Alain René Lesage
Gil Blas von Santillana
Alain René Lesage

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Siebentes Kapitel.

Große Veränderung in Don Vinzenzio's Hause; seltsamer Entschluß, den die schöne Aurore aus Liebesdrange faßt.

Nicht lange nach dem Vorfalle ward der Sennor Don Vinzenzio krank. Wär' er auch nicht so alt gewesen, als er war, so waren doch die Symptomen seiner Krankheit zu heftig, als daß man einen guten Ausgang hätte erwarten können. Man ließ sogleich zwey der berühmtesten Aerzte aus Madrid hohlen, den Doctor Andros und den Doctor Oquetos. Sie untersuchten den Patienten mit der größten Aufmerksamkeit, und kamen nach genauer Beobachtung darin überein, daß die Säfte in Wallung wären. Das war aber auch das Einzige, worin sie übereinstimmten.

Der eine verlangte, der Patient sollte noch an selbigem Tage eine Purganz nehmen, und 207 der andre, man sollte das Purgieren noch aufschieben. Man muß, sagte Andros, auf eine schleunige Reinigung der Säfte bedacht seyn, wenn sie schon roh sind, aus Besorgniß, daß sie, in der heftigen Gährung, worin sie sich befinden, sich auf einige edle Theile werfen möchten. Oquetos behauptete dagegen, man müsse mit dem Abführungsmittel so lange warten, bis die Säfte gekocht wären.

Allein Ihre Methode, erwiederte der Erste, läuft schnurstracks gegen die Heilart des Fürsten unter den Aerzten. Hippokrates lehrt uns, bey dem stärksten hitzigen Fieber gleich in den ersten Tagen zu Abführungsmitteln zu schreiten, und sagt ausdrücklich, man müsse mit den Pugirmitteln nicht säumen, wenn die Säfte in Orgasmo sind, das will sagen, in Wallung. O! darin irren Sie Sich eben, entgegnete Oquetos. Hippokrates versteht unter dem Worte Orgasmus nicht die Wallung, sondern die Kochung der Säfte.

Nunmehr wurden die Aerzte warm. Der eine führte den griechischen Text an, und all' die Autoren, die ihn so, wie er, ausgelegt hatten; der Andre, der sich auf eine lateinische Uebersetzung stützte, stimmte den Ton noch etliche Noten höher. Wem von beyden sollte man nun glauben? Don Vinzenzio war nicht der Mann, der hierüber einen Ausspruch thun konnte. Da er sich aber zu wählen genöthigt sahe, gab er demjenigen den Vorzug, der die meisten 208 Patienten an den Tod expedirt hatte, ich will sagen, dem Aeltesten.

Alsbald entfernte sich Andros, als der Jüngste, nicht ohne einige Spöttereyen über den Orgasmus seinem ältern Collegen in den Bart geworfen zu haben. So blieb Oquetos als Sieger zurück. Da er die Grundsätze des Doctor Sangrado hatte, machte er damit den Anfang, daß er dem Patienten häufige Aderlässe verordnete, das Purgieren verschob er so lange, bis die Säfte würden gekocht haben. Der Tod aber, aus Besorgniß, ein so weislich verschobenes Purgieren möchte ihm seine Beute aus den Zähnen rücken, kam der Kochung zuvor, und schleppte ihn fort. Das war das Ende des Sennor Don Vinzenzio, der sein Leben verlor, weil sein Arzt nicht Griechisch verstand.

Nachdem Aurore ihren Vater mit standesmäßigem Pomp hatte begraben lassen, trat sie die Verwaltung der Hinterlassenschaft an. Nunmehr ihr eigner Herr, dankte sie einige von den Bedienten ab, deren jedem sie eine seinen Diensten angemessene Belohnung gab, und zog sich bald hernach auf ein Schloß zurück, das am Ufer des Tajo, zwischen Sacedon und Buendia lag.

Ich befand mich unter denen, die sie behielt, und mit hinaus aufs Land nahm; ja ich hatte sogar das Glück, mich ihr unentbehrlich zu machen. Ungeachtet des treuen Berichts, den ich ihr vom Don Luis gebracht, liebte sie ihn doch, 209 oder hatte sich vielmehr ganz ihrer Liebe überlassen, da sie selbige nicht hatte besiegen können. Jetzt bedurfte sie nicht mehr geheime Unterredungen mit mir zu pflegen.

Gil Blas, sagte sie seufzend zu mir, ich kann den Don Luis nicht vergessen; so sehr ich mich auch bestrebe, ihn aus meinen Gedanken zu verbannen, so stellt er sich mir unaufhörlich dar; nicht so, wie Du ihn mir gemahlt hast, versenkt in allen Arten von Ausschweifungen, sondern so, wie ich ihn mir wünsche, zärtlich, liebevoll und standhaft. Bey diesen Worten ward ihr ganz wehmüthig, und wider ihren Willen entstahlen sich ihrem Aug' einige Zähren. Bey einem Haar hätt' ich mitgeweint, so sehr rührten mich ihre Thränen. Ich konnte ihr nicht besser den Hof machen, als daß ich mich fühlbar bey ihrem Leiden bezeigte.

