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Lange Zeit knieten Mutter und Sohn diesseits und jenseits der trennenden Mauer. Und dennoch waren sie einander so nah, als ob sie sich mit ihren glückstrunkenen Augen hätten ansehen und unter Liebkosungen miteinander weinen können.
Sie waren trunken vor Freude. Das Leben des einen floß in das Leben des anderen über. Keine Macht der Welt konnte sie jetzt voneinander trennen, noch die Bande der Liebe und des Vertrauens zerreißen, die Mutter und Sohn verknüpften.
Sein Herz schlug, und es war wirklich der sanfte, liebevolle und reizende und unschuldige Knabe, den sie erträumt hatte.
»Mein Sohn, mein Sohn«, wiederholte sie unaufhörlich, als könnte sie diese wunderbaren Worte nicht oft genug aussprechen. »Du bist es wirklich, mein Sohn! Ich glaubte dich tot, tausendmal tot, mehr als tot ... und du lebst und bist bei mir, ich kann dich fassen! Oh, mein Gott, ist es denn möglich! Ich habe einen Sohn ... Mein Sohn lebt ...«
Mit derselben Leidenschaft klang es von drüben:
»Mutter, Mutter ... Wie lange habe ich auf dich gewartet! Für mich warst du nicht tot, aber es war so traurig, ein Kind zu sein und keine Mutter zu haben ...«
Eine Stunde lang sprachen sie planlos bald von der Vergangenheit, bald von der Gegenwart, von tausend Dingen, die ihnen im Augenblick die wichtigsten auf der Welt zu sein schienen und die sie wieder fallen ließen, um einander andere Fragen zu stellen, Näheres über ihr Leben zu erfahren.
»Höre mich, Mutter, wir haben uns so viel zu sagen! Für den Augenblick besprechen wir nur das Notwendigste und mit wenigen Worten, denn wir haben wahrscheinlich wenig Zeit.«
»Wie meinst du das«, fragte Veronika schon etwas beunruhigt. »Ich verlasse dich nicht!«
»Wenn wir uns nicht mehr verlassen sollen, müßten wir zuerst vereinigt sein. Es sind aber noch viele Hindernisse zu überwinden. Zunächst einmal die Mauer, die uns trennt, und zum anderen werde ich streng bewacht; es kann sein, daß ich dich schon im nächsten Augenblick fortschicken muß, wie ich es beim geringsten Geräusch mit Allesgut mache.«
»Wer bewacht dich denn?«
»Die, die sich an dem Tage, wo wir den Eingang zu diesen unterirdischen Höhlen unter der schwarzen Heide entdeckten, auf Stephan und mich gestürzt haben.«
»Hast du sie denn gesehen?«
»Nein, es war dunkel.«
»Und wer sind diese Wesen, wer sind eure Feinde?«
»Du denkst wohl ... O nein, die Druiden,« sagte er lachend, »die Wesen aus früherer Zeit, von denen die Legenden berichten, die sind es nicht, Geister auch nicht, es waren Menschen von heute. Menschen von Fleisch und Blut.«
»Und sie leben hier?«
»Wahrscheinlich.«
»Und du hast sie überrascht?«
»Nein, im Gegenteil, sie schienen auf uns zu warten und zu lauern. Wir waren eine steinerne Treppe heruntergeklettert und in einen langen Gang gekommen, an dem wohl achtzig Höhlen oder vielmehr Zellen lagen, deren hölzerne Türen offenstanden und die auf das Meer hinausgingen.
Als wir zurückkamen und im Dunkel die Treppe wieder hinaufkletterten, wurden wir von der Seite gepackt, festgehalten, gebunden und geknebelt. Das war das Werk einer Minute. Ich erriet, daß man uns durch den langen Gang hindurchschleppte. Als es mir gelungen war, die Fesseln abzustreifen, fand ich mich in einer der Zellen wieder, der letzten am Gang, wie es mir schien, und hier bin ich seit zehn Tagen!«
»Mein Liebling, was hast du leiden müssen!«
»Nein, Mutter, in keinem Fall habe ich Hunger gelitten. In einer Ecke hier sind eine Menge Vorräte, in einer anderen liegt Stroh für ein Lager. Ich warte also in Ruhe.«
»Ja?«
»Wirst du auch nicht lachen, Mutter?«
»Worüber, mein Liebling?«
»Über das, was ich dir erzählen werde?«
»Wie kannst du das glauben?«
»Ich warte auf jemand, der all die Geschichten von Sarek kennt und der Großvater versprochen hat, zu kommen.«
»Wer ist denn das, mein Liebling?«
Das Kind zögerte.
