Leo Leipziger
Die neuen Linden
Leo Leipziger

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VIII.
Schneidigkeit.

Im Arbeitszimmer des Geheimen Kommerzienrats Arndt saßen sich Vater und Sohn gegenüber. Die elektrischen Flammen strahlten und verscheuchten die grauen Schatten des Zwielichts, die an diesem grämlichen Novembertage um die Fenster schlichen. Der Geheimrat war in denkbar bester Laune. Es hatte sein Lieblingsgericht gegeben: Schmorbraten mit Kartoffelpuffern. Diese profane gastronomische Neigung hatte er noch aus der alten Schlosserzeit in das neue Wohlleben hinübergerettet. Auch die Zigarre schmeckte ihm noch besser als sonst. Schweigend und nachdenklich paffte er blaue Ringe in die Luft. Endlich entschloß er sich, zur Sache überzugehen.

»Hör' mal, mein lieber Junge, ich war gestern abend im Klub, und da habe ich ein paar Andeutungen gehört, die deine Person betreffen.« . . .

66 Fritz, der bis dahin ziemlich stumpfsinnig dagesessen hatte, horchte auf.

»Meine Person, Vater?« . . .

Der Alte lächelte gnädig.

»Du brauchst dich nicht weiter aufzuregen, es ist nichts Schlimmes; aber ich liebe Klarheit in allen Dingen, und möchte von dir eine Erklärung haben.« . . .

Es entstand eine kleine Pause. Der Rauch der Zigarren begegnete sich und schwebte in gemeinsamem Tanz zur Decke empor.

»Also, ad rem! Man munkelt, daß du dich mit der Absicht trägst, Fräulein Edith Gleiwitzer zu heiraten.« . . .

Ein häßlicher Zug legte sich um den Mund des Sohnes, hämisch, boshaft, beinahe niederträchtig. Er lachte, und dieses Lachen klang fast gemein.

»Laß die Leute reden!« meinte er geringschätzig. »Ich denke ja gar nicht daran.«

Der Geheimrat schien über die Art und Weise, wie seine Mitteilung von dem Herrn Referendar aufgenommen wurde, ziemlich verdutzt.

»Na, über die Zumutung brauchst du ja am Ende gar nicht so beleidigt zu sein; sie ist im Gegenteil ehrenvoll. Edith ist ein hübsches, 67 gebildetes und feines Mädchen, und reich ist sie auch. Aber . . .«

Fritz kam seinem Vater zu Hilfe.

»Aber sie gehört nicht so ganz zu unseren Kreisen. Und die Taufe der Familie Gleiwitzer – der Tonfall klang frech – ist noch zu frisch.«

Der Geheimrat wurde einigermaßen verlegen.

»Na ja, Fritz! Du drückst dich immer gleich ein bißchen brutal aus. Ich bin ja wahrhaftig kein Antisemit und spiele täglich im Klub Bridge mit zwei Juden, die mir die liebsten und sympathischsten von der ganzen Gesellschaft sind. Aber Klub und Familie – das ist eben zweierlei! . . . Daß ein armer Christ eine reiche Jüdin heiratet, ist ja gang und gebe; daß aber ein reicher Christ eine reiche Jüdin heiratet, das ist in unseren Kreisen eigentlich noch nicht dagewesen. Und ich möchte nach der Richtung hin nicht der Bahnbrecher sein.« . . .

»Worin ich mich voll und ganz meinem verehrten Herrn Vater anschließe,« näselte der Herr Referendar.

Die frivole Manier, in der sein Sohn das Thema behandelte, behagte dem Geheimrat nicht allzu sehr. Eine gewisse Gradheit und Schlichtheit hatte er, der Selfmademan im besten Sinne des Worts, doch behalten, und er 68 empfand das Unpassende in der Haltung seines Sohnes. So fuhr er denn etwas gereizt fort:

»An dem Gerede trägst du doch in erster Linie selbst schuld. Bei Franz Gleiwitzer bist du wie zu Hause. Du meidest vollständig den Verkehr mit den uns befreundeten Familien und nimmst höchstens an den offiziellen Gesellschaften in meinem Hause teil, von denen du dich eben absolut nicht drücken kannst. Und da ich annehme – hier erhob der Geheimrat seine Stimme –, daß deine Beziehungen zu Frau Franz Gleiwitzer nicht über das Maß des Erlaubten hinausgehen, so ist die Mutmaßung, die du so energisch von der Hand weist, doch eigentlich ziemlich selbstverständlich. Ich habe dir bisher nach dieser Richtung hin noch nie Vorhaltungen gemacht, weil ich, wie gesagt, von Fräulein Edith bisher nur Gutes gehört habe, weil ich Herrn Dr. Franz Gleiwitzer für einen Ehrenmann und seine Gattin für eine anständige Frau halte . . .«

»Das ist sie auch!« warf Fritz so laut und hastig ein und blickte dabei seinen Vater so durchbohrend an, als ob er bereit gewesen wäre, dem geringsten Zweifel seines Erzeugers mit einer Pistolenforderung zu begegnen.

