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XI. Die Gottesgeißel

Vorski! Dieser rätselhafte Mensch, dessen sie bloß zu gedenken brauchte, um vor Schrecken und Schande zu vergehen! Das Ungeheuer Vorski war nicht tot! Die Ermordung des Verräters durch einen seiner Kameraden, sein Begräbnis auf dem Kirchhof von Fontainebleau -- alles war Fabel! Vorski lebte!

Von allen Vorstellungen, die das Gehirn Veronikas hätten beunruhigen können, kam keine dieser einen gleich: Vorski stand mit verschränkten Armen vor ihr.

Sie hätte alles in ihrer Tapferkeit ertragen, nur das nicht. Sie fühlte in sich die Kraft, jedem Feinde die Stirn zu bieten, nur diesem nicht.

Und dieser Mann liebte sie!

Sie wurde rot. Vorski sah mit gierigen Blicken auf das nackte Fleisch ihrer Schultern und Arme, das unter ihrer Bluse hervorschaute. Er betrachtete dieses Fleisch wie eine Beute, die man ihm nicht entreißen konnte. Veronika rührte sich nicht. Empört über die Schande, die er ihr mit seinem Begehren antat, richtete sie sich in die Höhe und maß ihn mit einem Blicke, unter dem er die Augen abwandte.

Plötzlich stieß sie die Worte aus:

»Mein Sohn! Wo ist Franz? Ich will ihn sehen.«

Er erwiderte:

»Unser Sohn ist mir teuer, er hat von seinem Vater nichts zu fürchten.«

»Ich will ihn sehen.«

Er hob die Hände wie zum Schwur:

»Sie sollen ihn sehen, ich schwöre es Ihnen.«

»Tot vielleicht?« fragte sie mit dumpfer Stimme.

»Lebendig wie Sie und ich!«

Wiederum trat Stille ein. Offenbar suchte Vorski nach Worten und bereitete eine Rede vor, die den unerbittlichen Kampf einleiten sollte.

Er war ein Mann von athletischer Gestalt und mächtigem Körperbau, doch etwas krummen Beinen. Er hatte einen dicken, geschwollenen Hals und einen zu kleinen Kopf, der von zwei Strähnen blonder Haare bedeckt war. Was ehemals an ihm den Eindruck brutaler Kraft hervorgerufen hatte, die aber einer gewissen Vornehmheit nicht entbehrte, war mit dem Alter zur groben und gewöhnlichen Haltung eines berufsmäßigen Boxers geworden, wie man sie auf den Jahrmärkten sieht. Der heimliche Reiz, den er ehemals auf Frauen ausgeübt haben mochte, war verschwunden. Es war nur noch der gierige, grausame Gesichtsausdruck übrig geblieben, dessen Härte er durch ein kühles Lächeln zu mildern suchte.

Er rückte einen Sessel herbei und verbeugte sich vor Veronika.

»Unsere Unterhaltung, gnädige Frau, wird lang und etwas peinlich sein, wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Da er keine Antwort erhielt, fuhr er unbeirrt fort:

»Da auf dem Tisch ist übrigens alles vorhanden, womit Sie sich ein wenig erfrischen können, etwas Biskuit, ein Tropfen Wein, ein Glas Champagner werden Ihnen nicht unangenehm sein.«

Er bemühte sich eine übertriebene Höflichkeit an den Tag zu legen.

Sie zuckte die Achseln und verharrte in Stillschweigen.

»Wie Sie wünschen,« sagte er, »aber auf diese Weise zwingen Sie mich, auch stehen zu bleiben. Ich bin ein Edelmann, der sich zu benehmen weiß. Übrigens werden Sie wohl so freundlich sein, mich zu entschuldigen, wenn ich vor Ihnen in dieser etwas nachlässigen Kleidung erscheine. Die Höhlen von Sarek begünstigen die Erneuerung meiner schon recht defekten Garderobe nicht.«

Er hatte eine alte Hose und eine rote zerrissene Wollweste an. Darüber aber trug er einen weißen Kittel, der durch eine Art Strick zusammengehalten war. Das war ein recht gesuchter, bizarrer Aufputz, den er noch durch theatralische Haltung und Nachlässigkeit des Blickes zu unterstreichen schien.