»Nein, wirklich, Mutter, du würdest mich auslachen. Später erzähle ich dir das einmal. Übrigens ist er ja nicht gekommen ... obwohl ich einen Augenblick wahrhaftig glaubte ... ja, stelle dir vor, daß es mir gelungen war, zwei Steine von dieser Mauer loszubrechen und diese Öffnung freizumachen, von der meine Feinde augenscheinlich nichts wissen. Da höre ich ein Geräusch, ein Kratzen ... Herr Allesgut tauchte auf, er kam von der anderen Seite. Du kannst dir denken, wie ich ihn empfing. Das einzige, was mich überraschte, war, daß niemand mitkam, weder Großvater noch Honorine. Ich hatte keinen Bleistift und kein Papier, um ihnen zu schreiben, aber schließlich brauchten sie ja nur mit Allesgut mitzukommen.«
»Das war ja nicht möglich,« sagte Veronika, »da man glaubte, daß du von Sarek fortgeschleppt seiest.«
»Und warum glaubte Großvater das? Er wußte doch aus einem kürzlich entdeckten Manuskript, wo wir sein könnten, denn er selbst hatte uns ja von der Möglichkeit eines Ganges in die unterirdische Höhle gesprochen. Hat er denn nichts davon gesagt?«
Veronika hatte glückstrahlend den Erzählungen ihres Sohnes gelauscht. Wenn er fortgeschleppt und gefangen war, konnte der abscheuliche Unhold, der Herrn von Hergemont, Marie le Goff, Honorine, Corréjou und die anderen getötet hatte, nicht er sein. Die von ihr schon dunkel geahnte Wahrheit nahm eine festere Form an. Noch war sie verhüllt, aber soviel stand bereits fest. Franz war unschuldig. Irgend jemand hatte seine Kleider angezogen und sich für ihn ausgegeben, ebenso wie ein anderer in verbrecherischer Absicht sich das Aussehen Stephans gegeben hatte. Ach, was kümmerte es sie, daß alles so unwahrscheinlich und widerspruchsvoll war? Was fragte sie nach Beweisen und nach völliger Gewißheit!
»Nein, ich habe deinen Großvater nicht gesehen. Honorine wollte ihn auf meinen Besuch vorbereiten, aber die Ereignisse haben sich überstürzt.«
»Und du bist allein auf der Insel geblieben, meine arme Mutter? Du hofftest also, mich hier wiederzufinden?«
»Ja«, sagte sie nach einigem Zögern.
»Und du warst allein und nur Allesgut war bei dir?«
»Ja, in den ersten Tagen habe ich kaum auf ihn geachtet, erst heute morgen bin ich auf die Idee gekommen, ihm zu folgen.«
»Und wie bist du zu diesem Gang gelangt?«
»Der Eingang zu diesem unterirdischen Gang liegt unter zwei Steinen verborgen, nicht weit von Maguennocs Garten.«
»Wie denn, die beiden Inseln stehen also miteinander in Verbindung?«
»Ja, durch den Felsen unter der Brücke.«
»Ist das sonderbar! Darauf sind doch weder Stephan noch ich, noch sonst irgend jemand gekommen ... außer diesem Prachtkerl, dem Allesgut, der seinen Herrn suchen ging.«
Er unterbrach sich. »Hör' mal«, flüsterte er dann, aber er besann sich anders:
»Nein, jetzt noch nicht. Wir müssen uns beeilen.«
»Was soll ich tun?«
»Ganz einfach, Mutter. Als ich diese Öffnung freilegte, stellte sich heraus, daß man sie noch vergrößern könnte. Wenn es möglich wäre, noch die drei oder vier Steine rundherum loszubrechen! Aber die halten gut und man müßte irgendein Werkzeug haben.«
»Ja, gut, ich will es holen ...«
»Es ist recht, Mutter, geh' in die Abtei zurück. Dort ist links vom Haus zu ebener Erde ein Schuppen, wo Maguennoc seine Gartenwerkzeuge aufbewahrte. Dort findest du eine kleine Hacke mit ganz kurzem Stiel. Bring' sie mir gegen Abend her. Heute Nacht werde ich dann ans Werk gehen und morgen früh kann ich dich umarmen, Mutter.«
