Theodor Lessing
Haarmann
Theodor Lessing

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Rechtstechnisches

Je weiter die Verhandlungen fortschritten, um so klarer drängte sich die Überzeugung auf, daß man eine Schlange nicht richten kann, ohne zugleich den Sumpf mit vor Gericht zu stellen, daraus allein die Schlange ihre Nahrung zog. Dies war nun vor dem Schwurgericht in Hannover nicht möglich. Und zwar aus den folgenden Gründen: 1. Haarmann machte alle seine Aussagen unter dem Druck und in Abhängigkeit von der hannoverschen Polizei; insbesondere in Abhängigkeit von dem Polizeiarzt Dr. Schackwitz, der ihn völlig zu lenken vermochte. Man setze einmal den Fall, dieser Kriminalprozeß wäre in einer anderen Stadt, z. B. in Leipzig oder in Berlin verhandelt und ein anders eingestellter, aber gleich eindrucksvoller Arzt wäre jeden Morgen in Haarmanns Zelle getreten etwa mit den Worten: »Fritz, was bist du für ein großartiger Kerl, daß du zehn Jahre lang die dumme Behörde in Hannover an der Nase herumgeführt hast«, so würde der ganze Kriminalfall ein völlig anderes Gesicht bekommen haben. Es hätte sich dann erwiesen, daß ein schadhaftes Rechtssystem und eine schadhafte Psychiatrie die dreißig Morde mit verschuldet haben. Da aber Haarmann in Hannover verblieb und seine letzten Tage völlig abhängig waren von der Gunst der Behörde, so hütete er sich sorglich, das auszusagen, was auch diese mitbelastet hätte. Ja, man benutzte Haarmann geflissentlich zur Entlastung der in Hannover herrschenden Zustände und ging in derselben Weise schonend mit ihm um, wie er seinerseits günstig für das Polizei- und Gerichts-Personal aussagte. 2. Man hatte als Sachverständige nur die dem Gericht nächstgelegenen Ärzte zugelassen, welche von Berufs- und Amtswegen bereits in der Vorgeschichte des Falles mitwirkten und darum ebensowenig wie der Schwurgerichtshof »die idealen Bedingungen zu vollkommen unbefangener Rechtsfindung« erfüllen konnten. a) Gutachter I, Gerichtsmedizinalrat Brandt, war derselbe Gutachter, welcher schon 1908 (im Gegensatz zu drei anderen nichtbeamteten Ärzten) den Haarmann gelegentlich seiner Sexualperversionen für geistig gesund erklärt und damit vom Irrenhaus freigemacht hatte. Brandt hätte, wenn er jetzt dieses sein erstes Gutachten umgestoßen hätte, seine »Mitschuld« an allen seit 1908 eingetretenen Irrsinnstaten eingestehen müssen. b) Gutachter II, Gerichtsmedizinalrat Schackwitz, war derselbe Gutachter, der als Polizeiarzt das im Februar 1924 ihm zugetragene Fleisch vielleicht nicht falsch, aber jedenfalls nach nicht genügend exakter Untersuchung für »Schweinefleisch« erklärte und der jedenfalls als nebenamtlicher Polizeiarzt kein unbedingtes Interesse daran hatte, eine etwaige Mitschuld der Behörden oder gar seiner selbst scharf und klar ans Tageslicht zu bringen, c) Gutachter III, Geh. Medizinalrat Schultze aus Göttingen, war zwar sicher unvoreingenommen, aber kannte die früheren Gutachten, als er das seine abgab (was z. B. nach englischem Recht nicht zulässig ist). – Ich will absehen von einer ganzen Reihe von rechtstechnischen Fehlern, die im Laufe des Prozesses gemacht wurden. Notwendig schien es mir, um der Wahrheit willen diese grundsätzlichen Bedenken nicht zu verschweigen.

