Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel XXX.
Von den wirklichen und den chimärischen Ideen.

§ 1. Philal. In Hinsicht auf die Dinge sind die Ideen reell oder chimärisch, vollständig oder unvollständig, wahr oder falsch. Unter reellen Ideen verstehe ich diejenigen, welche in der Natur begründet sind und einem wirklichen Wesen, dem Dasein der Dinge oder Urbildern entsprechen; sonst sind sie phantastische oder chimärische.

Theoph. Diese Erklärung ist etwas dunkel. Die Idee kann einen Grund in der Natur haben, ohne diesem Grunde zu entsprechen, wie man z. B. behauptet, daß die sinnlichen Empfindungen der Farbe oder der Wärme keinem Originale oder Urbilde gleichen. Eine Idee kann auch reell sein, wenn sie, ohne daß ihr ein wirklicher Gegenstand entspricht, möglich ist: sonst würde, wenn alle Individuen einer Art aussterben, auch die Idee der Art zu einer chimärischen werden.

§2. Philal. Die einfachen Ideen sind alle reell, denn obgleich nach der Ansicht mancher die Weiße und die Kälte ebensowenig im Schnee sind wie der Schmerz, so sind doch ihre Ideen in uns Wirkungen von Kräften der äußeren Dinge, und diese immer gleichen Wirkungen dienen uns ebenso sehr, die Dinge zu unterscheiden, als wenn sie die genauen Bilder dessen wären, was in den Dingen selbst vorhanden ist.

Theoph. Ich habe diesen Punkt schon oben geprüft, aber es scheint danach, daß eine Übereinstimmung mit einem Urbilde nicht immer verlangt wird. In der Tat würde auch, wenn man die – von mir übrigens nicht gebilligte – Ansicht annimmt, daß uns Gott willkürlicherweise Ideen zugemessen hat, die dazu bestimmt sind, die Eigenschaften der Gegenstände zu bezeichnen, ohne daß dabei eine Ähnlichkeit oder auch nur eine natürliche Beziehung stattfände, zwischen unseren Ideen und ihren Urbildern so wenig Übereinstimmung herrschen, wie zwischen den Worten, deren man sich in den Sprachen nach Übereinkunft bedient, und den Ideen oder den Dingen selbst.

§3. Philal. Der Geist ist hinsichtlich der einfachen Ideen leidend, dagegen hat die Verbindung, die er mit ihnen vornimmt, um zusammengesetzte Ideen zu bilden, wobei mehrere einzelne unter demselben Namen zusammengefaßt werden, etwas Willkürliches; denn in die komplexen Ideen des Goldes oder der Gerechtigkeit nimmt der eine eine einfache Idee auf, die der andere nicht darin aufnimmt.

Theoph. Der Geist verhält sich auch hinsichtlich der einfachen Ideen tätig, indem er sie voneinander absondert, um sie getrennt in Betracht zu ziehen, was ebenso Sache der freien Willkür ist, wie die Verbindung mehrerer Ideen, sei es, um auf eine hieraus entspringende zusammengesetzte Idee zu achten, sei es, um sie unter einem Namen, der der Verbindung gegeben wird, zu befassen. Hierbei kann der Geist sich nicht täuschen, wenn er nur keine miteinander unverträglichen Ideen verknüpft und wenn der Name sozusagen noch jungfräulich ist, d. h. wenn mit ihm nicht bereits ein bestimmter Begriff verbunden ist, der eine Vermengung mit dem Begriff, den man neuerdings mit ihn verknüpft, verursachen könnte. Denn daraus könnten entweder unmögliche Begriffe hervorgehen, indem man Dinge verbindet, die nicht miteinander bestehen können, oder Begriffe, die ein Zuviel und eine Art Überbestimmung enthalten, indem man Ideen verbindet, deren eine aus der anderen auf demonstrative Weise abgeleitet werden kann und muß.

§ 4. Philal. Da die gemischten Modi und die Relationen keine andere Realität als im Geiste des Menschen besitzen, so ist, damit Ideen dieser Art reell sind, nur die Möglichkeit erforderlich, daß sie existieren und miteinander zusammen bestehen.