»Ach, wenn du doch Recht hättest!«
»Ich stehe dafür ein und dann brauchen wir nur noch Stephan zu befreien.«
»Deinen Lehrer? Weißt du, wo er eingeschlossen ist?«
»Ungefähr. Nach den Angaben vom Großvater sollen die unterirdischen Gänge aus zwei übereinanderliegenden Stockwerken bestehen. Ich sitze hier, Stephan muß in dem anderen sein unter mir. Was mir Sorgen macht ...«
»Was macht dir denn Sorgen?«
»Ja, nämlich soviel Großvater immer erzählt hat, waren die beiden Zellen früher einmal Folterkammern ... ›Todeskammern‹, wie Großvater sie genannt hat.«
»Was sagst du? Das ist ja schrecklich!«
»Warum erschrickst du, Mutter! Du siehst ja, daß man nicht daran denkt, mich zu foltern. Nur da ich nicht weiß, was aus Stephan geworden ist, habe ich ihm auf alle Fälle durch Allesgut, der sicherlich einen Durchschlupf gefunden hat, etwas zu essen geschickt.«
»Nein,« sagte sie, »Allesgut hat dich nicht verstanden.«
»Woher weißt du das, Mutter?«
»Er hat gemeint, du hättest ihn in das Zimmer von Stephan Maroux geschickt, und dort hat er alles unters Bett gelegt.«
»Ach,« sagte der Knabe voller Unruhe, »was mag nur aus Stephan geworden sein?«
Und hastig fügte er hinzu:
»Siehst du, Mutter, daß wir uns beeilen müssen, wenn wir Stephan und uns selbst retten wollen?«
»Was fürchtest du?«
»Nichts, wenn wir schnell handeln.«
»Aber? ...«
»Nichts, versichere ich dich. Ganz gewiß werden wir alle Hindernisse überwinden.«
»Und wenn noch neue dazukommen ... neue Gefahren, die wir nicht voraussehen können? ...«
»Dann,« sagte Franz lachend, »wird dieser jemand, der kommen muß, nach Sarek kommen und uns beschützen.«
»Siehst du wohl, mein Kind, du selbst gibst zu, daß wir Hilfe nötig haben.«
»Aber nein, Mutter, ich versuche nur dich zu beruhigen. Es wird ja nichts geschehen. Kannst du dir vorstellen, daß ein Sohn, der seine Mutter wiedergefunden hat, sie von neuem verliert? Ist das denkbar?«
In kurzer Zeit war Veronika wieder zurück. Sie hatte das Werkzeug gefunden. Sie brachte es Franz und es gelang ihr, es in die Zelle hineinzuschieben.
»Bis jetzt ist noch niemand gekommen,« sagte Franz, »aber es kann nicht mehr lange dauern und es ist besser, du bleibst nicht hier. Ich habe wahrscheinlich die ganze Nacht zu tun, da ich ja auch jedesmal, wenn die Wache kommt, aufhören muß. Ich erwarte dich also morgen früh um sieben Uhr. Ach, über Stephans Aufenthalt sind mir allerlei Vermutungen gekommen. Ein gewisses Geräusch unter mir bestätigt meine Annahme, daß er unter mir gefangen sitzt. Die Öffnung, durch die das Licht in meine Zelle fällt, ist zu eng, als daß ich durchkönnte. Gibt es drüben, wo du jetzt stehst, irgendein größeres Fenster?«
»Nein, aber man kann es vergrößern, wenn man die Steine entfernt.«
»Das ist gut, in Maguennocs Werkstatt wirst du eine Leiter finden aus Bambusrohr, an der oben Haken befestigt sind. Du kannst sie leicht morgen früh mitbringen. Nimm auch einige Lebensmittel und ein paar Decken mit, die du in dem Dickicht am Eingang zu der Höhle niederlegen kannst.«
»Was willst du damit anfangen, Liebling?«
»Du wirst schon sehen. Leb' wohl, Mutter, ruh' dich aus und sammle Kräfte, der Tag wird vielleicht anstrengend werden.«
Veronika tat, wie der Sohn sie geheißen hatte.