»Ich denke, gnädige Frau, wir berühren nur kurz, was früher vorgekommen ist, meinen Sie nicht auch?«

Veronika antwortete nicht. Er fuhr in posierendem Tone fort:

»Als Sie mich noch liebten ...«

»Ich verbiete Ihnen ...« sagte sie angeekelt.

Er lächelte verbindlich.

»Seien Sie mir nicht böse, gnädige Frau. Wie ich auch unser früheres Verhältnis bezeichnen mag -- Sie sind meiner Achtung in jedem Falle sicher. Also, als Sie mich noch liebten, war ich, das muß ich leider zugeben, ein Wüstling ohne Herz, der aber trotzdem über eine gewisse Lebensart verfügte, dem jedoch die für eine Ehe notwendigen Eigenschaften fehlten. Diese Eigenschaften würde ich unter Ihrem Einfluß mir leicht angeeignet haben, da ich Sie bis zum Wahnsinn liebte. Es war in Ihnen eine Reinheit, die mich entzückte, ein Reiz und eine Unverdorbenheit, wie ich sie noch bei keiner anderen Frau gefunden hatte. Es wäre nur ein bißchen Geduld notwendig gewesen, etwas Nachsicht, um mich vollständig zu ändern. Unglücklicherweise herrschte von der ersten Minute unserer Verlobung an eine unüberwindliche Mißstimmung zwischen uns. Sie hatten mit Widerwillen in die Verlobung eingewilligt, Sie hegten für Ihren Mann nur Haß und Abscheu. Das sind Dinge, die ein Mann wie Vorski nicht verzeiht. Genug Frauen und zwar sehr stolze, hatten sich von meinem Zartgefühl überzeugt, so daß ich mir in dieser Hinsicht nichts vorzuwerfen brauchte. Wenn die kleine Bürgerstochter, die Sie waren, sich mir feindlich zeigte, nun, um so schlimmer für sie. Vorski gehört zu denen, die aus Instinkt und Neigung handeln. Wenn diese Instinkte und Neigungen Ihnen mißfielen, nun, so war das Ihre Schuld, gnädige Frau.

Aber, wie gesagt, ich liebte Sie, und als ein Jahr später die Ereignisse sich überstürzten, als der Verlust Ihres Sohnes Sie ins Kloster getrieben hatte, blieb ich mit dieser unerwiderten, heißen, quälenden Liebe allein zurück. Was nun aus mir wurde, können Sie sich leicht vorstellen. Ich führte ein ausschweifendes, abenteuerliches Leben. Vergebens suchte ich Sie wenigstens solange zu vergessen, bis mir irgend jemand eine Spur von Ihnen geben würde. Als ich diese Spur gefunden zu haben glaubte, verfolgte ich sie voller Hoffnung, um nachher nur noch mehr in Mutlosigkeit und Einsamkeit zu versinken. So fand ich Ihren Vater und Ihren Sohn wieder. So entdeckte ich hier ihren Aufenthalt. Ich überwachte sie, belauschte sie entweder persönlich oder durch Mittelpersonen, die mir ergeben waren. Ich hoffte, auch eines Tages bis zu Ihnen zu gelangen, dem einzigen Ziel meiner Bemühungen und meiner Wünsche. Da brach der Krieg aus. Man brachte mich in ein Konzentrationslager ...«

Er hielt inne. Seine Gesichtszüge wurden noch härter. Dann fuhr er fort:

»Ach, was für ein Höllenleben habe ich dort geführt!