Der Ausschluß der Kritik

Man nahm keinen Anstand, auch bei den Teilen der Verhandlung, während deren die Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde, die 21 Vertreter der Presse im Saale zu lassen. Da diese alle nur »Berichterstatter« waren, so wurde in der Öffentlichkeit kein Versuch unternommen, das Grauenhafte geistig auszuwerten; dagegen wurde die ganze Bevölkerung Deutschlands wochenlang mit dem widerwärtigsten Schmutz und Bluff genährt. Um so erstaunlicher war der Zwischenfall, der am elften Tage der Verhandlungen zu einer wüsten, unsinnigen Entladung führte. – Schon in den ersten Tagen des Prozesses wurden die Verhandlungen wiederholt jäh unterbrochen durch Ansprachen und Einschüchterungen an die »Presse«, von der man sachliche – (das hieß aber in Wahrheit: die Mitschuld der Behörden und Zustände verschweigende) Berichterstattung erwartete. Da nach § 176 des Gerichtsverfassungsgesetzes dem Präsidenten die Verteilung der Plätze im Saale zustand, so konnte dieser androhen, solche Schreiber, die »unsachlich und unwahr« berichten würden, von der Verhandlung auszuschließen. Da jeder im Saal durch Amt, Beruf, Erwerbspflicht gebunden war, so war es unmöglich, daß die im Solde des Zeitungssystems arbeitenden Berichterstatter (abgesehen von berufsmäßigen Protesten der Kommunisten, die in Hannover aber nur eine einzige, wenig einflußreiche Zeitung besaßen) das öffentliche Gewissen aufpeitschen und dies »Panama der Kultur« enthüllen würden. So erhob sich denn während des Prozesses eine der bänglichsten aller Fragen: Wie weit darf ein Berichterstatter an der »öffentlichen Rechtsfindung« (natürlich nicht an der »Jurisdiktion«) kritisch mitarbeiten und mithin in ein noch schwebendes Verfahren geistig eingreifen? Ich glaube, daß nur in einem Fall die Gerichtskritik beschränkt werden muß: Wenn sie dazu mißbraucht wird, um zum Nachteil eines Angeklagten öffentlich Stimmung zu machen; wie es in Deutschland hundertfach geschieht; handle es sich nun um Max Hölz oder Maximilian Harden, Ernst Toller oder Adolf Hitler. – Ein solcher Mißbrauch politischer Zu- und Abneigungen war aber im Falle Haarmann ausgeschlossen. Daß der Wolfsmensch unschädlich zu machen sei, stand für jeden von vornherein fest. Sein Kriminalfall hatte mehr sittliche, kulturkritische und seelenkundliche als rechtswissenschaftliche Bedeutung. Im übrigen besitzt jeder Gerichtshof ein einfaches Mittel, um sich vor jeder Beeinflussung durch die öffentliche Meinung zu schützen. Er braucht sich nur ganz der Sache hinzugeben; nicht rechts und nicht links blickend. Es ist ein tiefes Unrecht, während einer strengen, sachlichen Arbeit in Zeitungen nachzulesen, »welche Presse man hat« d. h. ob der Eitelkeit geschmeichelt oder ob sie gekränkt sei. Stößt man aber wirklich auf Geister, mit denen man glaubt sich auseinandersetzen zu müssen, so suche man gemeinsame Arbeit zu tun. Der anständige Mensch wird lieber positiv mitarbeiten, als sich kritisch einstellen. Es bedarf also nur des menschlichen und sachlichen Führungnehmens. Gegen diese Grundsätze sündigte das hannoversche Gericht in fast unbegreiflicher Weise. Man rechtsprechelte fürs Auge. Man versuchte gleichzeitig mit der Entscheidung der Rechtsfälle auch die Prüflese der »öffentlichen Meinung« einzuleiten. Fortwährend brachten Gerichtsdiener die neuesten Zeitungsblätter. In dem überhitzten Saal, zehn Tage lang von früh bis spät, unausgeschlafen, überrege und