»Ich freue mich, daß wir uns in dieser Auffassung begegnen,« erwiderte der Geheimrat 69 ziemlich ernst. »Du ersiehst auch aus alledem, daß die Welt dieselbe Überzeugung hegt, denn man spricht, wie gesagt, nicht davon, daß du zu Frau Gleiwitzer sträfliche Beziehungen unterhältst, sondern daß du die Absicht hast, Fräulein Edith zu heiraten.«

Fritz verbeugte sich, als ob er sich für dieses Kompliment seitens des Berliner Tiergartenviertels bedanken wollte. Dann räusperte er sich, steckte die fast zu Ende gerauchte Zigarre in eine Papierspitze und meinte lässig:

»Ich fühle mich in diesem Milieu eben sehr wohl. Nette, gastfreie und geistvolle Menschen findet man in Berlin nicht alle Tage. Wir verstehen uns untereinander ausgezeichnet, und ich glaube,« fügte er selbstbewußt hinzu, »daß ein Familienverkehr für einen Mann in meinen Jahren, den ›Verhältnissen‹, mit denen sich meine Korpsbrüder herumtreiben, doch wohl vorzuziehen ist.«

Der Geheimrat war aufgestanden und klopfte seinem Jungen auf die Schulter.

»Sehr richtig! Und das ist es ja auch, was mich erfreut und mich abhält, dir wegen der Vernachlässigung der gesellschaftlichen Beziehungen deiner Eltern Vorwürfe zu machen. Aber du mußt immerhin ein bißchen vorsichtig sein. Du bist eben schon in den Jahren, wo die 70 Welt dich mit Recht als einen guten Heiratskandidaten betrachtet, und wenn du es mit Gleiwitzers ehrlich meinst, woran ich nicht zweifle, so muß es auch dir am Herzen liegen, die junge Dame nicht unnötig zu kompromittieren.«

Fritz zwirbelte an seinem Schnurrbart herum.

»Laß doch die Leute quasseln!« stieß er ziemlich brüsk heraus. »Ich weiß ganz genau, was ich zu tun habe, und euch kann es doch genügen, wenn ich dir mein Ehrenwort gebe.« . . .

Der Alte zog die Stirn in Falten.

»Dein Ehrenwort habe ich gar nicht verlangt. Ich wollte dir einen freundschaftlichen Rat erteilen und kein Ehrengericht abhalten. . . . Und damit ist die Angelegenheit für mich erledigt.«

Er ging hinaus und schlug die Tür ziemlich heftig hinter sich zu.

Fritz hatte sich ebenfalls erhoben, war ans Fenster getreten und trommelte hastig gegen die Fensterscheiben.

»Verfluchte Schweinerei!« brummte er vor sich hin. Und im Anschluß an dieses Kraftwort murmelte er noch eine Reihe von unflätigen Redensarten, wobei seine dicken, schwulstigen Lippen sich unmerklich bewegten. In seinem Ärger überhörte er, daß Maud eingetreten war.

»Fritz!«

71 Er drehte sich um und sandte seiner Schwester einen ziemlich unwilligen Blick zu.

»Was willst du?« fragte er barsch.

Die Kleine zögerte.

»Mama läßt dich fragen, ob du nicht morgen abend mit mir zu Oberst von Streckmann gehen willst; allein darf ich nicht, und ich möchte so gern.«

Fritz war froh, daß er jemanden hatte, an dem er seine Wut auslassen konnte.

»Denke gar nicht dran, habe keine Zeit!« . . .

Und damit drehte er Maud wieder den Rücken.

»Dazu hat man nun einen älteren Bruder,« seufzte Fräulein Arndt, »der unsereinen in Gesellschaft führen soll. Ein ganz klein bißchen Rücksicht könntest du doch auch auf mich nehmen!«

. . . »Lämmerhüpfen! . . . Das fehlte mir gerade noch, mich mit euch Gänsen zu Tode zu langweilen!« . . .

