Leo Leipziger
Die neuen Linden
Leo Leipziger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.
Fritzchen.

Ein möbliertes Zimmer in der Passauer Straße. Die Wirtin: Fräulein Karoline Möwitz, zu Berlin im Jahre 1862 geboren, evangelisch, zweimal wegen Kuppelei vorbestraft. Stattliche Leibesfülle, aufgedunsenes Gesicht, listige Augen, unsaubere Vergangenheit, wie üblich. Nach zahlreichen »Verhältnissen« fand sie jemanden, der ihr eine Wohnung einrichtete, und als der Freund starb, ohne ihr weiteres zu hinterlassen, vermietete sie »möbliert«.

Eine ziemlich geräumige Wohnung, in der sie bequem drei oder vier Mieter unterbringen konnte. Dr. Fritz Arndt, Kammergerichtsreferendar und Leutnant der Reserve, bewohnte seit zwei Jahren das gastliche Haus. Nicht als ob in der prachtvollen Villa seines Vaters, des Geheimen Kommerzienrats Ernst Arndt in der Kantstraße kein Platz für den einzigen Herrn Sohn gewesen wäre! Im Gegenteil. Aber der Freiheitsdrang des jungen Herrn sträubte sich gegen die häusliche Kontrolle, und die süße 29 Gewohnheit seines Kneip- und Bummellebens widersprach den strengen Grundsätzen der väterlichen Hausordnung.

Es war bereits halb ein Uhr mittags, als Fräulein Möwitz an die Tür ihres treuen Mieters klopfte.

»Herr Doktor, aufstehen! . . . Es ist die allerhöchste Zeit.«

Ein undeutliches Grunzen bildete von innen die Antwort.

»Herr Doktor, der Friseur war schon dreimal hier, und Ihr Herr Vater hat hergeschickt, Sie möchten pünktlich um halb drei zu Mittag dort sein, es wären ein paar Gäste da.«

»Verdammte Schweinerei!« dröhnte es dumpf zurück. Dann hörte man schlürfende Schritte, die Tür wurde aufgeschlossen, und der Doktor Fritz Arndt stand im tiefsten Négligé vor Fräulein Karoline.

»Na?« meinte sie grinsend – bei dieser Gelegenheit wurden hinter den welken Lippen Zähne von recht unerfreulicher Färbung sichtbar –, »es ist wohl wieder mal recht spät geworden, Herr Doktor? . . . Hut und Stock habe ich auf der Treppe gefunden.«

Fritz fuhr sich mit der Hand über die Stirn, und die verglasten Augen stierten ins Leere.

30 »Ich habe wirklich keine Ahnung mehr, schöne Lina.« Dann sandte er einen wehmütigen Blick zum Nachttisch, auf dem neben der goldenen Uhr nur einige Nickelstücke lagen.

»Der ganze Zaster ist zum Teufel. Ich war in der Stadt in irgendeinem Nachtlokal in der Jägerstraße, und da sind glücklich die drei blauen Lappen alle geworden, die ich mitgenommen hatte. . . .Um halb drei soll ich bei dem alten Herrn sein?«

Fräulein Möwitz nickte.

»Ja, dann ist's wirklich die höchste Eisenbahn.« Und der Herr Referendar begab sich zum Waschtisch, um Toilette zu machen. Nach einer Viertelstunde brachte Fräulein Möwitz den Kaffee. Aber Fritz stieß das bräunliche Getränk mit Abscheu zurück.

»Mir ist noch nicht nach Frühstück . . .« murmelte er. . . . »Ist kein Brief für mich gekommen?«

Frau Karoline verzog das Antlitz wiederum zu einem breiten Lächeln.

»Nein. Das Schätzchen hat heute noch nichts von sich hören lassen, Herr Doktor.«

»Quatsch! Sie können alle Ihre Redensarten für sich behalten, dumme Gans! Machen Sie, daß Sie rauskommen!«

31 Fräulein Möwitz entfernte sich eilig, denn sie wußte, daß ihr Mieter in diesem Stadium wohl imstande war, seinen Worten durch ein nachgeworfenes Stiefelpaar deutlicheren Ausdruck zu verleihen.

Der Herr Referendar zog die Gardinen zurück und öffnete die Fenster. Luft und Licht drangen ins Zimmer und verdrängten den üblen Dunst von Alkohol und kalten Zigarrenresten.

