Alain René Lesage
Gil Blas von Santillana
Alain René Lesage

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Viertes Kapitel.

Gil Blas findet an den Schauspielen Geschmack, überläßt sich ganz den Annehmlichkeiten des Komödiantenlebens, und wird derselben kurz darauf überdrüßig.

Die Gäste blieben so lang' an der Tafel, bis sie in's Theater mußten. Sodann gingen sie insgesammt hinein; ich mit, und sah' auch das heutige Stück an. Ich begann der Komödie so vielen Geschmack abzugewinnen, daß ich beschloß, keine einzige zu versäumen. Was ich auch that und mich unmerklich an die Acteurs gewöhnte. Vornähmlich fand ich – wie mächtig doch die 184 Gewohnheit ist – an denen ungemeines Behagen, die am meisten brüllten, grimassirten, und herum rasten, und ich war nicht der Einzige, dem dieß gefiel.

Die Schönheit der Stücke machte keinen geringern Eindruck auf mich, als die Vorstellungen. Einige davon rissen mich ganz hin; besonders waren das meine Lieblingsstücke, worin man alle Cardinäle, oder die zwölf Pairs von Frankreich auf die Bühne brachte. Ich behielt Stellen aus diesen unvergleichlichen Gedichten, und erinnere mich, daß ich in zwey Tagen eine ganze Komödie auswendig lernte, die den Titel führte: Die Blumenköniginn. Die Rose, welche die Königinn der Blumen war, hatte das Veilchen zur Vertrauten, und den Schäsmin zum Kammerherrn. Ich fand nichts sinnreicher, als diese Werke, die, meines Bedünkens, dem Geiste unsrer Nation zur ungemeinen Ehre gereichten.

Ich begnügte mich nicht damit, mein Gedächtniß mit den schönsten Stellen dieser dramatischen Meisterstücke auszuschmücken, sondern ich legte mich auch darauf, meinen Geschmack zu vervollkommnen. Damit mir dieß um so eher glückte, verschluckt' ich alle Urtheile der Komödianten. Lobten sie ein Stück, so war es mir schätzbar; tadelten sie es, so fand ich es abscheulich. Ich bildete mir ein, sie verständen sich 185 auf Theaterstücke, wie die Juweliere auf Diamanten.

Nichts desto weniger hatte Don Pedro's de Moya Trauerspiel einen sehr großen Beyfall, ob ihm gleich das tragikomische Völkchen den Untergang geweissagt hatte. Dieß machte mich aber noch nicht mißtrauisch gegen dessen Urtheile; ich glaubte viel lieber, das Publicum habe keinen gesunden Menschenverstand, als daß ich an der Untrüglichkeit der Gesellschaft hätte zweifeln sollen. Man versicherte mir aber durch die Bank, die neuen Stücke würden gemeiniglich beklatscht, welche die Komödianten für schlecht erklärten, diejenigen hingegen fast beständig ausgepfiffen, die sie mit Jubelgeschrey empfingen. Man sagte, sie hätten es sich zur Regel gemacht, von allen dramatischen Producten ein schlechtes Urtheil zu fällen; wobey man mir hundert günstig aufgenommene Stücke anführte, die nach ihrem Ausspruche hätten fallen müssen. Ich hatte alle diese Beweise nöthig, um aus meinem Irrthume zu kommen.

Ich werde nie vergessen, was sich einmahl bey der ersten Vorstellung eines neuen Stückes zutrug. Die Komödianten hatten es schal und langweilig gefunden; sogar den Ausspruch gethan: man würd' es nicht zu Ende spielen. In den Gedanken fingen sie den ersten Act an, er ward sehr beklatscht. Sie erstaunten, spielten den zweyten, das Publicum nahm ihn noch 186 besser auf. Meine Acteurs waren ganz aus der Fassung. Was Teufel, sagte Rosimiro, diese Komödie thut was? Endlich spielten sie den dritten Act, der noch mehr gefiel. Das begreif' ich nicht, sagte Ricardo; wir glaubten, niemand würde an dem Stücke Behagen finden, und sehet, es gefällt durchgängig. Meine Herren, sagte hierauf ein Komödiant in sehr naivem Tone, das kommt daher, weil tausend witzige Einfälle darin sind, die wir übersehen haben.

Nunmehr hört' ich auf, die Komödianten für treffliche Richter zu erkennen, und fing an, ihre Verdienste auf eine richtigere Wagschale zu legen. Sie rechtfertigten all' die Lächerlichkeiten, die man in der Welt von ihnen erzählt, auf's vollkommenste. Ich sahe Actricen und Acteurs, die dermaßen durch das Beyfallsgeklatsch' und Bravogejauchze verderbt waren, daß sie die allerbewundernswürdigsten Talente zu besitzen, und dem Publicum ungemeine Gnade zu erweisen glaubten, wenn sie spielten.