»Gleiwitzers sind wahrscheinlich interessanter.« . . .

Maud war wütend und kampflustig.

»Frechheit!« brauste Fritz auf. »Willst du dich vielleicht auch noch in meine Angelegenheiten mischen! . . . Hier« – er faßte in seine Westentasche – »hast du zwanzig Mark, kauf 72 dir eine Puppe! Das ist die einzige Gesellschaft, die für dein Gehirn paßt.« . . .

»Flegel!« Das klang halb zornig, halb weinerlich, und Maud flüchtete zu ihrer Mutter.

Fritz sah nach der Uhr.

»Verflucht noch mal, schon Sieben! Drei Stunden brauche ich mindestens, um mit den dämlichen Referaten für die morgige Sitzung fertig zu werden, und dann muß ich mindestens zwei kalte Pullen trinken, um wieder in Stimmung zu kommen.« . . .

Er verließ das elterliche Haus und begab sich zunächst nach dem Rohrpostamt, wo er folgenden Brief schrieb:

Verehrteste Frau Fifi!

Heute abend ist bei uns eine kleine Gesellschaft, von der ich mich unmöglich drücken kann. Wenn Sie gestatten, komme ich morgen zu Tisch.

Grüßen Sie Franz, und empfehlen Sie mich Fräulein Edith! Ich küsse Ihre schönen Hände.

Ihr getreuer Fritz.

Dann begab er sich nach Hause und erledigte sein juristisches Pensum, nicht ohne von Zeit zu Zeit der Kognakflasche zuzusprechen, die auf dem Tisch stand. Nachdem auch das erledigt war, kleidete er sich um und fuhr in die Stadt. 73 Bei Kempinski traf er einige Korpsbrüder, mit denen er etliche Flaschen deutschen Sekt leerte.

Langsam kam er in »Stimmung«.

Als die Herren nach Mitternacht auf die Leipziger Straße hinaustraten, hatte Fritz die Unannehmlichkeiten des Nachmittags bereits gänzlich vergessen und befand sich in rosiger Laune.

»Wir gehen zur ›Donna‹!« . . .

Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung, und die »Stützen der Gesellschaft« begaben sich in eine kleine, in der Kronenstraße gelegene Bar.

Diese Stätte der Freude war früher ein Papierladen gewesen. Ein kleiner Raum, zehn Meter im Geviert. Sechs Marmortischchen und ein Büfett, hinter dem die Wirtin nebst zwei Gehilfinnen thronte. Das Schaufenster, durch gelbe Gardinen dicht verhängt, und auf der Scheibe in goldenen Lettern die Aufschrift: »American drinks, Thekla Meinert.«

Fräulein Thekla war lange Zeit die Geliebte eines Korpsbruders von Fritz gewesen, der, als er sich reich verheiratete, der Freundin ein Kapital von zwanzigtausend Mark zur Verfügung gestellt hatte. Damit hatte sie sich die Kneipe eingerichtet. Und die Korpsbrüder ihres Mäcens waren natürlich in erster Reihe ihre Stammgäste geworden. Sie wußte infolgedessen mit den einschlägigen Verhältnissen ganz genau 74 Bescheid, kannte die meisten, soweit es sich um die letzten dreißig Semester handelte, persönlich und war darüber informiert, was aus ihnen geworden, und in welchem Regiment jeder Reserveoffizier war.

Die rote Schminke auf den Wangen und Lippen, die blaue unter den Augen, die goldene Färbung des Haares, vermochten über ihre verblühten Reize nicht wegzutäuschen. Aus diesem Grunde hatte sie sich zur Rechten und zur Linken den erforderlichen Ersatz geschaffen. Diese beiden Damen zeichneten sich auch weder durch Jugend noch durch Frische aus. Am widerstandsfähigsten war noch ihr Magen geblieben, in den sie im Laufe einer Nacht unglaubliche Quantitäten der gesundheitswidrigsten Mixturen hineinschlucken mußten, um den Wohlstand der Herrin und die Freudigkeit der Gäste zu steigern. Die Stammgäste nannten sie »Mary« und »Lissy«, und auch sie genossen das Vorrecht, die Kavaliere mit ihren Vornamen anreden zu dürfen. Die Prinzipalin führte jedoch den Ehrentitel »Donna«, mit Weglassung des Vor- und Familiennamens.