überarbeitet, Stuhl an Stuhl sitzend, vermochte keiner etwas anderes zu erfühlen als nur sich selber. Aus Karriereehrgeiz, Wissenschaftsdünkel, Selbstgerechtigkeit und Gottähnlichkeitsgefühlen ballte sich über den wenigen noch besonnenen Häuptern allmählich eine dicke Wolke von Mißwollen, Unbehagen, Feindseligkeit und Angst zusammen, so daß der schließliche Donnerkrach vorauszusehen war. Ich darf hier einige persönliche Bemerkungen nicht zurückhalten. Ich hatte, indem ich aus Vorliebe für Seelenkunde dem Verfahren beiwohnte, nicht im mindesten die Absicht, diesen Rechtsfall zu schulmeistern. Das Gebiet war so abstoßend ekelhaft, daß ich freiwillig niemals mich dareingemengt hätte. Aber da ich nun einmal für deutsche Zeitungen das Schreiben von Berichten übernommen hatte, so wurde ich durch bis zu Beleidigung und persönliche Bedrohung mählich fortschreitende Einschüchterungsversuche durch das hannoversche Gericht selber, in immer gespanntere Haltung hineingedrängt. Man hatte mich zugelassen, erstens, weil man kaum mehr als den Namen von mir kannte, zweitens, weil man von einem beamteten Hochschullehrer nicht eben eine Kritik der Behörden seiner Heimatstadt erwartete; drittens, weil man von der keineswegs »radikalen« Presse, die zu vertreten ich übernommen hatte, am wenigsten die nachmals doch als notwendig sich ergebende scharfe Beleuchtung der verrotteten Zustände befürchtete. Man wäre jeder möglichen Rücksicht von meiner Seite gewiß gewesen, wenn man sachlichen Willen zur Wahrheit bewiesen und mir nicht vor Augen gestellt hätte das traurige Kleinstadtschauspiel gekränkten Juristenehrgeizes, medizinischer Selbstgerechtigkeit und amtlichen Machtmißbrauchs; das Schauspiel eines aufgescheuchten Ameisenhaufens, der den störenden Fremdkörper stechend und säurespritzend zu entfernen trachtet. Nicht einmal die unter durchbildeten Menschen selbstverständlichen Formen wurden leidlich gewahrt, sondern sobald die ersten verfänglichen Berichte im Gerichtssaal nachgelesen wurden, begann eine ungeheuerliche In-Acht-und-Bann-Erklärung aller gegen einen. Nach mehreren ähnlichen Zwischenfällen, bei denen mir die Entfernung aus dem Saale angedroht wurde, wenn ich meine Überzeugung weiterhin zum Ausdruck brächte, zückte endlich am elften Tage der vernichtende Blitz, indem die Sachverständigen sich weigerten, ihre (mir übrigens schon bekannten) Gutachten in meiner Gegenwart abzugeben; die Staatsanwaltschaft sich durch meine Berichterstattung beeinträchtigt, die Verteidiger sich für beleidigt erklärten; der Vorsitzende aber mich anherrschte: »Sie sind hier als Reporter zugelassen, nicht als Schriftsteller. Wir können im Gerichtssaal keinen Herren dulden, der Psychologie treibt.« – Ich wurde, da ich mir ruhig und sachlich diese Beeinflussung verbat, aus dem Saale hinausgewiesen. An den Vorgang knüpften sich lange Zeitungskriege, indem von der einen Seite meine Person herabgewürdigt, die Öffentlichkeit, die Hochschule, die Studentenschaft, sogar das Kultusministerium aufgehetzt; von der anderen Seite dagegen mein Handeln mit Zolas oder Voltaires Kriminalkritik verglichen wurde, beides wohl nur Beweis, daß eine naturlos-unmenschlich gewordene Rechtsmaschinerie zwar jede »Tendenz« der Hexe Politik, jede Selbstüberhebung des blinden Riesen Wissenschaft verzeiht, daß sie jede Sprache der Absichten oder der Zwecke begreift; eines aber niemals: das natürliche Gefühl des menschlichen Herzens.