Am folgenden Morgen eilte sie voller Hoffnung zu der Zelle. Allesgut, der wieder einmal seinem Freiheitsdrang nachging, begleitete sie nicht.
»Sei ganz still, Mutter«, sagte Franz so leise, daß sie ihn kaum verstehen konnte. »Ich werde aus nächster Nähe bewacht und ich glaube, daß man im Gang auf und ab geht. Meine Arbeit ist übrigens wahrscheinlich beendet. Die Steine halten nicht mehr. In zwei Stunden werde ich fertig sein. Hast du die Leiter?«
»Ja.«
»Mach' du inzwischen die Steine um das Fenster los ... damit es schneller geht ... Ich habe wirklich Angst um Stephan ... Und vor allem, sei leise ...«
Veronika entfernte sich.
Das Fenster war kaum mehr als einen Meter vom Boden entfernt und die Steine hielten, wie sie schon vermutet hatte, nur durch ihr eigenes Gewicht und ihre geschickte Anordnung. Die so entstehende Öffnung war sehr breit und es war ihr ein Leichtes, die Leiter, die sie mitgebracht hatte, durchzustecken und sie mit den Haken an dem unteren Sims zu befestigen.
Sie konnte jetzt dreißig oder vierzig Meter weit das Meer überblicken. Den unteren Teil der Felsen konnte sie jedoch nicht sehen, denn unter dem Fenster war ein hervorspringender steil abfallender Granitfelsen, auf dem die Leiter schräg ruhte.
»Das wird Franz von Nutzen sein«, dachte sie.
Ihr Vorhaben schien ihr indes noch sehr gefährlich, und sie fragte sich, ob sie nicht statt ihres Sohnes selbst ihr Leben auf das Spiel setzen sollte.
Sie empfand in diesem Augenblick ein solches Bedürfnis, sich zu opfern, der Wunsch, ihre Liebe durch irgendeine Tat sofort zu beweisen, war in ihr so groß, daß sie, ohne viel nachzudenken, einen Entschluß faßte, wie man im ersten Augenblick eine Aufgabe übernimmt, zu der man innerlich getrieben wird. Nichts konnte sie mehr von ihrem Entschluß zurückhalten. Weder die schlecht befestigte Leiter, deren Haken zu klein waren und das Fenstersims nicht ganz umschlossen, noch der Abgrund, bei dessen Anblick ihr schwindelte. Es mußte gehandelt werden und sie handelte.
Nachdem sie ihren Rock aufgesteckt hatte, kletterte sie an der Mauer hinauf, drehte sich um, kniete auf dem Fenstersims nieder, tastete hinter sich den Raum ab und fand eine Sprosse. Ihr Herz schlug so heftig wie ein Hammer gegen die Brust. Trotzdem war sie tollkühn genug, die beiden Holmen der Leiter zu umfassen und hinunter zu steigen.
Es dauerte nicht lange. Die Leiter hatte zwanzig Sprossen, das wußte sie. Sie zählte sie und auf der zwanzigsten blickte sie nach links und sagte mit einer unaussprechlichen Freude vor sich hin:
»Ach Franz, mein liebes Kind.«
In einer Entfernung von höchstens einem Meter hatte sie eine Vertiefung, eine Art Höhle entdeckt, die den Eingang zu einer direkt in den Felsen gehauenen Grotte zu bilden schien.
»Stephan, Stephan«, stammelte sie, aber mit so leiser Stimme, daß Stephan Maroux, wenn er da war, sie nicht hören konnte.
Ein paar Sekunden hielt sie zögernd inne. Ihre Knie wankten. Sie hatte weder die Kraft hinaufzusteigen, noch in dieser gefährlichen Stellung zu verharren. An einigen Unebenheiten in der Felswand gelang es ihr, sich festzuhalten und so die Leiter zu verschieben, auf die Gefahr hin, sie auszuhaken. Und wie durch ein Wunder gelang es ihr, einen Stein zu fassen, der aus der Felswand herausragte, und den Fuß in die Grotte zu setzen. Mit Aufgebot aller Willenskraft machte sie eine letzte Anstrengung. Mit einem Satz, der ihr das Gleichgewicht wiedergab, gelangte sie in die Grotte.