Vorski, Vorski, der Sohn eines Königs unter Kaffeehauskellnern und allem möglichen Gesindel. Vorski gefangen, von allen verachtet und verabscheut. Vorski beschmutzt und zerrissen. Gott, was habe ich gelitten! Aber schweigen wir davon. Was ich tun konnte, um dem Tode zu entgehen, habe ich getan. Wenn ein anderer den mir zugedachten Dolchstich erhielt, wenn ein anderer unter meinem Namen in irgendeinem Winkel Frankreichs verscharrt wurde, so bereue ich das nicht. Er oder ich -- es gab keine andere Wahl. Ich habe gewählt. Ich habe nicht etwa nur aus Liebe zum Leben so gehandelt, sondern weil etwas ganz Neues, eine unbekannte Morgenröte sich am Horizont erhob und mich mit ihrem Glanze blendete. Doch das ist mein Geheimnis. Davon, wenn Sie wollen, werden wir später sprechen. Im Augenblick ...«

Alle diese Worte, die mit dem Überschwang eines auf seine Beredsamkeit stolzen Schauspielers vorgebracht wurden, hatten Veronika nicht aus ihrer kühlen Ruhe bringen können. Keine seiner lügnerischen Erklärungen vermochte sie zu rühren. Sie schien geistesabwesend.

Er näherte sich ihr, um sie zur Aufmerksamkeit zu zwingen, und sagte in aggressivem Tone:

»Sie scheinen nicht zu begreifen, gnädige Frau, daß meine Worte durchaus ernst gemeint sind. Ich rechne nicht auf Ihre Versöhnlichkeit, denn es gibt ja keine Versöhnung zwischen uns, aber auf Ihre Vernunft, auf Ihren Sinn für die Wirklichkeit. Sie können ja Ihre gegenwärtige Lage nicht verkennen und ebensowenig die Ihres Sohnes ...«

Sie hörte nicht zu. Davon war er überzeugt. Ganz in Gedanken an ihren Sohn versunken, hörte sie nur Worte, die für sie nicht die geringste Bedeutung hatten. Nur schwer vermochte er seinen Zorn zu verbergen.

»Mein Vorschlag ist einfach und ich will hoffen, daß Sie ihn nicht zurückweisen. Im Interesse Ihres Sohnes Franz und weil ich menschlich fühle und Mitleid mit Ihnen habe, bitte ich Sie, diese Vergangenheit, von der ich Ihnen gesprochen habe, mit der Gegenwart zu versöhnen. Vom gesellschaftlichen Standpunkt wurde ja das Band, das uns vereinte, niemals zerrissen. Sie sind dem Namen nach und vor dem Gesetz immer noch ...« Er schwieg, beobachtete Veronika einen Moment, dann legte er ihr heftig die Hand auf die Schulter und schrie:

»Höre zu, Kanaille. Vorski spricht«

Veronika verlor das Gleichgewicht. Sie hielt sich an der Lehne eines Sessels fest. Dann verschränkte sie die Arme über der Brust und sah ihren Gegner mit einem Ausdruck unsäglicher Verachtung an.

Noch einmal versuchte Vorski sich zu beherrschen.

»Ich wiederhole, die Vergangenheit besteht immer noch. Ob Sie wollen oder nicht, gnädige Frau, Sie sind die Gattin Vorskis, und auf Grund dieser unleugbaren Tatsache habe ich Sie soeben gefragt, ob Sie sich als solche heute noch betrachten wollen. Verstehen Sie mich wohl. Wenn ich auch nicht Ihre Liebe und Ihre Achtung zu erlangen erwarte, so werde ich doch nicht dulden, daß Sie sich mir so feindlich gegenüberstellen wie einst. Ich will nicht mehr die Frau von ehemals. Ich will ... will eine Frau ... eine Frau, die sich unterwirft, die meine ergebene, aufmerksame, treue Gefährtin ist ...«

»Ihre Sklavin«, flüsterte Veronika.