Doktor Fritz Arndt galt in den Kreisen, in denen der Mensch mit dem Korpsstudenten und dem Reserveoffizier anfängt, als ein hübscher, schneidiger Kerl. Schlank gewachsen, blond, wasserblaue Augen, kleiner Schnurrbart und zahlreiche Schmisse, die ihre roten Linien sogar über die gewölbte Nase zogen; die Stirn ziemlich niedrig, die Ohren groß und etwas abstehend. Im Grunde eine gewöhnliche Erscheinung, die auf nicht besonders edle Herkunft deutete. Und so war es auch in der Tat.

Ernst Arndt, sein Vater, war als zwanzigjähriger junger Mensch im Jahre 1865 nach Berlin gekommen und in eine Schlosserei eingetreten. Tüchtigkeit, unermüdlicher Pflichteifer, rastloser Fleiß machten ihn bald seinem Prinzipal unentbehrlich und führten zur Ehe mit dessen einziger Tochter. Die Eltern seiner nunmehrigen Gattin starben früh, und dem 32 tatkräftigen Ehrgeiz des jungen Arndt stand nichts mehr im Wege. Aus der Schlosserei wurde eine Fabrik, die von Jahr zu Jahr wuchs und zunahm. Im Jahre 1880 wurde dem Paar das erste Kind geboren: Fritz. Die Mutter starb im Wochenbett. Ernst Arndt stand mit seinem Kind wieder allein auf der Welt. In der Arbeit suchte er Trost für die Einsamkeit. Von Jahr zu Jahr dehnte sich die Arndtsche Maschinenfabrik aus und galt bald als eines der ersten industriellen Unternehmen Deutschlands dieser Art. Gegen Ende der achtziger Jahre heiratete Ernst Arndt zum zweitenmal; diesmal standesgemäß. Er führte die Tochter eines Oberregierungsrats im Kultusministerium heim: Fräulein Lisbeth von Seelen, eine kluge, etwas kühl angelegte Natur. Der Vater, ein echt preußischer Beamter im guten alten Sinne des Worts, hatte seiner Tochter nichts weiter für das Leben mitgeben können, als eine treffliche Erziehung im christlichen Sinne. Das feingeschnittene Oval, das bescheiden in der Mitte gescheitelte blonde Haar ließ sie äußerlich als den Typus der edeln deutschen Hausfrau erscheinen. Aber ihr Ehrgeiz verlangte nach etwas anderem. Nach Reichtum, nach großer gesellschaftlicher Stellung. Und da Ernst Arndt mit den Jahren und mit dem wachsenden Wohlstand dasselbe Ideal 33 vorschwebte, so führten dieselben Lebensziele, dieselben Anschauungen, dieselben Hoffnungen und Wünsche die beiden zu einer harmonischen Vernunftehe, die mit Liebe oder Leidenschaft nicht das geringste zu tun hatte.

Und es gelang.

Das Haus des Kommerzienrats und späteren Geheimen Kommerzienrats Ernst Arndt galt als eines der vornehmsten Patrizierhäuser Berlins. Die Gastlichkeit war opulent, ohne aufdringlich zu sein. Hohe Beamte, höhere Militärs, erste Künstler und der christliche Finanzadel zählten zu den Getreuen des Hauses. Der Ehe entsproß ein einziges Kind, Maud, das im Jahre 1890 das Licht der Welt erblickt hatte. Da die Frau Geheimrätin Arndt mit ihr hoch hinaus wollte, so hatte sie die Erziehung, die ihr in ihrem eigenen väterlichen Hause zuteil geworden, für Maud entsprechend geändert und modernisiert. Die junge Dame sprach geläufig Französisch und Englisch und war eine treffliche Reiterin und eine Meisterin im Lawntennisspiel. Daß sie ihr Auto selbst zu lenken verstand, gereichte ihr noch zur ganz besonderen Ehre. Die reichen Erbtöchter vom Stamme Israel bewunderten nicht ohne Neid das viel genannte und viel gerühmte Fräulein Maud Arndt.

34 Maud war gerade im Begriff die Treppe hinunterzugehen, die zum Speisezimmer führte, als ihr Bruder Fritz ihr ziemlich hastig entgegenkam.

»Guten Tag, Maud!«

Maud erwiderte den Händedruck ihres Bruders, wobei sie ihn scharf fixierte und ein Lächeln nicht unterdrücken konnte.

»Sag mal, Maud, wie ist heute die Stimmung des alten Herrn?«

»Er hat schon dreimal nach dir gefragt und scheint ziemlich ungnädig aufgelegt.« Sie führte ihr parfümgetränktes Spitzentaschentuch an das Näschen.

»Fritz! Du riechst ja noch nach Alkohol, du scheinst ja wieder eine bessere Nacht hinter dir zu haben.« . . .

Fritz schien diese Art der Kritik nicht zu passen, und er erwiderte ärgerlich: »Das geht siebzehnjährige Puten gar nichts an. Steck lieber deine Nase in die Bücher, und tu was!«

Maud lachte.

