Später haben es die anderen auch bemerkt. Die Ankerkette ist durchschnitten ... Es muß in der Nacht geschehen sein, und sie haben sich davongemacht. Niemand hat sie gesehen oder erkannt.«
Die beiden Frauen blickten sich an, und ein und derselbe Gedanke schnürte ihnen das Herz zusammen. Franz und Stephan Maroux waren geflüchtet. Honorine stieß undeutlich hervor:
»Ja, ja, so ist es. Er weiß, wie es gehandhabt wird.«
Veronika aber fühlte sich erleichtert bei dem Gedanken, daß ihr Kind fort sei und daß sie es nicht mehr zu sehen brauche. Von neuer Angst ergriffen rief Honorine aus:
»Und nun ... Was wird nun? ...«
»Sie müssen gleich mit uns aufbrechen, Mutter Honorine. Die Boote sind bereit ... Alle packen schon ... Um elf Uhr ist niemand mehr im Dorfe.«
Veronika widersetzte sich.
»Honorine kann in diesem Zustand nicht fort.«
»Doch, es geht mir ja besser.«
»Nein, das wäre töricht, wir wollen ein oder zwei Tage warten. Kommt übermorgen wieder, Corréjou.«
Sie drängte den Matrosen, der sowieso nicht schnell genug fortkommen konnte, zur Tür hinaus.
»Gut, ich komme übermorgen wieder ... Wir können auch nicht alles mitnehmen ... Wir müssen ohnehin von Zeit zu Zeit zurückkommen, um einiges zu holen. Pflegen Sie sich, Mutter Honorine.«
Dann stürzte er fort.
»Corréjou, Corréjou«, rief Honorine, die sich im Bett aufgerichtet hatte, verzweifelt hinter ihm her.
»Geh nicht, geh nicht fort, Corréjou, warte auf mich. Du mußt mich in mein Boot tragen.«
Sie lauschte, und als der Matrose nicht zurückkam, wollte sie aufstehen.
»Ich fürchte mich, ich will nicht allein hierbleiben.«
Veronika hielt sie zurück.
»Aber Sie bleiben doch nicht allein hier, Honorine. Ich verlasse Sie nicht.«
Ein Kampf entspann sich zwischen den beiden Frauen, und Honorine, die von Veronika mit Gewalt auf das Bett zurückgeworfen wurde, stöhnte in ihrer Wehrlosigkeit:
»Ich fürchte mich, ich fürchte mich ... Die Insel ist verflucht ... Hierbleiben heißt Gott versuchen ... Maguennocs Tod soll uns zur Warnung dienen ... Ich fürchte mich ...«
Sie sprach im Fieber, war aber immer noch halb bei Bewußtsein, so daß ihren sonst zusammenhängenden Reden, aus denen die abergläubische Seele der Bretonin sprach, hin und wieder ein Sinn zu entnehmen war.
Sie faßte Veronika bei den Schultern und stieß mühsam hervor:
»Ich sage Ihnen ... Die Insel ist verflucht ... Maguennoc hat es mir eines Tages anvertraut ... Sarek ist eine Hölle.«
Auf Veronikas inständiges Bitten hin beruhigte sie sich ein wenig. Ihre Stimme wurde sanfter und schwächer und sie fuhr fort:
»Trotzdem liebte er die Insel sehr ... wir, wir alle ... Er sagte merkwürdige Dinge, die ich nicht verstand.«
Die Minuten flossen langsam dahin. Das Zimmer lag am äußersten Ende des Hauses in einem Flügel, der vorgebaut war und von dessen Fenstern aus man rechts und links die Insel und die Felsen übersehen konnte, die das Meer beherrschten.
Veronika hatte die Augen auf die weißen Wogen gerichtet, die der Wind stürmischer bewegte. Die Sonne brach durch dichten Nebel, der die Küste der Bretagne nicht sichtbar werden ließ. Nach Westen zu konnte der Blick über den Schaumgürtel hinweg bis hinüber zu der einsamen Wasserfläche des Ozeans schweifen.
Halb im Schlaf flüsterte die Bretonin:
»Man sagt, die Pforte der Hölle besteht aus einem Stein ... und er soll von sehr weit herkommen, aus einem fremden Land ... es ist der Stein Gottes. Man sagt auch, es sei ein wertvoller Stein ... der aus Gold und Silber gemacht ist ... Der Stein gilt Tod oder Leben. Maguennoc hat ihn gesehen ... Er hat die Pforte geöffnet und den Arm hineingesteckt ... und seine Hand ... und seine Hand ist in Asche zerfallen.«
Veronika wurde beklommen zumute. Auch sie beschlich nach und nach die Angst. Die fürchterlichen Ereignisse, denen sie seit einigen Tagen mit Entsetzen beiwohnte, schienen andere, noch furchtbarere, nach sich zu ziehen, wie ein Orkan, der alles mit sich fortreißt.