Das Todesurteil

Nachdem die Sachverständigen ihre Gutachten dahin abgegeben hatten, daß Haarmann zwar eine »pathologische Persönlichkeit«, nicht aber des »freien Willens« und der »Verantwortungsfähigkeit« bei Begehung seiner Taten beraubt gewesen sei (sintemalen weder »Absenzen« vorlagen, noch auch »Epileptische Äquivalente«, noch auch ein »Manisch-depressives Irresein«, endlich auch weder »Schwachsinn«, noch »Hebephrenie«), so begannen denn die Plädoyers. Das des Oberstaatsanwalts: klar und maßvoll; alles Wesentliche zusammenfassend; das des Haarmann-Verteidigers: unsachlich, wichtigtuerisch und kenntnislos; das des Grans-Verteidigers: sachlicher, aber recht ungeschickt und unbedeutend. Das Verhalten der beiden Angeklagten blieb das gleiche: das eines alten eingekesselten Wolfes und das eines jungen in tückische Falle geratenen Fuchses. Der Wolf, blutige Tränen vergießend, Bibelsprüche zitierend, alle seine Bluttaten aus der »Ungunst der Verhältnisse« erklärend, suchte zu beweisen, daß er unter günstigeren Umständen auch einen vortrefflichen Polizeihund hätte abgeben können und daß in seiner Unmoral eigentlich auch Moral verborgen läge; der Fuchs dagegen sammelte alle Kraft auf den Versuch, mit Hinterlassung einer Pfote oder des eingeklemmten Schwanzes wenigstens mit dem Leben davonzukommen. Auch ihr gegenseitiges Verhältnis blieb bis zum Schlusse das gleiche: Der Wolf, den jüngeren bedrohend und doch um Gemeinschaft werbend; der Fuchs eiskalt, bleich, lauernd, sich dieser Todesbruderschaft erwehrend. Am 19. Dezember, morgens 10 Uhr, wurde das Urteil verkündet: Haarmann wurde in 24 Fällen 24mal zum Tode verurteilt. Grans wurde wegen Anstiftung zum Morde (im Fall Hannappel) zum Tode und wegen Beihilfe zum Morde (im Fall Wittig) zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Haarmann nahm das Urteil an. Grans meldete seine Rechtsrüge.

Ergebnis

Mären von Wolfsmenschentum und Vampirismus reichen zurück in die fernste Vorzeit der heute lebenden Völker. Sie sind überall mit Sexualmythen verknüpft gewesen. Um das Wiederauftauchen der »Lypandrie« inmitten der abendländischen Zivilisationsmenschheit zu klären, muß man wohl ausgehen von solchen Naturspielen, in denen noch Liebesleben und Todessehnsucht, Wille zur Vernichtung des anderen und Wille zum Selbstvernichtetwerden, ja Mördertum und Zärtlichkeit wunderbar ineinanderspielen wie bei den schönsten Geschöpfen der Natur: Schmetterlingen und Insekten. – Wie es zu vermuten steht, daß in Haarmann auch ein beständig mit dem Leben spielender Wille zur Selbstauflösung lebendig ist – (hatte ich doch zuweilen den Eindruck, als ob er sich vom »Hingerichtetwerden« einen letzten Orgasmus verspreche) –, so darf man durchaus glauben, daß dieser gefühlstote Mensch im »Liebesrausch« eine ihn selbst auslöschende und ihn weit über seinen Alltag hinausreißende Überspannung erlitt, wehrloser und schicksalhafter als der orgiastische Zustand eines mit »Hemmungen« versehenen Kulturmenschen, für welchen ja auch Liebe und selbst Verbrechen eine Art leichtes Sinnenspiel und behagliches Genußmittel geworden ist. Gerade daß die ursprünglich überstarke Geschlechtlichkeit dieses Androgynen und Androlyken völlig erschöpft und verausgabt wurde, macht es begreiflich, daß er gleichsam nur aus dem untersten Bodensatz hervorzuholen vermochte die Urerbschaften einer versunkenen Gattung, für welche ursprünglich der Trieb des Sicheinbeißens und Verschlingens (auch des Sicheinverleibens »fremder« Natur in Form des Essens und Trinkens) ein das Einzelwesen auslöschender, auf ursprünglichste Mitahmung zurückführender dionysisch-(»zagrystisch«)erotischer Akt war. Wir wissen nicht einmal, ob nicht selbst das Sichzerreißen der Tiere irgendein natürliches Wollusterlebnis in sich schließt, so daß, wenn der Wolf das Lamm würgen muß, man ebensogut sagen könnte: Er liebt, wie: er haßt die Lämmer. Ich erinnere mich eines Hundes, der getötet werden mußte, weil er triebmäßig bestimmte andere Hunde (und zwar immer Hunde von gleicher, schon sehr degenerierter Art wie er selber) anfiel und würgte, bis sie tot waren. Dabei zeigte sich an dem Tiere zweifellos geschlechtliche Erregung. Bei solchen Erscheinungen müßte eine biologische Erklärung einsetzen, die seelenkundliche müßte das Traumleben, die Jugendumgebungen, das Spielzeug und die Wunschvorstellungen der Kinder- und Jünglingsjahre viel genauer erforschen, als die Schulpsychologie und -medizin von heute das vermag. –

»Und jedermann mordet sein liebstes Ding,
Damit ihr es alle nur hört,
Der eine tut's mit bösem Blick,
Der andre mit Schmeichelwort,
Der Feigling tut's in einem Kuß,
Der Held mit seinem Schwert.« . . .