»Jawohl,« rief er, »Sklavin. Das ist der richtige Ausdruck. Ich schrecke ebensowenig vor Worten wie vor Taten zurück. Und warum auch keine Sklavin, wenn die Sklavin ihre Pflicht des blinden Gehorsams begreift? Sind Sie mit dieser Rolle einverstanden? Wollen Sie mir mit Leib und Seele angehören? Auf Ihre Seele übrigens verzichte ich. Was ich will ... durchaus will ... Sie wissen es ja wohl, nicht wahr, was ich will ... das, was ich nie gehabt habe ... Ihr Mann? Haha, bin ich jemals Ihr Mann gewesen? Wenn ich zurückdenke, finde ich nicht eine einzige Erinnerung, die in mir etwas anderes als den erbarmungslosen Kampf zweier Feinde wachruft. Ich sehe Sie an und erblicke eine Fremde, jetzt wie damals! Da aber das Glück sich gewendet hat und da ich Sie in meiner Gewalt habe, soll es in Zukunft nicht so bleiben. Schon morgen nicht mehr, schon diese Nacht nicht mehr.«

Er wartete nicht auf Ihre Antwort und fuhr mit erhobener Stimme fort:

»Machen Sie keine Ausflüchte, keine lügnerischen Versprechungen. Wollen Sie? Wenn ja, so knien Sie nieder und sprechen Sie es laut und deutlich aus.«

Sie zuckte die Achseln und antwortete nicht. Vorski fuhr in die Höhe. Die Adern auf seiner Stirn schwollen, aber noch hatte er sich in der Gewalt.

»Gut, darauf war ich gefaßt. Aber die Folgen Ihrer Weigerung werden so ernst für Sie sein, daß ich noch einen letzten Versuch machen will. Vielleicht gilt diese Weigerung dem Flüchtling, der ich bin, dem armen Teufel, der ich scheine. Und vielleicht wird die Wahrheit an Ihren Gedanken etwas ändern. Sie ist hell und wunderbar, diese Wahrheit. Wie ich Ihnen bereits sagte: ein ungeahntes Morgenrot steigt aus der Dunkelheit empor, und Vorski, der Sohn des Königs, ist von einem Strahlenglanze umhellt ...«

Er hatte die Manie, von sich in der dritten Person zu sprechen. Veronika kannte das. Es war ein Zeichen seiner unerträglichen Eitelkeit. Sie bemerkte in seinen Augen wieder das eigentümliche Leuchten, das ihm in Augenblicken der Exaltation eigentümlich war und das offenbar mit seinen alkoholischen Neigungen zusammenhing, das jedoch auch wohl ein Zeichen noch anderer Störungen sein mochte. War er nicht tatsächlich ein Irrsinniger, und hatte dieser Irrsinn sich mit den Jahren nicht noch erhöht!?

Er fuhr fort: »Ich hatte also hier jemanden zurückgelassen, der Ihren Vater nach mir weiter überwachen sollte. Wir hatten zufällig von dem Vorhandensein von Höhlen unter der Heide und von einem Eingang zu diesen Höhlen erfahren. Dahin zog ich mich nach meiner letzten Flucht zurück und dort wurde ich auch durch aufgefangene Briefe über die Nachforschungen Ihres Vaters, bezüglich des Geheimnisses von Sarek und seiner anderen Entdeckungen, auf dem Laufenden gehalten. Sie erraten, daß meine Wachsamkeit sich verdoppelte. Denn je weiter diese ganze Geschichte fortschritt, eine desto merkwürdigere Übereinstimmung fand ich darin mit gewissen Ereignissen meines eigenen Lebens. Ja, es war kein Zweifel mehr möglich. Das Schicksal hatte mich für eine Aufgabe ausersehen, die ich allein erfüllen konnte und an der mitzuwirken ich allein berechtigt war. Verstehen Sie das? Seit Jahrhunderten war Vorski der Auserwählte des Schicksals. Der Name Vorski stand im Buche der Zeit geschrieben. Ich war bereit und machte mich sogleich ans Werk, indem ich unerbittlich den Befehlen des Schicksals gehorchte. So verfolgte ich also den mir vorgeschriebenen Weg. Heute braucht Vorski nur noch den Lohn dieser Bemühungen zu ernten. Vorski braucht nur die Hand auszustrecken. Ich strecke diese Hand aus, und mein sind Reichtum, Glück, unermeßliche Macht. In wenigen Stunden wird Vorski, der Sohn eines Königs, auch der König der Welt sein. Dieses Königreich legt er Ihnen zu Füßen.«

So deklamierte er weiter wie ein von seinen eigenen Phrasen berauschter Komödiant. Er beugte sich zu Veronika hinüber:

»Wollen Sie Königin, Kaiserin werden und sich hoch über alle anderen Frauen erheben, wie sich auch Vorski über alle anderen Männer erheben wird? Königin durch Gold und Macht, wie Sie es durch Schönheit sind. Wollen Sie? Sklavin Vorskis, aber Herrin über alle die, denen Vorski zu befehlen haben wird; wollen Sie? Verstehen Sie wohl: Sie haben zwischen zwei Entschlüssen zu wählen. Entweder das Königtum, das ich Ihnen biete, oder ...«

Er machte eine Pause, dann vollendete er mit heiserer Stimme:

»Oder das Kreuz.«

Veronika erbebte. Wieder dieses schreckliche Wort Jetzt wußte sie den Namen des unbekannten Henkers.

»Das Kreuz«, wiederholte er mit einem furchtbaren Lächeln der Genugtuung. »Sie haben zu wählen. Auf der einen Seite alle Freuden und Ehren des Lebens, auf der anderen den fürchterlichsten Martertod. Und beachten Sie wohl, ich sage das nicht aus zweckloser Grausamkeit oder um mir dadurch ein besonderes Ansehen zu geben; nein, ich bin nur das Werkzeug. Der Befehl kommt von viel höherer Stelle, nämlich vom Schicksal. Damit der göttliche Wille geschehe, muß Veronika von Hergemont sterben. Am Kreuze sterben. Das ist unabänderlich. Man vermag nichts gegen das Schicksal. Man vermag nichts dagegen, wenn man nicht wie Vorski über alle Kühnheit und alle List verfügt. Wenn Vorski im Walde von Fontainebleau an Stelle des echten Vorski einen falschen setzen konnte und so dem Schicksal zu entgehen vermochte, das ihn seit seiner Kindheit bereits zum Tode durch das Messer eines Freundes verdammte, so wird er wohl auch Mittel und Wege finden, damit der göttliche Wille geschehe und dennoch die, die er liebt, am Leben bleibt. Aber sie muß sich unterwerfen. Ich biete meiner Braut die Rettung, den Tod meiner Feindin. Was sind Sie? Meine Braut oder meine Feindin? Was wählen Sie? Das Leben an meiner Seite mit allen Freuden und Ehren ... oder den Tod?«

»Den Tod«, antwortete schlicht Veronika.

Er machte eine drohende Bewegung.

»Es ist mehr als der Tod, es ist die Folter. Was wählen Sie?«

»Die Folter.«

»Aber Sie sind nicht allein! Bedenken Sie, es ist noch Ihr Sohn da. Verschwinden Sie, so bleibt er. Wenn Sie sterben, hinterlassen Sie ein Waisenkind. Noch schlimmer: wenn Sie sterben, so hinterlassen Sie ihn mir. Ich bin der Vater, ich habe alle Rechte. Was wählen Sie?«

»Den Tod«, sagte sie wiederum.

Er wurde wütend.

»Den Tod für Sie, gut. Aber wenn es nun auch der Tod für ihn ist? Wenn ich ihn nun hier vor Sie hinstelle, Ihren Franz, wenn ich ihm das Messer an die Kehle setze und Sie zum letzten Male frage, was werden Sie antworten?«

Veronika schloß die Augen. Noch nie hatte sie so gelitten, Vorski hatte ihre empfindlichste Stelle getroffen.