Ihre Fehler waren mir anstößig; allein zum Unglücke fand ich ihre Lebensart ein wenig zu sehr nach meinem Geschmacke, und ich stürzte mich in Schlämmerey und Dämmerey. Wie konnt' ich gegenstreben? Alle Reden, die ich unter ihnen führen hörte, waren eitel Seelengift für die Jugend, und alles, was ich sahe, trug zur 187 völligen Sittenverderbung bey. Hätt' ich auch nicht gewußt, was bey Casilda'n, bey Constanzie'n und andern Komödiantinnen vorging, so war doch Arsenie'ns Haus allein zu meiner Verführung hinlänglich. Ausser denen schon erwähnten alten Herren, fanden sich auch verschiedene Petitmaitres ein, Söhne aus guten Häusern, denen die Wucherer zu ihren Verschwendungen vorschossen; manchmahl wurden sogar auch Steuerpächter aufgenommen, die aber, anstatt, wie in ihren Versammlungen, für ihre Gegenwart bezahlt zu werden, für selbige bezahlen mußten.

Florimonde, die in einem benachbarten Hause wohnte, speiste alle Mittag' und Abend bey Arsenie'n. Die Eintracht, worin sie beyderseits lebten, setzte viele in Verwunderung. Man begriff durchaus nicht, wie zwey Buhlerinnen ein so gutes Verständniß unterhalten konnten, und bildete sich ein, sie würden, früh oder spät, wegen irgend eines Cavaliers zerfallen. Doch kannte man sie nicht genugsam; sie waren zu sehr Herzensfreundinnen. Statt, wie andere Weiber, auf einander eifersüchtig zu seyn, lebten sie aus gemeinschaftlicher Casse. Sie fanden es für besser, die Ausbeute, die ihnen die Männer brachten, zu theilen, als thörichterweise sich deren Seufzer abzukämpfen.

Auch Laura machte sich, nach dem Beyspiele dieser berühmten Bundesgenossinnen, ihre 188 jungen Tage zu Nutze. Sie hatte mir wohl gesagt, daß ich gar feine Dinge zu Gesicht bekommen würde. Indeß macht' ich nicht den Eifersüchtigen; ich hatte versprochen, mich in die Denkungsart der Gesellschaft zu fügen.

Ich verstellte mich einige Tage lang; erkundigte mich nur bloß nach den Nahmen der Mannspersonen, mit denen ich sie geheime Unterredungen pflegen sahe. Und beständig fiel die Antwort: Es wär' ein Oheim oder ein Vetter. Was für eine Menge Verwandten hatte sie nicht! Ihre Familie war weit zahlreicher, als des Königs Priamus seine. Mit diesen Oheimen und Vettern behalf sie sich aber nicht, sie warf auch manchmahl nach Fremden den Angel aus, und machte bey dem obengedachten, guten, alten Mütterchen die Witwe von Stande. Kurz, Laura war – um dem Leser einen genauen und bündigen Begriff von ihr zu geben – eben so jung, eben so artig, und eben so verbuhlt, als ihre Frau, die vor ihr keinen weitern Vorzug hatte, als daß sie das Publicum öffentlich belustigte.

Drey Wochen lang schwamm ich mit dem Strome, berauschte mich in allen Arten von Vergnügungen. Doch muß ich gestehen. daß ich mitten im Genusse innere Vorwürfe fühlte, die sich von meiner Erziehung herschrieben, und die mir alle meine Freuden vergällten. Der Saus und Braus, worin ich forttaumelte, 189 konnte selbige nicht besiegen, vielmehr wurden sie immer stärker, je wilder und wüster ich wirthschaftete; mein zartes, sittliches Gefühl behielt glücklich die Oberhand, und ich begann, vor den Zügellosigkeiten des Komödiantenlebens ein Grausen zu fühlen.

Ha! Elender! sagt' ich zu mir selbst, erfüllst Du so die Erwartung Deiner Familie? Täuschtest Du selbige nicht schon genugsam, da Du einen andern Stand ergriffst? Soll Dich der Dienerstand abhalten, ein rechtschaffener Kerl zu seyn? Ziemt es sich wohl für Dich, unter solchem lasterhaften Volke zu leben? Bey jenen herrscht Neid, Zorn und Geitz, bey diesen ist alle Scham gänzlich verbannt. Hier sind sie der Unenthaltsamkeit und Trägheit ergeben, dort schwillt der Stolz bis zum Uebermuthe empor. Mein Schluß steht fest; ich bleibe nicht länger bey den sieben Todsünden.

 


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