»Fritz, du lallst ja noch. Ihr habt wohl gestern eine schwere Trauersitzung bei Gleiwitzers gehabt.« Damit enteilten ihre flinken Füßchen die Treppe hinab, während Fritz, der 35 sein körperliches Gleichgewicht noch nicht ganz wiedergewonnen hatte, langsam und schimpfend hinterherschritt.

Unten waren die Herrschaften schon im Begriff, sich zu Tisch zu setzen. Außer den Eltern ein Oberregierungsrat aus dem Ministerium des Innern, zwei Offiziere und der Direktor einer Maschinenfabrik aus der Provinz.

Der väterliche Blick, der den Herrn Sohn traf, war nicht gerade gnädig. Fritz nahm daher am unteren Ende der Tafel Platz, wo ihn ein Blumenaufsatz, der auf der Mitte der Tafel stand, den Augen seines Erzeugers möglichst entrückte, und goß hastig einige Glas Wein hinter die Binde, um dem Tatterich seiner Hände erfolgreich entgegentreten zu können. Er saß zwischen seiner Schwester und einem Offizier, brauchte sich daher wenig an der Unterhaltung zu beteiligen und benutzte diese Muße, sich auf den Vortrag vorzubereiten, den er notgedrungen nach finanzieller Richtung hin seinem Vater nach Tisch halten mußte. Nachdem der Kaffee serviert war, empfahlen sich die Gäste, und Fritz folgte seinem Vater in dessen Arbeitszimmer. Das gute Essen hatte den Alten in etwas rosigere Laune versetzt. Das kam auch darin zum Ausdruck, daß er seinem Herrn Sohn eine extra feine 36 Zigarre anbotv die er den Tiefen seines Schreibtisches entnahm.

»Na, Fritz,« begann er jovial, »was steht zu Diensten?«

Fritz druckste und druckste, aber die Laute waren etwas unartikuliert. Endlich entschloß er sich zur Beichte. Als er geendet, schlug der Herr Geheime Kommerzienrat mit der Faust auf den Tisch.

»Ich möchte bloß wissen, wo du dein Geld läßt? Vor vier Tagen habe ich dir erst dreihundert Mark gegeben.«

Fritz sah reumütig vor sich hin.

»Ja, Vater, ich weiß selber nicht. Ich habe gestern abend ein paar Korpsbrüder getroffen, das war so um zehn Uhr abends. Als ich heute morgen erwachte, hatte ich noch 35 Pfennige. Weiter weiß ich nichts.«

Diese originelle Art des Bekenntnisses schien den Herrn Geheimrat zu erheitern. Er nahm die Brieftasche heraus und überreichte seinem Sohne dreihundert Mark.

»So! Nun aber, bitte, laß mich gefälligst bis zum Ersten zufrieden.« Dann ergriff er einen Band Akten, überreichte ihn dem Referendar und sagte: »Hier, Fritz, das ist die Grundstücksgeschichte aus der Schlegelstraße. Mach, bitte, 37 alles fertig, und schicke dem Notar die Information!«

Fritz atmete auf. Er freute sich, so leichten Kaufs davongekommen zu sein. Er nahm das Aktenstück zur Hand und machte sich gleich an die Arbeit.

Dr. Arndt war in juristischer Beziehung entschieden gut veranlagt. Er hatte eine leichte Auffassungsgabe, und wenn es sein mußte, setzte er sich auch hinter die Bücher und konnte etwas leisten. Seine Vorgesetzten waren mit ihm zufrieden und gaben ihm gute Zeugnisse. Aber diese einzige gute Eigenschaft stand in keinem Verhältnis zu seinem sonstigen Leichtsinn, zu seiner frevelhaften Oberflächlichkeit, Genußsucht, Hang zum Wohlleben, Egoismus, Eitelkeit, törichtem Dünkel, – das waren die Ingredienzien, aus denen sich der sogenannte »Charakter« des Korpsstudenten, Referendars und Reserveoffiziers Dr. Arndt zusammensetzte. »Wenn dich einer beleidigt, so mußt du ihn fordern und dich mit ihm schießen.« Das war sein Begriff von Ehre. Von Fall zu Fall Judenfreund, Antisemit, liberal, konservativ, Streber, Nörgler – das war sein soziales Glaubensbekenntnis. Heucheln, Lügen, Schwindeln, jede Gemeinheit begehen, um ein Weib zu haben, deren Besitz seiner 38 Eitelkeit schmeichelte – das war seine Auffassung von der Liebe.

 


 << zurück weiter >>