Du bist ein guter Junge, sagte sie, nachdem sie ihre schönen Augen getrocknet hatte, und mit Deinem Diensteifer bin ich so zufrieden, daß ich ihn dir auf's Beste zu belohnen verspreche. Jetzt bedarf ich Deines Beystandes mehr denn je, lieber Gil Blas. Ich muß Dir einen Plan entdecken, den ich gemacht habe, und den Du vielleicht höchst wunderbar finden wirst.

Je eher je lieber werd' ich nach Salamanka reisen; will dort in Cavalierstracht erscheinen, und unter dem Namen Don Felix 210 mit Pacheco Bekanntschaft machen. Ich will sein Zutrauen zu erhalten suchen, oft das Gespräch aus Aurore von Gusman lenken; für deren Vetter ich gelten werde. Vielleicht wird er wünschen sie zu sehen, und da erwart' ich ihn eben. Wir werden zwey Wohnungen in Salamanka haben. In der einen werd' ich Don Felix seyn, in der andern Aurore, und indem ich mich dem Don Luis bald in Mannskleidern, bald in der Kleidung meines Geschlechtes zeigen werde, schmeichl' ich mir, ihn in Kurzem zu dem vorgesetzten Ziele zu lenken.

Ich gesteh' es ein, setzte sie hinzu, mein Project ist ausschweifend, aber meine Leidenschaft reißt mich hin, und das Unschuldige meiner Absichten macht mich blind gegen all' das Thörichte eines so gewagten Schrittes.

Ich fand Donna Aurore'ns Plan grade so, wie sie meinte, daß ich ihn finden würde; zu rasch, zu unüberlegt, zu ausschweifend. Dessen ungeachtet hütete ich mich sehr, den Präceptor zu spielen, vielmehr hob ich an die Pille zu vergolden, und zu beweisen, daß dieß thörichte Project weiter nichts sey, als eine unschädliche Geburt des Witzes. Ich erinnere mich nicht mehr, durch was für Gründe ich ihr das darzuthun suchte; doch sie fand sie triftig genug. Was macht den Liebenden froher, 211 als wenn man seine Gedanken billigt, und ihnen schmeichelt.

Wir sahen also dieß verwägne Unternehmen für eine Komödie an, deren Vorstellung wir so gut als möglich einzurichten bedacht waren. Wir nahmen die Schauspieler aus unsern Hausgenossen, theilten hierauf die Rollen aus, was ohne Geschrey und ohne Gekeife zuging, weil wir nicht Komödianten von Profession waren. Wir beschlossen, Sennora Ortiz sollte unter dem Nahmen der Donna Chimena de Gusman Aurorens Tante spielen; einen Bedienten und ein Mädchen bey sich haben; und Aurora als verkleideter Cavalier mich zum Kammerdiener pro Forma; ihr eigentlicher aber sollte eines von ihren Mädchen seyn, die man als Page kleiden wollte.

Nach dieser Rollenvertheilung begaben wir uns wieder nach Madrid, wo wir erfuhren, daß Don Luis noch nicht weg sey, aber in Kurzem nach Salamanka gehen würde. Hurtig bestellten wir die uns nöthigen Kleider. Als sie fertig waren, ließ das Fräulein sie gut einpacken, indem wir ihrer nur erst zur gehörigen Zeit, und an gehörigem Orte bedurften.

Hierauf übergab sie ihrem Inspector die völlige Besorgung ihrer Angelegenheiten, warf sich in einen Wagen mit vier Maulthieren bespannt, und so rollten wir die Heerstraße nach dem Königreiche Leon hinunter. All' die Bedienten, 212 die in dem Stück eine Rolle zu spielen hatten, befanden sich bey ihr.

Wir waren bereits durch Altkastilien, als die Wagenachse zerbrach. Dieß geschah zwischen Avila und Villaflor, zwey bis drey hundert Schritt von einem Schlosse, das wir am Fuße eines Berges liegen sahen. Die Nacht rückte heran, wir waren in keiner kleinen Beängstigung. Zum Glücke ging ein Bauer bey uns vorbey, der uns aus unserer Verlegenheit riß, ohne daß er eben viel dazu that. Er benachrichtigte uns, das Schloß, das wir dort liegen sähen, gehörte der Donna Elvire, einer Witwe des Don Pedro de Pinares, und erzählte uns von dieser Dame so viel Gutes, daß mein Fräulein mich auf das Schloß sandte, und um ein Nachtquartier bitten ließ. Elvire entsprach der Schilderung des Landmanns völlig. Zwar ist nicht zu läugnen, daß ich mich meines Auftrages auf eine solche Art entledigte, daß sie uns in ihrem Schlosse aufzunehmen sich genöthigt gesehn, wenn sie auch nicht die höflichste Dame gewesen wäre. Sie empfing mich überaus huldreich, und gab mir auf mein Compliment die gewünschte Antwort.

