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Kapitel XVII.
Von der Unendlichkeit.

§ 1. Philal. Zu den wichtigsten Begriffen gehören die Begriffe des Endlichen und des Unendlichen, die als Modi der Quantität betrachtet werden.

Theoph. Genau gesprochen kann es zwar eine Unendlichkeit von Dingen geben (nämlich mehr als man jemals angeben kann), nicht aber eine unendliche Zahl oder Linie, noch irgendeine andere unendliche Größe, wenn man sie als ein wirkliches Ganze nimmt, wie leicht zu zeigen ist. Dies meinten wohl die Scholastiker (oder hätten es meinen sollen), wenn sie in ihrer Sprache ein synkategorematisches Unendliche, nicht aber ein kategorematisches Unendliche zuließen »Synkategorematisch« heißt ein Ausdruck, der keine selbstständige Bedeutung besitzt, sondern seinen Sinn erst in Verbindung mit anderen Gliedern erhält, also nur mit ihnen zusammen »ausgesagt« werden kann (συνκατηγορεῖν). Die Bezeichnung des Unendlichen als »synkategorematisch« (vgl. auch Band I, S. 99) soll also vor allem die Auffassung, daß es ein für sich bestehendes, »aktuelles« Ding sei, abwehren: der Ausdruck »unendlich« bezeichnet nur die »Bestimmung« der Zahl oder Größe, daß in ihr ein unbeschränkter Fortgang möglich ist.. Das wahre Unendliche ist, streng genommen, nur im Absoluten, welches jeder Zusammensetzung vorausgeht und nicht durch Zusammenfügen von Teilen gebildet ist.

Philal. Wenn wir unsere Idee des Unendlichen auf das höchste Wesen anwenden, so geht diese Bezeichnung ursprünglich auf seine Dauer und seine Allgegenwart, und in einem mehr figürlichen Sinne, auf seine Macht, Weisheit, Güte und seine übrigen Attribute.

Theoph. Nicht in einem figürlichen, aber doch in einem weniger unmittelbaren Sinne, denn die Größe der anderen Attribute erkennt man dadurch, daß man sie auf diejenigen bezieht, bei denen die Betrachtungsweise von Teil und Ganzem statthat.

§ 2. Philal. Ich nahm es für ausgemacht, daß der Geist das Endliche und das Unendliche als Modifikationen der Ausdehnung und der Dauer betrachtet.

Theoph. Ich finde nicht, daß dies ausgemacht ist: vielmehr gilt der Gesichtspunkt des Endlichen und Unendlichen überall dort, wo es eine Größe oder Menge gibt. Auch ist das wahrhafte Unendliche keine Modifikation, sondern vielmehr das Absolute selbst; jede Modifikation dagegen schließt eine Beschränkung in sich und führt somit auf ein Endliches.

§3. Philal. Wir haben geglaubt, daß die Idee eines unendlichen Raumes daher stammt, daß das Vermögen des Geistes, seine Vorstellung des Raumes durch immer neue Zusätze ohne Ende zu erweitern, stets das gleiche bleibt.

Theoph. Man muß hinzusetzen, daß dies auf der Erkenntnis beruht, daß stets der gleiche Grund, weiter fortzuschreiten, bestehen bleibt. Nehmen wir eine gerade Linie und verlängern wir sie dergestalt, daß sie das Doppelte von der ersten ist. Nun ist klar, daß die zweite, da sie der ersten vollkommen ähnlich ist, ebenso wie diese verdoppelt werden kann, woraus sich eine dritte ergibt, die wiederum den beiden vorangehenden ähnlich ist, und da der gleiche Grund immer bestehen bleibt, so ist es unmöglich, daß man im weiteren Fortschreiten jemals aufgehalten werde, so daß die Linie bis ins Unendliche verlängert werden kann. Der Gedanke des Unendlichen stammt also aus dem Gedanken der Ähnlichkeit oder der Identität des Grundes her: und sein Ursprung ist derselbe, wie der der allgemeinen und notwendigen Wahrheiten. Hieraus geht hervor, daß das, was diesem Gedanken erst seinen Abschluß gibt, in uns selbst liegt und nicht aus sinnlichen Erfahrungen stammen kann: ganz so, wie auch die notwendigen Wahrheiten weder durch Induktion, noch durch die Sinne bewiesen werden können. Die Idee des Absoluten ist innerlich in uns, wie die des Seins: und die verschiedenen Formen des Absoluten sind nichts anderes als die Attribute Gottes. Von ihnen kann man sagen, daß sie die Quelle der Ideen sind, wie Gott selbst das Prinzip der Wesenheiten ist. Hinsichtlich des Raumes bedeutet die Idee des Absoluten nichts anderes, als die Idee der Unermeßlichkeit Gottes, und das gleiche gilt von den anderen Attributen. Aber man täuscht sich, wenn man sich einen absoluten Raum erdenkt, der ein aus Teilen zusammengesetztes unendliches Ganze sein soll. So etwas gibt es nicht; vielmehr ist dies ein Begriff, der in sich selbst widersprechend ist, und die unendlichen Ganzen, wie ihr Gegenstück, das Unendlich-Kleine, sind nur in der Rechnung der Geometer in Gebrauch, ganz wie die imaginären Wurzeln der Algebra S. Band I, S. 98 f.; Band II, S. 368 f., S. 403 u. ö..