Sie erkannte sofort eine Gestalt, die mit Stricken gefesselt, auf einem Lager von Stroh lag.
Die Grotte war klein. Sie war mehr hoch als breit und mußte von weitem wie eine einfache Felsnische aussehen. Ihr Eingang lag offen da. Das Licht drang ungehindert ein.
Veronika trat näher. Der Mann rührte sich nicht. Er schlief. Sie neigte sich über ihn, und obwohl sie ihn nicht erkannte, war es ihr doch, als ob eine Erinnerung sich loslöste aus jenen Schleiern der Vergangenheit, hinter den nach und nach alle Bilder unserer Kindheit versinken. Dieses Gesicht war ihr bestimmt nicht vertraut. Es war ein Gesicht mit sanften, regelmäßigen Zügen, mit blondem, zurückgestrichenem Haar, mit einer hohen und blassen Stirn; ein etwas weiches Gesicht, das Veronika an das süße Gesicht einer Freundin aus dem Kloster erinnerte, die schon lange gestorben war.
Mit geschickter Hand löste sie die Stricke, die die beiden Hände umschnürten.
Noch immer erwachte der Gefangene nicht. Er streckte die Arme vor wie zu einer gewohnten Handlung, was ihn aber nicht verhinderte weiter zu schlafen. Man mußte ihn wohl von Zeit zu Zeit freimachen, zum Essen vielleicht und in der Nacht, denn er murmelte:
»Schon ... Aber ich habe noch keinen Hunger ... Und es ist Tag.« Dieser Gedanke setzte ihn selbst in Erstaunen.
Er öffnete halb die Augen und plötzlich richtete er sich auf seinem Lager etwas auf, um die Gestalt, die zum ersten Male am hellen Tag vor ihm stand, zu betrachten. Er war daher nicht sehr erstaunt, daß das Bild nicht gleich Wirklichkeit wurde. Er glaubte wahrscheinlich, es wäre ein Traum oder eine Sinnestäuschung und sagte leise:
»Veronika ... Veronika ...«
Unter Stephans Blick ein wenig befangen, beeilte sich Veronika, die Fesseln völlig zu lösen, und als er jetzt mit aller Deutlichkeit die Hände der jungen Frau an seinen Händen und an seinen gefesselten Beinen fühlte, begriff er das große Wunder ihrer Gegenwart und sagte erregt:
»Sie! ... Sie! ... Ist es denn möglich? Ach, sagen Sie nur ein Wort ... Ein einziges Wort ... Sind Sie es denn wirklich? ...« Und wie zu sich selbst meinte er:
»Sie ist es ... Sie ist es wirklich ... Hier vor mir ...«
Angstvoll fuhr er fort:
»Sie sind es! ... Heute Nacht ... die vergangene Nacht ... So waren nicht Sie es, die immer gekommen ist, jemand anders war es, nicht wahr? Eine Feindin? Ach, verzeihen Sie, daß ich so frage ... Aber ... ich kann nicht verstehen ... Von wo sind Sie hier hereingekommen?«
»Von dort«, sagte sie, indem sie auf das Meer zeigte.
»Oh,« sagte er, »was für ein Wunder!«
Er starrte sie an, geblendet wie von einer Himmelserscheinung. Die Umstände waren so seltsam, daß er nicht einmal daran dachte, die Glut seiner Blicke zu mäßigen. Ganz verwirrt wiederholte sie:
»Ja, von dort ... Franz hat mir den Weg bezeichnet.«
»Ich fragte noch nicht nach ihm«, sagte er. »Sie sind hier und daher war ich sicher, daß er frei sei.«
»Noch nicht,« sagte sie, »aber in einer Stunde.«
Tiefe Stille trat ein, die sie, um ihre Erregung zu verbergen, mit den Worten unterbrach:
»Er wird frei werden ... Sie sollen sehen ... aber man darf ihn nicht erschrecken ... Es gibt Dinge, die er noch nicht weiß.«
Sie merkte, daß er nicht ihren Worten, sondern nur ihrer Stimme lauschte, und daß diese Stimme ihn in eine Art Verzückung zu versetzen schien, denn er lächelte und schwieg.