»Können Sie die Boote nicht sehen?« fragte Honorine.
»Man kann sie von hier aus nicht sehen«, entgegnete Veronika.
»Doch, doch, sie werden ganz bestimmt diesen Weg wählen. Die Boote sind schwer, und an der Spitze der Insel ist eine breitere Durchfahrt.«
In der Tat sah Veronika bald darauf ein Boot um das Vorgebirge biegen.
Es war mit Kisten und Kasten, auf denen Frauen und Kinder sich niedergelassen hatten, voll beladen, es sank tief in das Wasser ein. Vier Männer ruderten mit aller Kraft.
»Es ist Corréjous Boot«, sagte Honorine, die halb angezogen, von ihrem Bett aufgesprungen war. »Und da ist das andere, sehen Sie?«
Das zweite Boot, das auch schwer beladen war, kam jetzt zum Vorschein. Nur drei Männer ruderten und eine Frau.
Beide Boote waren zu weit entfernt, vielleicht sieben- oder achthundert Meter, als daß man die Gesichter der Insassen hätte unterscheiden können. Man hörte auch keinen Laut aus diesen Fahrzeugen herüberdringen, die mit ihrer Unglückslast vor dem Tod flohen.
»Mein Gott, mein Gott,« stöhnte Honorine, »wenn sie nur aus der Hölle herauskommen.«
»Was können Sie nur fürchten, Honorine? Denen droht doch keine Gefahr?!«
»Doch, solange sie die Insel nicht verlassen haben.«
»Aber sie haben sie doch verlassen.«
»Alles um die Insel herum gehört noch zur Insel. Da lauern erst die Klippen.«
»Aber das Meer ist nicht schlecht.«
»Da ist eben etwas anderes als das Meer. Nicht das Meer ist der Feind.«
»Was aber dann?«
»Ich weiß es nicht ... ich weiß nicht ...«
Die beiden Boote näherten sich der nördlichen Spitze. Zwei Durchfahrten taten sich vor ihnen auf, die die Bretonin nach dem Namen der zwei Klippen den »Teufelsfelsen« und den »Zahn von Sarek« nannte.
Fast gleichzeitig konnte man sehen, daß Corréjou die Teufelsdurchfahrt gewählt hatte.
»Sie kommen durch«, sagte die Bretonin. »Sie sind schon da ... Zehn Meter noch ... und alles ist gut. Der Teufel wird sein Spiel verlieren, Frau Veronika. Ich glaube wirklich, daß wir gerettet werden, Sie und ich und alle Leute auf Sarek!«
Veronika blieb schweigsam. Ihre Beklemmung wich nicht und war um so beängstigender, als sie nur auf unbestimmten Ahnungen beruhte, die niemand bekämpfen kann.
»Oh,« schrie die Bretonin, »was ist das? Was soll das heißen?«
»Was gibt es?«
»Was denn?«
Alle beide hatten die Stirn gegen das Fenster gepreßt und sahen bestürzt hinaus. Drüben war etwas sozusagen aus dem Zahn von Sarek hervorgesprungen, und plötzlich erkannten sie das Motorboot, das sie gestern benutzt hatten und dessen Verschwinden Corréjou gemeldet hatte.
»Franz! ... Franz! ...« stieß Honorine betroffen hervor. »Franz und Herr Stephan! ...«
Veronika erkannte jetzt den Knaben. Er stand aufrecht vorn im Boot und machte den Leuten in den zwei Booten Zeichen. Die Männer antworteten, indem sie die Ruder bewegten, während die Frauen mit den Händen winkten. Trotz Veronikas Widerstand öffnete Honorine die beiden Fensterflügel, und außer dem Knattern des Motors hörten sie ein Stimmengewirr, ohne daß sie ein einziges Wort verstehen konnten.
»Was soll das heißen«, wiederholte die Bretonin. »Franz und Stephan ... Warum sind sie nicht ans Ufer gegangen?«
»Vielleicht hatten sie Angst, bei ihrer Landung entdeckt und vernommen zu werden«, erklärte Veronika.