Theoph. Die Relationen haben eine vom Geiste abhängige Wirklichkeit wie die Wahrheiten, jedoch sind sie nicht vom menschlichen Geiste abhängig, da es einen höchsten Verstand gibt, der sie insgesamt zu jeder Zeit bestimmt. Die gemischten Modi, die sich von den Relationen unterscheiden, können reale Akzidenzien sein. Mögen sie nun aber vom Geiste abhangen oder nicht, so genügt es für die Realität ihrer Ideen, daß diese Modi möglich, oder, was dasselbe bedeutet, daß sie deutlich zu begreifen seien. Hierzu ist erforderlich, daß ihre einzelnen Bestandteile kompossibel sind, d. h. daß sie zusammen bestehen können Über die Unterscheidung von »possible« und »compossible« s. bes. Leibniz' Brief an Bourguet, Dezember 1714, Gerh. III, 571 f..

§ 5. Philal. Die zusammengesetzten Ideen der Substanzen aber sind, da sie alle mit Rücksicht auf die Dinge außer uns gebildet sind und die Substanzen so, wie sie in Wirklichkeit vorhanden sind, darstellen wollen, nur insofern reell, als sie Verbindungen einfacher Ideen sind, die in den Dingen außer uns wirklich verbunden sind und zusammen existieren. Chimärisch dagegen sind Ideen dieser Art, wenn sie eine Zusammenfassung einfacher Ideen sind, die niemals wirklich vereinigt gewesen sind und die man niemals in irgendeiner Substanz zusammengefunden hat: so z. B. die Idee eines Centauren, die Idee eines Körpers, der dem Golde gleicht, nur daß er, was sein Gewicht betrifft, leichter als Wasser ist, die Idee eines für die sinnliche Auffassung ganz homogenen Körpers, der aber doch mit Perzeption und willkürlicher Bewegung begabt ist, usw.

Theoph. Wenn man auf diese Weise die Ausdrücke reell und chimärisch mit Bezug auf die Ideen von Modi anders als mit Bezug auf die Ideen von substantiellen Dingen versteht, so sehe ich nicht, welches die gemeinsame begriffliche Bedeutung ist, die Sie in beiden Fällen den reellen oder chimärischen Ideen geben: denn die Modi gelten Ihnen dann als reell, wenn sie möglich sind, während die substantiellen Dinge nach Ihnen nur dann reelle Ideen besitzen, wenn sie wirklich vorhanden sind. Wenn man sich aber an das wirkliche Dasein hält, so läßt sich kaum bestimmen, ob eine Idee chimärisch ist oder nicht, weil etwas, was möglich ist, auch dann, wenn es sich an dem Ort oder zu der Zeit, in denen wir uns befinden, nicht vorfindet, doch vormals dagewesen sein kann oder vielleicht dereinst da sein wird, ja sich sogar schon in der Gegenwart auf einer anderen Welt oder selbst auf der unsrigen, ohne daß man es weiß, vorfinden kann, wie Demokrit schon von der Milchstraße eine Vorstellung hatte, welche die Fernröhre später bestätigt haben Die Hauptstelle über Demokrits Ansicht von der Milchstraße findet sich in den Meteorologica des Aristoteles (Buch I, Kap. 8), der die Späteren folgen. Vgl. Zeller, Die Philosophie der Griechen3, I, 724, Anm. 1 (Sch.).. Demnach scheint es am besten zu sein, zu sagen, daß die möglichen Ideen nur dann chimärische werden, wenn man mit ihnen ohne Grund die Idee des tatsächlichen Daseins verbindet, wie diejenigen es machen, welche glauben, den Stein der Weisen finden zu können, oder wie die es tun würden, die an eine Nation von Centauren glaubten. Würde man dagegen lediglich auf das wirkliche Dasein sehen, so müßte man sich ohne Not von dem angenommenen Sprachgebrauch entfernen, demzufolge man nicht sagen kann, daß jemand, der im Winter von Rosen und Nelken spricht, von einer Chimäre redet: es müßte denn sein, daß er sich einbildet, sie in seinem Garten finden zu können, wie man es von Albertus Magnus oder von irgendeinem anderen vermeintlichen Zauberer erzählt Albertus Magnus (1193-1280); gegen den Verdacht der Zauberei, von dem besonders Trithemius in den Annales Hirsaugienses (II, p. 40) berichtet, hat ihn Naudé in der »Apologie des grands hommes soupçonnés de magie« in Schutz genommen (Sch.)..


 << zurück weiter >>