So verklingt der Aufschrei des in Zuchthäusern verunzüchteten Lebens in Oscar Wildes Ballade. Daß aber Tod und Liebe, Eros und Eris ursprünglich verschlungen sind, ist Gerechtigkeit der Natur, welche fordert, daß höchste Bestätigung auch Vollendung sei. Auf den Gipfeln erhabener Erotik brauchen freilich Schicksalsergriffene nicht wie in der vormenschlichen Natur noch den Lustmord aneinander zu begehen, denn hier ist die Naturmacht zu solcher Seelengewalt geworden, daß sie das Schicksal zwingt, zu töten, wie Überragendes den Blitz auf sich zieht. Daß aber die sogenannt höheren Geschöpfe und zumal der Mensch ihre Liebesakte zeitlich überdauern und überstehen, gleichsam eigenste Selbsterfüllung überlebend, wird zweifellos erkauft mit der Minderung an Sättigungskraft erotischen Lebens, ja, diese Entsinnlichung dürfte innerhalb des »Kulturprozesses« schon eingetreten sein, damit eben Hemmungen überhaupt wirksam werden können. Wir normalen und beherrschten Menschen haben uns den vormenschlichen Triebdämonen wohl weniger durch »Sublimierung«, als durch die geistbedingte (d. h. logos- und ethosbedingte) wachsende Abkältung der Erdkraft entzogen. Nun kommt noch einmal durch eine Art Regiefehler ein Naturspiel wie dieser Triebmonomane in eine Schicht von Lebewesen, wo nur mittlere Temperaturen des Eros die Bürger-Rechte haben. Nicht schon schicksalhaft und todverbunden mit religiösen, mythischen, enthusiastischen Mächten und andererseits nicht mehr tief genug stehend, daß Tod und Wollust von Natur aus noch zusammenfallen, scheint er unter riesigem Triebdruck doch gezwungen, dem großen Liebestodgesetze scheußliche Treue zu wahren; »scheußlich« nur deshalb, weil in einer selber verfratzten und depravierten »Kulturmenschheit« auch das Naturantlitz nur in Form der Fratze und Entartung durchbrechen kann. – Denn wie der Hund, das typisch moralisch-altruistische Geschöpf nur geschwächte und ausgeprügelte Wolfsnatur darlebt, so scheint auch die Moral der Kulturmenschheit nur eine Art versetzte und »veredelte« Wollust zu bergen, so daß nach dem Gesetz des Pendels das höchste Ausmaß auf der einen Seite sogleich nach der anderen Seite hin umschlägt, wie denn moralische Fanatiker gleich Torquemada, Dante, Robespierre etwas Wölfisches haben und der wüste Amokläufer etwas vom christlichen Heiligen. Dieses Wolfstum bei Radio und Elektrizität, der Kannibalismus in feiner Wäsche und eleganter Kleidung, dürfte somit ein Merkmal sein für die Seele der abendländischen Wolfsmenschheit überhaupt; im Kleinen noch einmal dasselbe wiederholend, was im Großen darlebten fünf Heldenkriegsjahre, in denen jegliches Werktum des Mordens und jeder Wohlstand seelischen Todes im Dienste des Wolfsherzens und der Wolfsmoral