»Aber nein, man kennt sie, besonders Franz, der mich oft begleitet hat. Unsere Ausweispapiere sind außerdem noch im Boot. Nein, nein, sie haben dort hinter dem Felsen verborgen gewartet.«
»Aber Honorine, wenn sie sich verborgen haben, warum zeigen sie sich denn jetzt?«
»Ach, da ... da seht nur ... das verstehe ich nicht! ... Das scheint mir denn doch seltsam ... Was sollen denn Corréjou und die davon denken?«
Die Boote, von denen das zweite in der Furche des ersten dahinfuhr, standen beinahe still. Alle Insassen schienen sich nach dem Motorboot umgedreht zu haben, das in schneller Fahrt auf sie zufuhr, als es in die Nähe des zweiten Bootes kam, seine Fahrt verlangsamte und parallel mit den beiden Booten in einem Abstand von ungefähr fünfzehn oder zwanzig Metern dahinglitt.
»Ich verstehe nicht ... Ich verstehe nicht ...« murmelte die Bretonin.
Der Motor war ausgeschaltet, und das Boot kam so in langsamer Fahrt zwischen die beiden Boote.
Plötzlich sahen die beiden Frauen, daß Franz sich bückte, sich dann aufrichtete und den rechten Arm zurückschwenkte, als ob er etwas schleudern wollte.
Zu gleicher Zeit machte Stephan Maroux dieselbe Bewegung.
Diese Bewegung war sehr hastig und machte einen unheimlichen Eindruck.
»Oh«, schrie Veronika.
Sie hielt sich einen Moment die Augen zu, hob aber schnell den Kopf wieder und sah ein furchtbares Schauspiel. Zwei Dinge waren in die Boote hineingeschleudert worden. Das erste kam von der Spitze und war von Franz, das andere kam von hinten und war von Stephan geworfen worden.
Und plötzlich sah man in der Nähe der beiden Boote zwei Feuergarben aufleuchten, zwei Rauchwolken stiegen auf.
Man hörte Schüsse. Einen Augenblick konnte man hinter der schwarzen Rauchwolke nicht sehen, was vorging.
Dann schob sich der Vorhang beiseite, der Wind hatte ihn fortgeweht, und Veronika und die Bretonin sahen, wie die beiden Boote langsam versanken, während einige der Insassen ins Meer sprangen.
Dieses höllische Schauspiel dauerte nicht lange. Auf einer der Bojen sahen sie eine Frau. Sie hielt ein Kind in ihrem Arm und rührte sich nicht. Daneben schwammen regungslose Körper, die wohl getroffen waren, dann zwei Männer, die miteinander rangen und vielleicht den Verstand verloren hatten, dann versank alles, Menschen und Boote.
Noch ein Wasserwirbel, ein paar schwarze Punkte auf der Oberfläche, und alles war zu Ende. Starr vor Entsetzen, waren Honorine und Veronika keines Wortes mächtig. Dieses Schauspiel übertraf alles, was sie sich in ihrer Angst ausgemalt hatten. Plötzlich preßte Honorine die Hand gegen die Stirne, und mit einer Stimme, die Veronika unvergeßlich blieb, stieß sie hervor: »Ich werde wahnsinnig ... Ach, die Unglücklichen ... Es waren meine Freunde ... Freunde aus der Kindheit ... Und niemals werde ich sie wiedersehen ... Niemals gibt das Meer bei Sarek seine Toten wieder. Es hält sie fest ... und Särge hat es für sie bereit, eine Unzahl in der Tiefe verborgener Särge ... Ach, mir springt der Kopf ... Ich werde wahnsinnig ... Wahnsinnig wie Franz ... Mein armer Franz!«
Veronika gab keine Antwort. Sie war leichenblaß. Krampfhaft hielt sie sich am Balkon fest und blickte hinunter, wie man in einen Abgrund blickt, in den man sich hineinstürzen will. Was würde ihr Sohn jetzt tun? Würde er die Alten retten, deren Angstgeheul man jetzt hörte? Selbst nach einem Ausbruch des Wahnsinns konnte er ja angesichts dieses Unglücks wieder zur Vernunft kommen.
Das Motorboot hatte sofort gedreht, um nicht in den Wirbel mit hineingerissen zu werden. Franz und Stephan, deren rote und weiße Mütze man immer noch sah, standen jeder noch an seinem Platz vorn und hinten im Boot und hielten in ihrer Hand ... Die beiden Frauen konnten bei der großen Entfernung nicht recht erkennen, was sie in der Hand hielten, es sah aus wie ein langer Stock.
»Vielleicht sind es Stangen, um die Leute zu retten«, flüsterte Veronika.
»Oder Gewehre?« meinte Honorine.