»Ich will sterben.«

Nun bekam Vorski einen neuen Wutanfall. Er überhäufte sie mit Schmähungen: »Ah! wie muß mich doch diese Närrin hassen! Alles, alles will sie über sich ergehen lassen, sogar den Tod ihres heißgeliebten Sohnes, ehe sie nachgibt! Eine Mutter tötet ihren Sohn! Jawohl, Ihren Sohn töten Sie, um mir nicht anzugehören. Aber nein, das ist ja nicht möglich, an einen solchen Haß kann ich nicht glauben! Nein, dahinter muß noch etwas anderes stecken. Vielleicht eine Liebschaft? Doch nein, Veronika liebt nicht. Ja, worauf hoffen Sie denn noch? Vielleicht auf mein Mitleid, meine Schwäche? Ah, Sie kennen mich schlecht. Vorski kennt kein Mitleid, Vorski wird nicht schwach! Sie haben mich ja am Werke gesehen. Habe ich gewankt, als ich meine schreckliche Mission erfüllte? Ist Sarek nicht gemäß der Vorschrift verwüstet worden? Sind die Barken nicht untergegangen und die Leute versunken? Wurden die Schwestern Archignat nicht an den Stamm der alten Eichen angenagelt? Ich wanken? Als ich noch ein Kind war, habe ich mit diesen beiden Händen hier Hunde und Vögel erwürgt, lebendigen Ziegen das Fell vom Leibe gezogen und Hühner im Hofe lebendig gerupft. Mitleid? Wissen Sie, wie meine Mutter mich nannte? »Vorski, du Gottesgeißel«, weissagte diese große Seherin, »du wirst sein das Werk der Vorsehung. Du wirst sein die Schneide des Schwertes, die Spitze des Dolches, die Kugel der Flinte, die Schlinge des Strickes Gottesgeißel! Eingeschrieben ist dein Name in das Buch der Zeit. Er flammt unter den Sternen, die über deiner Geburt strahlten. Gottesgeißel! Gottesgeißel!«

Und Sie hoffen, daß meine Augen sich mit Tränen füllen werden? Weint denn ein Henker? Die Schwachen weinen, die Furcht vor Strafe haben und glauben, daß ihre Verbrechen gegen sie Zeugnis ablegen werden. Aber ich?! Was habe ich zu fürchten? Ich bin Gottes Mitschuldiger. Gott selber spornt mich an, er, der weder Gutes noch Böses kennt, wenn es sich um die Größe seiner Söhne handelt. In mir ist der Geist des Bösen; ich liebe das Böse, ich will es! Du wirst also sterben, Veronika, und ich werde lachen, wenn ich dich am Kreuz hängen sehe.«

Und er lachte wirklich. Mit großen Schritten ging er geräuschvoll auf und ab. Er hob die Arme in die Höhe, und Veronika, die vor Angst bebte, bemerkte, wie aus seinen blutunterlaufenen Augen der Wahnsinn blickte.

Er machte wieder einige Schritte, ging dann auf sie zu und rief:

»Auf die Knie, Veronika! Bitte um meine Liebe! Sie allein kann Sie retten. Vorski kennt weder Mitleid noch Furcht. Aber er liebt Sie, und seine Liebe schreckt vor nichts zurück. Das machen Sie sich zunutze, Veronika! Appellieren Sie an die Vergangenheit. Werden Sie wieder das Mädchen von einst, dann sinke ich selbst vielleicht Ihnen zu Füßen. Veronika, weisen Sie mich nicht zurück. Man verschmäht keinen Mann wie mich ... Man trotzt nicht dem, der liebt! ... Oh, wie ich dich liebe, Veronika! wie ich dich liebe!«

Sie unterdrückte einen Aufschrei. Sie fühlte auf ihren entblößten Armen seine schändlichen Hände. Sie wollte sich losmachen, doch er, stärker als sie, gab sie nicht frei, sondern fuhr mit keuchender Stimme fort:

»Stoße mich nicht von dir ... das wäre unvernünftig ... verrückt wäre das ... du weißt, ich bin zu allem fähig ... Nun? ... Das Kreuz ist schon schrecklich genug ... Willst du auch noch, daß dein Sohn vor deinen Augen sterbe? ... Ach, wie du mich haßt! ... Gut, ich lasse mir deinen Haß gefallen ... Ich liebe deinen Haß, deinen verächtlich zuckenden Mund ... er ist mir lieber, als wenn er mich küßte ...«

Er schwieg. Vergebens sträubte sich Veronika gegen seine Umarmung, die immer stürmischer wurde. Sie wurde schwach; ihre Knie wankten. Ihr Gesicht war ganz nahe an dem seinen, die Augen dieses Mannes schienen ihr blutig, und sie spürte den Atem des Ungeheuers.

