Gotthold Ephraim Lessing
Laokoon
Gotthold Ephraim Lessing

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XIII.

Wenn Homers Werke gänzlich verloren wären, wenn wir von seiner Ilias und Odyssee nichts übrig hätten, als eine ähnliche Folge von Gemälden, dergleichen Caylus daraus vorgeschlagen: würden wir wohl aus diesen Gemälden, – sie sollen von der Hand des vollkommensten Meisters sein – ich will nicht sagen, von dem ganzen Dichter, sondern bloß von seinem malerischen Talente, uns den Begriff bilden können, den wir itzt von ihm haben?

Man mache einen Versuch mit dem ersten dem besten Stücke. Es sei das Gemälde der PestIliad. A. v. 44-53. Tableaux tirés de l'Iliade p. 7.. Was erblicken wir auf der Fläche des Künstlers? Tote Leichname, brennende Scheiterhaufen, Sterbende mit Gestorbenen beschäftiget, den erzürnten Gott auf einer Wolke, seine Pfeile abdrückend. Der größte Reichtum dieses Gemäldes ist Armut des Dichters. Denn sollte man den Homer aus diesem Gemälde wiederherstellen: was könnte man ihn sagen lassen? »Hierauf ergrimmte Apollo, und schoß seine Pfeile unter das Heere der Griechen. Viele Griechen sturben und ihre Leichname wurden verbrannt.« Nun lese man den Homer selbst:

Βη̃ δὲ κατ' Ουλύμποιο καρήνων χωόμενος κη̃ρ,
Τόξ' ώμοισιν έχων, αμφηρεφέα τε φαρέτρην.
’Έκλαγξαν δ' άρ' οϊστοὶ επ' ώμων χωομένοιο,
Αυτου̃ κινηθέντος· ο δ' ήϊε νυκτὶ εοικω̃ς·
‛Έζετ' έπειτ' απάνευθε νεω̃ν, μετὰ δ' ιὸν έηκεν·
Δεινὴ δὲ κλαγγὴ γένετ' αργυρέοιο βιοι̃ο.
Ουρη̃ας μὲν πρω̃τον επώχετο, καὶ κύνας αργούς·
Αυτὰρ έπειτ' αυτοι̃σι βέλος εχεπευκὲς εφιείς
Βάλλ'· αιεὶ δὲ πυραὶ νεκύων καίοντο θαμει̃αι.

So weit das Leben über das Gemälde ist, so weit ist der Dichter hier über den Maler. Ergrimmt, mit Bogen und Köcher, steiget Apollo von den Zinnen des Olympus. Ich sehe ihn nicht allein herabsteigen, ich höre ihn. Mit jedem Tritte erklingen die Pfeile um die Schultern des Zornigen. Er gehet einher, gleich der Nacht. Nun sitzt er gegen den Schiffen über, und schnellet – fürchterlich erklingt der silberne Bogen – den ersten Pfeil auf die Maultiere und Hunde. Sodann faßt er mit dem giftigern Pfeile die Menschen selbst; und überall lodern unaufhörlich Holzstöße mit Leichnamen. – Es ist unmöglich, die musikalische Malerei, welche die Worte des Dichters mit hören lassen, in eine andere Sprache überzutragen. Es ist ebenso unmöglich, sie aus dem materiellen Gemälde zu vermuten, ob sie schon nur der allerkleineste Vorzug ist, den das poetische Gemälde vor selbigem hat. Der Hauptvorzug ist dieser, daß uns der Dichter zu dem, was das materielle Gemälde aus ihm zeiget, durch eine ganze Galerie von Gemälden führet.

Aber vielleicht ist die Pest kein vorteilhafter Vorwurf für die Malerei. Hier ist ein anderer, der mehr Reize für das Auge hat. Die ratpflegenden trinkenden GötterIliad. Δ. v. 1-4. Tableaux tirés de l'Iliade p. 30.. Ein goldner offener Palast, willkürliche Gruppen der schönsten und verehrungswürdigsten Gestalten, den Pokal in der Hand, von Heben, der ewigen Jugend, bedienet. Welche Architektur, welche Massen von Licht und Schatten, welche Kontraste, welche Mannigfaltigkeit des Ausdruckes! Wo fange ich an, wo höre ich auf, mein Auge zu weiden? Wann mich der Maler so bezaubert, wieviel mehr wird es der Dichter tun! Ich schlage ihn auf, und ich finde – mich betrogen. Ich finde vier gute plane Zeilen, die zur Unterschrift eines Gemäldes dienen können, in welchen der Stoff zu einem Gemälde liegt, aber die selbst kein Gemälde sind.

Οι δὲ θεοὶ πὰρ Ζηνὶ καθήμενοι ηγορόωντο
Χρυσέω εν δαπέδω, μετὰ δέ σφισι πότνια ‛Ήβη
Νέκταρ εωνοχόει· τοὶ δὲ χρυσέοις δεπάεσσι
Δειδέχατ' αλλήλους, Τρώων πόλιν εισορόωντες.

Das würde ein Apollonius, oder ein noch mittelmäßigerer Dichter, nicht schlechter gesagt haben; und Homer bleibt hier ebensoweit unter dem Maler, als der Maler dort unter ihm blieb.

Noch dazu findet Caylus in dem ganzen vierten Buche der Ilias sonst kein einziges Gemälde, als nur eben in diesen vier Zeilen. So sehr sich, sagt er, das vierte Buch durch die mannigfaltigen Ermunterungen zum Angriffe, durch die Fruchtbarkeit glänzender und abstechender Charaktere, und durch die Kunst ausnimmt, mit welcher uns der Dichter die Menge, die er in Bewegung setzen will, zeiget: so ist es doch für die Malerei gänzlich unbrauchbar. Er hätte dazu setzen können: so reich es auch sonst an dem ist, was man poetische Gemälde nennet. Denn wahrlich, es kommen derer in dem vierten Buche so häufige und so vollkommene vor, als nur in irgend einem andern. Wo ist ein ausgeführteres, täuschenderes Gemälde als das vom Pandarus, wie er auf Anreizen der Minerva den Waffenstillestand bricht, und seinen Pfeil auf den Menelaus losdrückt? Als das, von dem Anrücken des griechischen Heeres? Als das, von dem beiderseitigen Angriffe? Als das, von der Tat des Ulysses, durch die er den Tod seines Leukus rächet?

Was folgt aber hieraus, daß nicht wenige der schönsten Gemälde des Homers kein Gemälde für den Artisten geben? daß der Artist Gemälde aus ihm ziehen kann, wo er selbst keine hat? daß die, welche er hat, und der Artist gebrauchen kann, nur sehr armselige Gemälde sein würden, wenn sie nicht mehr zeigten, als der Artist zeiget? Was sonst, als die Verneinung meiner obigen Frage? Daß aus den materiellen Gemälden, zu welchen die Gedichte des Homers Stoff geben, wann ihrer auch noch so viele, wann sie auch noch so vortrefflich wären, sich dennoch auf das malerische Talent des Dichters nichts schließen läßt.


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