Nun lächelte sie auch und stellte Fragen, um ihn auf diese Weise zum Antworten zu zwingen.
»Sie haben gleich meinen Namen genannt. Sie kannten mich, nicht wahr? Mir selbst schien es, als ob ich ehedem ... ja, Sie erinnern mich an eine Freundin, die gestorben ... Magdalene ... Ja, Magdalene Ferrand.
»Vielleicht erinnere ich Sie auch an den Bruder dieser Freundin, einen schüchternen Schüler, der oft ins Sprechzimmer des Klosters kam und Sie aus der Ferne bewunderte ...«
»Ja, ja,« bestätigte sie, »wahrhaftig, ich erinnere mich jetzt ... Wir haben sogar mehrmals zusammen geplaudert« ... Sie wurde rot ... »ja, ja, jetzt weiß ich schon ... Sie hießen Stephan ... Aber dieser Name Maroux?«
»Magdalene und ich hatten nicht denselben Vater.«
»Ach so,« sagte sie, »deswegen bin ich nicht daraufgekommen.« Und sie streckte ihm die Hand hin.
»Also Stephan, da wir alte Freunde sind und unsere Bekanntschaft jetzt erneuern, wollen wir von all dem später sprechen. Im Augenblick ist nichts so eilig wie unsere Flucht. Haben Sie dazu die Kraft?«
»Die Kraft, ja, ich habe nicht allzuviel gelitten ... aber wie sollen wir von hier fortkommen?«
»Auf demselben Wege, auf dem ich gekommen bin ... Eine Leiter, die mit dem Gang da oben in Verbindung steht ...«
»Sie haben den Mut gehabt ... Die Tollkühnheit? ...«, sagte er, indem ihm endlich zum Bewußtsein kam, was sie gewagt hatte.
»Ach, es war nicht mehr schwer,« erklärte sie, »Franz war so in Sorge. Er sagte mir, daß Sie sich beide in ehemaligen Folterkammern aufhalten ... in Totenkammern ...«
Man hätte meinen können, diese Worte rissen ihn heftig aus einem Traum und er bemerkte erst jetzt, wie töricht es sei, sich unter solchen Umständen in eine Unterhaltung einzulassen.
»Verlassen Sie mich, Franz hat recht. Ach, wenn Sie wüßten, was Sie wagen! Ich bitte Sie ... Ich bitte Sie ...«
Er war außer sich, wie von einer drohenden Gefahr geängstigt. Sie wollte ihn beruhigen, aber er flehte sie an:
»Noch einen Augenblick länger und Sie sind vielleicht verloren. Bleiben Sie nicht hier ... Ich bin zum Tode verurteilt und zu dem schrecklichsten Tode. Betrachten Sie den Boden, auf dem Sie stehen ... Er sieht aus wie ein Fußboden ... Aber nein, das ist unnütz ... Oh, ich flehe Sie an, gehen Sie fort.«
»Mit Ihnen«, sagte sie.
»Ja, mit mir, aber erst müssen Sie gerettet werden.«
Sie widerstand ihm und sagte fest:
»Wenn Sie und ich gerettet werden sollen, Stephan, ist vor allem Ruhe nötig. Was ich eben, als ich kam, vollbracht habe, können wir nur wieder leisten, wenn wir alle unser Tun genau erwägen und unsere Erregung meistern ... Sind Sie bereit? ... So folgen Sie mir.«
»Ja«, sagte er, von ihrer schönen Sicherheit bezwungen.
Sie ging bis an den Rand des Abgrundes und beugte sich vor.
»Halten Sie meine Hand, damit ich das Gleichgewicht nicht verliere.«
Sie drehte sich um, preßte sich an die Felswand und tastete mit ihrer freien Hand die Höhlung ab.
Als sie die Leiter nicht fühlte, beugte sie sich ein wenig hintenüber.
Die Leiter war verschoben und ohne Zweifel war der eiserne Haken von dem rechten Holm, als Veronika mit etwas zu heftiger Bewegung in die Grotte gesprungen war, abgerutscht, so daß die nur noch an einem Haken hängende Leiter sich wie ein Pendel hin- und herbewegte.
Die unteren Sprossen waren jetzt außer Reichweite.