§6. Philal. Man kann sich auch eine Größe denken, ohne sich ein Auseinander von Teilen zu denken. Wenn ich der vollkommensten Idee vom blendendsten Weiß, die ich mir bilden kann, eine andere von einem gleichen oder weniger lebhaften Weiß hinzufüge (denn die Idee eines noch intensiveren Weiß kann ich ihr nicht hinzufügen, da die erste Idee bereits das blendendste Weiß, das ich tatsächlich vorstellen kann, gewesen sein soll), so vermehrt oder vergrößert dies meine Idee in keiner Weise; man nennt darum die verschiedenen Ideen des Weißen Grade Der Gedanke Lockes hat hier durch die Zusammenziehung, die er in Leibniz' Wiedergabe erfährt, an Klarheit verloren. Locke stellt sich (Essay II, 17, 6) die Frage, warum die Idee der Unendlichkeit nur auf Raum und Dauer, nicht aber auf beliebige andere Qualitäten angewandt, also z. B. nicht von »unendlicher Weiße« oder »unendlicher Süßigkeit« gesprochen werde. Er antwortet hierauf, daß nur solche Ideen, die wir als aus Teilen bestehend und durch Hinzufügung von Teilen beständig wachsend denken, der Anwendung des Unendlichkeitsbegriffs Raum geben. Diese Voraussetzung aber sei bei den Qualitäten des Weißen und Süßen nicht erfüllt: hier gebe es vielmehr ein Maximum (des »Grades«) über das hinaus keine Vergrösserung, durch Hinzufügung anderer Grade, möglich sei..

Theoph. Ich verstehe die Beweiskraft dieser Betrachtung nicht recht: denn es hindert doch nichts, daß wir die Perzeption eines noch blendenderen Weiß empfangen können, als wir sie gegenwärtig wirklich haben. Der wahre Grund dafür, daß man Ursache zu der Annahme hat, die Weiße lasse sich nicht bis ins Unendliche vermehren, liegt darin, daß sie keine ursprüngliche Eigenschaft ist. Die Sinne geben nur eine verworrene Erkenntnis von ihr: und würde man von ihr eine deutliche besitzen, so würde man sehen, daß sie eine Folge der Struktur ist und sich ausschließlich auf den Bau des Sehorgans bezieht. Was dagegen die ursprünglichen oder deutlich erkennbaren Eigenschaften betrifft, so sieht man, daß man sie bisweilen ins Unendliche steigern kann: nicht nur dort, wo wie beim Raum oder der Zeit eine Extension oder, wenn man will, eine Ausbreitung von Teilen vorliegt ( partes extra partes, wie die Schule es nennt), sondern auch dort, wo eine Intension oder gradweise Abstufung stattfindet, wie dies bei der Geschwindigkeit der Fall ist.

§ 8. Philal. Wir besitzen keine Idee von einem unendlichen Raum, und nichts ist klarer, als der Widersinn einer wirklichen Idee einer unendlichen Zahl.

Theoph. Ich bin derselben Ansicht. Aber der Grund hierfür liegt nicht darin, daß man keine Idee vom Unendlichen besitzen kann, sondern darin, daß ein Unendliches kein wahres Ganze sein kann Vgl. Band I, S. 351 ff.; Band II, S. 368, 381..

§ 16. Philal. Aus dem nämlichen Grunde haben wir also keine positive Idee einer unendlichen Dauer oder der Ewigkeit, ebensowenig wie wir eine Idee der Unermeßlichkeit haben.

Theoph. Ich glaube, daß wir von beiden eine positive Idee besitzen: eine Idee, die wahr ist, sofern man darunter nur nicht ein unendliches Ganze versteht, sondern ein absolutes oder schrankenloses Attribut, das, was die Ewigkeit angeht, in der Notwendigkeit des Daseins Gottes gegründet ist, ohne den Gedanken von Teilen daran zu knüpfen und ohne daß man den Begriff durch eine Zusammenzählung einzelner Zeitstrecken bildet. Man sieht daraus auch, wie ich schon gesagt habe, daß der Ursprung des Begriffs des Unendlichen aus derselben Quelle stammt wie der der notwendigen Wahrheiten.


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