Da in ihrer Todesangst biß sie ihn und, seine Verwirrung benutzend, wand sie sich los, wich bis an die Hinterwand des Zimmers zurück, zog einen Revolver hervor und schoß mehrere Male auf ihn.

Die beiden Kugeln pfiffen an Vorskis Ohren vorbei. Kalksplitter spritzten hinter ihm von den Wänden. Sie hatte zu schnell aufs Geratewohl gefeuert

»Dirne!«

Schon hatte er sie mitten um den Leib gepackt und warf sie mit unwiderstehlicher Gewalt auf den Diwan. Dann zog er einen Strick aus der Tasche und knebelte sie. Darauf trat einen Augenblick Stille ein. Vorski wischte sich den Schweiß von der Stirne und goß darauf gierig ein Glas Wein in seine Kehle.

»So ist es besser«, sagte er und setzte seinen Fuß auf den Leib des Opfers. »Jeder von uns ist jetzt an seinem Platz. Du, die Schöne, bist gefesselt wie ein erbeutetes Wild. Ich stehe vor dir und setze meinen Fuß auf deinen Leib. Das ist kein Scherz, nicht wahr? Man beginnt zu begreifen, daß es jetzt Ernst wird? Oh, fürchte nichts, Kanaille! Vorski vergewaltigt kein Weib. Eins nur vermag ihm Vergessen und Frieden zu geben: dein Tod. Und da wir darüber einig sind, ist ja alles in Ordnung, denn du wolltest doch sterben, nicht wahr?«

»Ja!« erwiderte sie mit Festigkeit.

»Und du willst auch, daß dein Sohn stirbt?«

»Ja«, sagte sie.

Er rieb sich die Hände.

»Ausgezeichnet, wir sind also einig und die Zeit des dummen Redens ist vorüber. Das eigentliche Drama beginnt, deine schönen Augen haben geweint, aber jetzt, meine Liebe, sollen sie blutige Tränen vergießen. Tausendmal sollst du sterben, bevor du wirklich stirbst. Dein armes Herz soll bluten, wie nie das Herz einer Frau und Mutter geblutet hat. Bist du bereit, Veronika? Noch grausamere Worte wirst du vernehmen, als die, die du bereits gehört hast. Ach, dir bleibt nichts erspart, meine Schöne ...«

Gierig stürzte er ein zweites Glas Wein herunter, dann lehnte er sich an sie und flüsterte ihr ins Ohr:

»Höre, Geliebte, ich habe dir eine Kleinigkeit zu beichten. Bevor uns das Leben zusammenführte, war ich schon verheiratet ... oh, sei nur nicht böse! es gibt für eine Frau größere Katastrophen und für einen Mann größere Verbrechen als das ... Von dieser ersten Frau habe ich einen Sohn, einen Sohn, den du, glaub ich, kennst, denn du hast bereits in der unterirdischen Zelle einige liebenswürdige Worte mit ihm gewechselt ... Unter uns: ein wahrer Strauchdieb, dieser vortreffliche Reinhold. Ein Bengel von der schlimmsten Sorte, in dem ich zu meiner Genugtuung einige meiner besten Instinkte und Eigenschaften zur höchsten Vollendung entfaltet finde. Er ist mein zweites Ich, übertrifft mich noch und setzt mich zuweilen in Furcht. Donnerwetter, was für ein Dämon! In seinem Alter -- mit fünfzehn Jahren, war ich ein Engel im Vergleich zu ihm. Jetzt soll dieser Junge mit unserem andern Sohne, mit unserem lieben Franz, einen Kampf bestehen. Jawohl, so will es die Laune des Schicksals, dessen hellsichtiger und kluger Deuter ich bin. Wohlgemerkt, es handelt sich nicht um einen langen und fortwährenden Kampf. Im Gegenteil ... um etwas Kurzes, Heftiges, Endgültiges, sagen wir um einen Zweikampf, einen ernsten Zweikampf ... Nicht um so eine Balgerei, bei der es mit ein paar Schrammen abgeht ... nein, um einen Kampf auf Leben und Tod, denn einer der beiden Gegner muß auf der Strecke bleiben, einen Sieger und einen Besiegten muß es geben, kurzum einen Lebenden und einen Toten.«