Die schwarzen Punkte schwammen noch im Wasser. Es waren neun, die Köpfe der neun Überlebenden, und deutlich sah man die Bewegung der Arme und hörte Hilferufe.
Einige suchten eilig von dem Boot wegzukommen. Vier aber näherten sich ihm, und von diesen waren zwei im Begriff, es zu erreichen.
Da machten Franz und Stephan dieselbe Bewegung, die Bewegung von Schützen, die das Gewehr anlegen.
Zweimal blitzte es auf. Man hörte den Knall. Und die Köpfe der beiden Schwimmer verschwanden im Wasser.
»Oh, diese Ungeheuer«, stammelte Veronika, die halb ohnmächtig in die Knie sank.
Neben ihr stand Honorine und schrie aus Leibeskräften:
»Franz! ... Franz! ...«
Die Stimme drang nicht weit. Sie war zu schwach, und der Wind trug die Worte fort. Aber die Bretonin hörte nicht auf zu rufen.
»Franz! ... Stephan! ...«
Dann lief sie durch ihr Zimmer hinaus auf den Gang. Sie suchte etwas und kam dann ans Fenster zurück, indem sie immer noch schrie:
»Franz ... Franz, höre mich ...«
Sie hatte die Muschel gefunden, die ihr als Signalhorn diente. Als sie sie aber an den Mund legte, konnte sie nur dumpfe und undeutliche Töne hervorbringen.
»Ach, die Hölle ist los!« stammelte sie, während sie die Muschel fortwarf. »Ich habe keine Kraft mehr. Franz! ... Franz! ...«
Ihr Anblick war furchtbar. Das Haar hing ihr wirr um das von Fieberschweiß bedeckte Gesicht.
»Ich flehe Sie an, Honorine«, bat Veronika.
»Aber sehen Sie doch hin, sehen Sie doch ...«
Drüben flog das Boot dahin. Die beiden Schützen standen auf ihrem Posten, die Waffen zu neuen Verbrechen erhoben. Die Überlebenden hatten die Flucht ergriffen. Zwei blieben zurück.
Auf diese zielten sie, und sie verschwanden.
»Aber sehen Sie nur«, wiederholte die Bretonin mit tonloser Stimme. »Das ist die reine Jagd ... Sie schießen auf ihr Wild ... Oh, die armen Leute von Sarek.«
Wieder ein Schuß. Ein dunkler Punkt verschwand.
Veronika wand sich vor Verzweiflung und rüttelte an dem Balkongitter, als wäre es das Gitter eines Gefängnisses.
»Vorski, Vorski!« ... stöhnte sie niedergeschmettert von der Erinnerung an ihren Mann. »Er ist Vorskis Sohn.«
Plötzlich fühlte sie sich an der Kehle gepackt und sah dicht an ihrem Gesicht das unkenntlich gewordene Gesicht der Bretonin.
»Es ist dein Sohn«, brachte Honorine mühsam hervor. »Fluch über dich ... Du bist die Mutter dieses Scheusals, und du wirst bestraft werden ...«
Dabei brach sie in unheimliches Gelächter aus, wie geschüttelt von einem Krampf.
»Das Kreuz, ja, das Kreuz! Du wirst ans Kreuz geschlagen werden! Nägel bekommst du durch die Hände! ... Das wird eine Strafe sein! ... Nägel durch die Hände!«
Sie war wahnsinnig geworden.
Veronika machte sich los und wollte sie zur Ruhe zwingen. Aber boshaft und wütend riß sich Honorine los. Veronika verlor das Gleichgewicht und sah noch, wie Honorine auf den Balkon kletterte. Dort blieb sie mit ausgebreiteten Armen stehen, hob die Arme und schrie von neuem:
»Franz, Franz! ...«
Das Haus, das auf unebenem Gelände stand, war an dieser Seite weniger hoch. Die Bretonin sprang in den Garten, lief die Allee entlang, setzte über danebenliegende Beete und lief dem Gebirgskamm zu, der einen über das Meer hinausragenden Felsen bildete.
Einen Augenblick hielt sie inne, rief dreimal den Namen des Knaben, den sie erzogen hatte, und stürzte kopfüber in den Abgrund.
Unten ging die Menschenjagd dem Ende zu. Ein Kopf nach dem anderen versank. Das Morden hatte aufgehört.
Dann eilte das Boot mit Franz und Stephan der bretonischen Küste zu in der Richtung auf Beg-Meil und Concarneau.
Veronika blieb allein auf der Insel mit den dreißig Särgen zurück.