stand und die älteste Erkenntnis wieder die jüngste ward: »Homo homini lupus e natura«, der Mensch ist dem Menschen von Natur der Wolf. Ich habe 1914 in einem Lazarett einen Menschen behandelt, dessen Ruhm und Glück es war, wiederholt an Wachtposten der Feinde herangeschlichen zu sein und sie mit den Händen erwürgt zu haben; dessen Brust aber – schmückte das Eiserne Kreuz. – Die Frage, ob es sich in einem solchen Falle um »Irrsinn« handle, oder ob der Mensch vor den Gesetzen verantwortlich sei, scheint mir müßig und sinnlos. Der Irrsinn liegt oft im Tun selbst. Dabei bleibt natürlich der wachbewußte Oberbau, abgeschnürt vom Triebvampirismus, völlig unversehrt. Es fehlen in solchen Fällen alle stabilisierenden Hemmungen (das, was man bei »Zurechnungsfähigkeit« eben voraussetzen muß). An ihre Stelle traten wieder wie beim Tier die automatischen Triebreaktionen, alle jene »Stereotypien«, für welche die Sachverständigen kein Auge hatten. Man kann mir nun freilich einen naheliegenden Einwand machen: Haarmann mordete ja nicht zwecklos. Er war nicht reiner »Triebverbrecher« (so wenig wie Grans reiner »Intelligenzverbrecher« ist). Er hat in mehreren Fällen möglicherweise auch ohne Geschlechtsrausch aus Besitzgier, Rache, Angst vor Mitwisserschaft gemordet. Dazu aber muß Folgendes bemerkt sein: Eine auf der Grundlage teilweisen Schwachsinns jahrzehntelang eingeschliffene und gewohnheitsmäßig gewordene Triebneurose wird selbstverständlich zuletzt nicht eben wählerisch vorgehen. Haarmann tötete schließlich so leicht, wie er sich die Stiefel putzte. Ja, das Töten in Heimlichkeit (wir werden sogleich sehen, daß diese Heimlichkeit wesenhaft zur Triebtollwut mit gehörte), vielleicht sogar schon das Hantieren mit Leichenteilen (man kennt ja bei Infantilen solche Fälle von »Nekrophilie«) wurde für Haarmann allmählich von schauerlichem Reiz. Ich kann mich nicht enthalten, einige tiefschürfende Worte Nietzsches hierher zu setzen: »So spricht der rote Richter: ›Was mordete doch dieser Verbrecher? Er wollte rauben.‹ Aber ich sage Euch: seine Seele wollte Blut, nicht Raub: er dürstete nach dem Glück des Messers. Seine arme Vernunft aber begriff diesen Wahnsinn nicht und überredete ihn. ›Was liegt an Blut!‹ sprach sie; ›willst du nicht zum mindesten einen Raub dabei machen? Eine Rache nehmen?‹ Und er horchte auf seine arme Vernunft, wie Blei lag ihre Rede auf ihm. – Da raubte er, als er mordete. Er wollte sich nicht seines Wahnsinns schämen.« (Es hat sicherlich Stunden gegeben, wo sich der Wolf vor dem jungen Fuchs schämte, daß er mordete, ohne dabei auf »die Kleider zu achten«.) – Dem hannoverschen Gericht und seinen Sachverständigen schreibe ich aber auch die folgenden Worte Nietzsches ins Stammbuch:

»Was ist dieser Mensch? Ein Knäuel von Krankheiten, welche durch den Geist in die Welt hinausgreifen; da wollen sie Beute machen. Aber dies will nicht in Eure Ohren; Euren Guten schade es, sagt Ihr mir, aber was liegt mir an Euren Guten! Vieles an Euren Guten macht mir Ekel und wahrlich nicht ihr Böses. Wollte ich doch, sie hätten einen Wahnsinn, an dem sie zu Grunde gingen, gleich diesem bleichen Verbrecher. Wahrlich, ich wollte, ihr Wahnsinn hieße Wahrheit oder Treue oder Gerechtigkeit. Aber sie haben ihre Tugend, um lange zu leben in einem erbärmlichen Behagen.

Ich bin ein Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann. Eure Krücke aber bin ich nicht.« – –

 

Ich will nunmehr auf einen wesentlichen Punkt hinweisen, der von den Seelenerratern des hannoverschen Gerichts gleichfalls recht mißkannt wurde: Die scheinbare Motivlosigkeit vieler Mordtaten. Ich habe bereits bemerkt, daß das Suchen nach Beweggründen außerhalb der Geschehnisreihen durchaus hinauskommt auf den logisch-ökonomischen Zwang, das geballte und unausmeßliche Schicksal künstlich zu verengern, um es faßbar zu machen für begreifende Orientierung. Es dürfte in Wirklichkeit niemals eine Tat aus einem Motiv geschehen. Es würde aber auch keineswegs gegen die Möglichkeit von Taten sprechen, wenn überhaupt keine Gründe für sie auffindbar wären, wie denn der Wolf das eine Mal das Lamm ohne Not zerreißt, das andere Mal, obwohl das Zerreißen zu erwarten wäre, grundlos an ihm vorüberblickt. – Die eigentümlichste Ungewißheit aber obwaltet in solchen Fällen, wo gerade die Dunkelheit und der Reiz, den das Heimliche und Bodenlose ausübt, selber zum Urgrund von Taten geworden ist. Unverkennbar ist diese Motivationslosigkeit bei manchen Formen des Giftmordes. Ich möchte dafür folgendes im zweiten Kriegsjahr 1915 selbst erlebte Beispiel anführen. Ich befand mich im ärztlichen Dienst in einem mit fünfhundert Schwerverletzten belegten Lazarett. Es waren besonders viele russische Gefangene dort. Als Dolmetscher in der russischen Abteilung arbeitete ein junger Balte (20jährig, freundlich, gefällig, scheinbar der ideale Krankenpfleger und Helfer, daher allgemein beliebt und von Kranken, Schwestern, Ärzten als allgemeines »Faktotum« geschätzt). Es fiel auf, daß unter den Russen viele Todesfälle vorkamen, die aus dem Wesen der Krankheit nicht zu erklären waren. Als diese dunkle, todbringende Epidemie nicht nachließ, kam man schließlich auf den Verdacht, es müsse sich um Vergiftungen handeln. Die Toten wurden ausgegraben; im Magen wurde Arsen nachgewiesen. Gleichzeitig wurde festgestellt, daß aus dem Giftschrank des im Lazarett befindlichen Laboratoriums Giftstoffe entfernt waren. Die Oberschwester führte zu den Schränken des Arbeitsraumes die Schlüssel. Sie konnten nur an die Ärzte nach Genehmigung des Oberarztes ausgehändigt werden. Es war nun aber einige Male geschehen, daß, wenn ein Medikament nötig war, wir unseren Vertrauensmann Oskar, eben den jungen Balten, zu der Oberschwester mit der Bitte um einen Schlüssel geschickt hatten; bei dieser Gelegenheit konnte der junge Mann wohl an den Giftschrank herangekommen sein. Als die Untersuchung eingeleitet wurde, war der Balte verschwunden; als das ganze Haus nach ihm abgesucht wurde, kam eine Ordonnanz kreidebleich und meldete, auf dem Boden in den Sparren des Dachwerks hänge Oskar. Er war bereits tot; die Untersuchung blieb ergebnislos, doch zweifelte niemand, daß dieser bei allen beliebte junge Mensch in etwa zwanzig Fällen seine eigenen Landsleute, zu denen er übrigens nicht die mindeste Feindseligkeit zeigte, ohne jeden Zweck und Sinn durch Beimischung von Gift in ihre Speisen langsam getötet hatte. Damals im Kriege machte man sich angesichts solcher Rätsel nicht allzu viele Kopfschmerzen. Die meisten beruhigten sich mit dem Schlagwort: »Sadismus«. Sie erklärten sich den Fall so, wie man etwa bei schlecht gearteten Kindern oft die Neigung zu grausamen Tierquälereien bemerkt: die Kinder beobachten halb mit Schauer, halb mit widerwilligem Entzücken die Zuckungen des gequälten Geschöpfs. Sie werden bei solchem Herumproben von Neugier und Entsetzen weiter und weiter getrieben. Auch mochte jene medizinische und wissenschaftliche Wichtigmacherei, die sich in einem Spielen mit Menschen und