Veronika hatte ein wenig den Kopf zur Seite gedreht und sah, daß er lächelte. Niemals war ihr der Wahnsinn dieses Mannes deutlicher zum Bewußtsein gekommen, der bei dem Gedanken an einen Kampf um Tod und Leben zwischen zwei Kindern, seinen Kindern, lachte. All das war so unwahrscheinlich, daß Veronika nicht darunter litt. Es lag gewissermaßen außerhalb der Grenzen des Leidens.

»Es kommt noch schlimmer, Veronika,« sagte er, indem er heiter jede Silbe betonte, »noch schlimmer ... Ja, das Schicksal hat sich etwas Raffiniertes ausgedacht, das mir eigentlich widerstrebt, das ich aber als sein getreuer Diener ausführen muß. Du sollst nämlich diesem Zweikampfe beiwohnen ... Du, seine Mutter, sollst ihn kämpfen sehn, deinen Franz. Und ich frage mich, ob unter dieser scheinbaren Bosheit des Schicksals für dich nicht auch eine Gnade liegt. Denn, wenn Reinhold auch der stärkere und geübtere von beiden ist und Franz also logischerweise unterliegen muß, so wird doch seine Kühnheit und Kraft angespornt werden, wenn er weiß, daß seine Mutter zusieht.«

Er beugte sich über sie und schrie wütend:

»Nun, gibst du endlich nach?«

»Nein, nein!« stöhnte sie.

»Wirst du niemals nachgeben?«

»Niemals! ... niemals! ... niemals!«

»Du haßt mich mehr als alles?«

»Ich hasse dich noch mehr, als ich meinen Sohn liebe!«

»Du lügst! Du lügst!« grinste er ... »Nichts geht dir über die Liebe zu deinem Sohn!«

»Mein Haß gegen dich!«

Alle Empörung, alle bisher unterdrückte Wut Veronikas entlud sich jetzt. Und sie schleuderte ihm ins Gesicht: »Ich hasse, hasse dich! Und wenn mein Sohn unter meinen Augen sterben sollte, lieber bin ich Zeugin seines Todeskampfes, als daß ich deine verruchte Gegenwart länger ertrage. Du hast meinen Vater getötet ... Du bist ein gemeiner Mörder ... ein wahnsinniger Verbrecher bist du ... ich hasse dich!«

Er hob sie auf, trug sie zum Fenster hin und warf sie dort zu Boden:

»Auf die Knie! Auf die Knie! Die Strafe beginnt! Die Dirne macht sich über mich lustig! Gut, du sollst gleich sehen!«

Er drückte sie auf die Knie nieder, stieß sie gegen die Wand, öffnete das Fenster und band sie mit Hals und Armen an dem eisernen Geländer des Balkons fest. Dann steckte er ihr noch als Knebel ein Taschentuch in den Mund.

»Und jetzt gib acht!« rief er. »Der Vorhang wird gleich aufgehen und du wirst den kleinen Franz bei der Arbeit sehen ... Haha, du haßt mich, du ziehst die Hölle einem Kusse Vorskis vor. Schön, Liebste, du sollst sie zu kosten bekommen, die Hölle. Einen kleinen Vorgeschmack sollst du haben von meiner gar nicht banalen Erfindung. Erst der Zweikampf, dann das Kreuz; bete, Veronika, und rufe den Himmel um Beistand an. Dein Junge freilich wartet auf einen Retter, auf den Theatercoup irgendeines Don Quichotte. Er soll nur kommen. Vorski wird ihn nach Verdienst empfangen. Es handelt sich nicht mehr um Sarek und um den Schatz, nicht mehr um das große Geheimnis und alle möglichen Wundertaten des Gottessteins. Es handelt sich um mich. Vorski rächt sich. Herrliche Stunde für mich! Wahre Wollust! Böses zu tun, mit vollen Händen, so wie andere Gutes tun! ... Ah, welche Lust, Vorski zu sein!«


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