Wir begaben uns insgesammt nach dem Schlosse, wohin die Maulthiere den Wagen ganz mählig nachschleiften. An dem Thore begegneten wir der Witwe des Don Pedro, die meiner Herrschaft entgegen kam. All' die 213 Reden, die hier von beyden Seiten aus Höflichkeit gewechselt wurden, übergeh' ich; nur das muß ich sagen: Elvire war eine bereits ziemlich bejahrte Dame, aber so wohl erzogen, und der Pflichten der Gastfreyheit so kundig, als irgend ein Frauenzimmer in der Welt.

Sie führte Aurore'n in ein prächtiges Zimmer, wo sie selbige einige Augenblicke ruhen ließ; hierauf ging sie hin, und sahe zu, ob es auch uns an nichts fehlte. Nachher, als das Abendessen fertig war, befahl sie in Auroren's Zimmer zu decken, wo sie sich alle Beyde an den Tisch setzten. Don Pedro's Witwe gehörte nicht zu denen, die am besten die Honneurs der Tafel zu machen glauben, wenn sie ein gravitätisches und gedankenvolles Wesen annehmen. Sie hatte die fröhlichste Laune, war ungemein unterhaltend, ihr Ausdruck edel, wohlgewählt. Ihren Witz und die sinnreiche Wendung, die sie ihren Gedanken gab, konnt' ich nicht genugsam bewundern.

Aurora schien mir von ihr so entzückt, wie ich. Sie knüpften Freundschaft, und versprachen einander, oft zu schreiben. Da unser Wagen nur erst den folgenden Tag fertig wurde, und zu besorgen stand, daß wir sehr spät würden abreisen können, so ward beschlossen, noch den ganzen folgenden Tag im Schlosse zuzubringen. Sogar wir hatten Speis' und Trank 214 vollauf, und ein eben so gutes Nachtlager, als Bewirthung.

Den folgenden Tag fand mein Fräulein in Elvire'ns Unterhaltung neue Annehmlichkeiten. Sie speisten zu Mittage in einem großen Saale, worin viele Gemählde hingen. Eines unter andern war mit dem meisterhaftesten Pinsel gemahlt, und der Inhalt desselben höchst tragisch.

Ein Cavalier lag auf der Erde, gebadet in seinem Blute; der Tod hatte das Drohende seines Blickes nicht wegtilgen können. Neben ihm befand sich eine Dame, zwar auch zu Boden hingestreckt, allein in einer andern Attitüde; in ihrer Brust steckte ein Schwert, und sie gab eben ihren Geist auf; ihr sterbender Blick heftete sich auf einen jungen Mann, den ihr Verlust mit tödtlichem Jammer anfüllte. Unfern von ihm stand ein stattlicher Greis, dem die blutige Scene um ihn nicht wenig nahe ging; der dabey so viele Rührung äußerte, wie der junge Mann. Der Eindruck, den jene tragischen Gegenstände auf sie machten, war, dem Anscheine nach, derselbe, doch war der Ausbruch ihrer Empfindungen von einander sehr verschieden. Der Greis, in tiefe Wehmuth versenkt, schien von derselben wie zu Boden gedrückt; bey dem jungen Manne aber mischte sich Wuth mit seiner Betrübniß. Der Ausdruck, der in diesem Gemählde lag, war so wahr und warm, daß 215 wir nicht satt werden konnten, es anzuschauen.

Mein Fräulein fragte, was für eine tragische Geschichte dieß Gemählde vorstellte? Eine treue Abbildung der Unglücksfälle meines Hauses, liebe Sennora, sagte Elvire. Diese Antwort machte Aurore'ns Neugier rege. Sie äußerte ein so starkes Verlangen, mehr davon zu wissen, daß Don Pedro's Witwe nicht umhin konnte, ihr die Befriedigung zu versprechen, wonach sie sich sehnte.

Dieß Versprechen, das in Gegenwart der Ortiz, ihrer beyden Gefährtinnen, und meiner geschahe, hielt uns alle Viere nach aufgehobener Tafel im Saale zurück. Mein Fräulein bestand darauf, wir sollten uns fortbegeben; allein Elvire, die uns die brennendste Sehnsucht nach der Erklärung dieses Gemähldes anmerkte, erlaubte uns, gütig wie sie war, da zu bleiben, indem sie sagte: die Geschichte, die sie zu erzählen hätte, wäre keine von denen, die Verschwiegenheit erfordern. Einen Augenblick nachher begann sie selbige folgendermaßen. 216

 


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