Als Fritz mit seinen Freunden eintrat, wurde ihnen in Gestalt eines dreistimmigen Gekreisches die standesgemäße Ovation dargebracht. Die Augen der Donna leuchteten, und sie erteilte 75 nach links und rechts leise Befehle, die sich auf Kaltstellung einiger Flaschen französischen Champagners bezogen. Nach der offiziellen Begrüßung begab sich die »Donna« auf einen Augenblick in einen kleinen, an den Laden grenzenden Hinterraum und stellte daselbst sechs leere Flaschen der Lieblingsmarke ihrer Kunden bereit. Diese waren dazu bestimmt, in dem Augenblick allgemeiner Trunkenheit geschickt unter den Tisch jongliert zu werden, um dadurch die Höhe der Zeche zweckmäßig zu vergrößern.

Nach den ersten Flaschen wurde es gemütlich. Das heißt, die Unterhaltung vollzog sich in der üblichen »gemischten« Weise, wobei sich Fritz besonders hervortat. . . .

In einer Ecke saßen zwei Herren, die sich um die neu eingetretene feudale Gesellschaft nicht kümmerten, leise miteinander plauderten und nur von Zeit zu Zeit einen Schluck aus dem versilberten Zinnbecher schlürften, der einen »Prince of Wales« von zweifelhafter Qualität barg.

Fritz, der ihre Gegenwart als Störung empfand, stierte von Zeit zu Zeit unwillig zu ihnen hinüber, klemmte sich das Monokel ins linke Auge und fixierte die beiden, ohne daß die Herren es zu beachten schienen.

76 Als er wiederum einen besonders kräftigen Witz gemacht hatte, der über die Grenze des Erlaubten entschieden hinausging, drehte sich der eine um und sandte dem Herrn Referendar einen nicht besonders freundlichen Blick zu.

Auf diesen Moment schien Fritz gewartet zu haben. Und ziemlich laut, so daß die beiden es hören mußten, fragte er die »Donna«:

»Wer sind denn die beiden Outsider?«

Die Korpsbrüder, die ihren Pappenheimer in solchen Situationen kannten, sprachen auf ihn ein, um ihn zu beruhigen. Aber das half nichts. Seine »Schneidigkeit« war erwacht und heischte Betätigung. Und so fügte er denn provozierend nochmals hinzu:

»Scheußlich, diese Outsider!« . . .

Einer der Herren, ein schwarzer, herkulisch gebauter Mensch, erhob sich und trat sehr höflich auf Dr. Arndt zu:

»Mein Name ist Zander.«

»Dr. Arndt!« schnarrte es ihm entgegen.

»Darf ich Sie bitten, einen Augenblick mit herauszukommen ?«

»Aber gern.« . . .

Auf der Straße entspann sich nun folgendes Zwiegespräch:

»Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, Herr Doktor, heiße ich Zander. Ich bin Kaufmann 77 und Duellgegner. Aber gleichzeitig in meinen Mußestunden Vorsitzender eines Privat-Athletenklubs. Ich teile Ihnen hierdurch höflich mit, daß ich Ihnen sämtliche Knochen im Leibe entzweischlagen werde, falls Sie sich erlauben, noch eine einzige beleidigende Äußerung zu machen.« . . .

Damit zog er den Hut und begab sich wieder zu seinem Freunde zurück.

Fritz folgte ihm. Etwas blasser als vorhin setzte er sich an den Stammtisch. Sein Redefluß war versiegt. Immerhin fühlte er sich veranlaßt, auf die fragenden Blicke der Freunde irgendwie zu reagieren. Und so beugte er sich zu seinem ehemaligen Leibburschen hinüber und flüsterte ihm ins Ohr:

»Knoten! . . . Nicht satisfaktionsfähig! Hat gar keinen Zweck, sich mit dem Gesindel einzulassen.«

Der Leibbursch nickte, und damit war vom Ehrenstandpunkt die Sache erledigt.

Immerhin war Fritz etwas kleinlaut geworden, und die »Schneidigkeit« erwachte erst wieder, als die beiden Herren das Lokal verlassen hatten. Da tobte er wieder nach Herzenslust los, trank mit allen »Sektjungen«, und dieser Höhepunkt des Genusses brachte auch den von der »Donna« heißersehnten Moment, in dem die 78 sechs leeren Flaschen ihren Beruf erfüllten. Um fünf Uhr morgens wurde Fritz von seinem Leibburschen per Auto nach Hause geschafft. Er war sinnlos betrunken. . . .

 


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