Menschenschicksal selbstbehagt, an dem lichtscheuen Treiben des jungen Balten einigen Anteil haben. Aber indem ich mir den Menschen wieder vergegenwärtige, seine bescheidene Eitelkeit, wenn man ihn lobte (»Der hat's hinter den Ohren«; »In dem steckt mehr als man ihm ansieht«), so scheint es mir sehr möglich, daß ausschließlich die Spielerei mit dem Dunkel und ein Reiz des Geheimnisses diesen Burschen aus verschlagenem Ehrgeiz zum Massenmörder gemacht hat. – Im Falle Haarmann aber stieg der Reiz des Heimlichen auch noch aus anderen Triebwurzeln; nämlich aus jener Sinnlichkeit, die man wohl ein entpersönlichtes Liebesleben nennen könnte. Musterfall dieser Entpersönlichung ist die Onanie, an welcher sowohl die Persönlichkeitslosigkeit des Gefühls wie der Reiz der Verborgenheit zu haften pflegt. Die größte Qual, die man Haarmann antun konnte, war die, daß man ihm die Bilder der Opfer vorlegte, ihm von seinen Knaben erzählte und sie ihm persönlich nahe brachte. Sie waren für ihn immer nur »schöne Jungens«, von deren Persönlichem er so wenig wie möglich wissen wollte, denn bei genauer Bekanntschaft (wie bei Grans) verlor sich der generelle Trieb, welcher darauf ausging, die jungen Körper ganz Unbekannter in Verborgenheit zu packen, zu zerreißen, zu verzehren. – Ich habe in der »Symbolik der Gestalt« (Verlag Niels Kampmann Berlin, 1925) ausführlich aufgezeigt, daß Merkmale von Sinnlichkeit nichts zu tun haben mit Erotik im Sinn des persönlichen Lebens. Im Gegenteil: die eigentlich sinnlichen Naturen sind niemals starke Erotiker und auf immer unfähig, an einer lebenausfüllenden Leidenschaft haften zu bleiben. Es besteht aber die beachtenswerte Tatsache, daß die generelle »libido« gebunden ist an die Werkzeuge der ursprünglicheren Nahsinne (wie z. B. an Schmecken, Riechen, Ergreifen, Küssen, Saugen usw.); während Auge und Ohr als Bild- und Fernsinne eine stärkere Beziehung zum einmalig persönlichen und eine minder nahe Beziehung zum geschlechtlich generellen Seelenleben haben; womit manche physiognomische Anhaltspunkte gegeben sind. (Die unsägliche Ahnungslosigkeit gegenüber charakterologischer Forschung kam darin zum Ausdruck, daß man keinerlei physiognomische Untersuchung des Haarmann vornahm. Es ließ sich aber das schwächere Ausmaß des Mittelhirns im Vergleich zu Vorder- und Hinterhaupt, sowie das Überwiegen der Nahsinne über die Fernsinne schon vom bloßen Sehen ziemlich sicher vermuten.) Man könnte eine Art »Kompensation« suchen, in dem merkwürdigen Umstand, daß dort, wo eine kahle, traumlose Geschlechtslust herrschend geworden ist, sehr leicht Berührungsangst und Nähescheu sich zu entwickeln pflegen. Bei Haarmann wurde mir auffallend, daß er jedem Wissen um die Personen seiner Opfer ängstlich aus dem Wege ging; (darum ist für den Seelenforscher besonders rätselhaft jener einzige Fall, wo er nach Ermordung des 12jährigen Abeling in Verkleidung die Schwester des Getöteten aufsucht, um sich die Gesichtszüge des Kindes zurückzurufen). Die gräßliche Traumlosigkeit seines nackten Trieblebens ging so weit, daß Haarmann außer dem gemeinsten Allgemeinsten (außer Gefräßigkeit und Geschlechtstrieb) überhaupt keine persönlichen Sehnsüchte je besaß. Seine Zuneigung zu Grans war die einzig persönliche, ideale Seite seines Lebens. Nur in dieser einen Beziehung wuchs er über das Animalische hinaus. Von den Bergen der Schweiz, die er in empfänglichster Jugend sah, hat er so gut wie gar keinen Eindruck behalten. Er hatte nicht das mindeste »Naturgefühl«. Ein Busch oder Baum war ihm nichts anderes, als das günstige Versteck für Sittlichkeitsdelikte. So wie in der Tiefe der See ein gefräßiger Krake alles andere holde Leben ringsum langsam auffrißt, so hatte die unpersönliche »Sinnlichkeit« allmählich alle persönlicheren Inhalte verschlungen. Er besuchte wohl gelegentlich ein Theater, einen Zirkus oder ein Kino; aber ausschließlich zu dem Zwecke, um »hübsche Jungen« zu sehen und wenn möglich, mit ihnen in Berührung zu kommen. Er hat nie ein Buch angerührt, nie Musik gehört. Politik und öffentliches Leben waren ihm vollkommen gleichgültig. Er besuchte Sportplätze oder Bäder nur darum, weil man dort nackte junge Leiber zu Gesicht bekommt. – –

Die tiefste Schicht im Wesen des Triebverbrechers entdecken wir aber erst, wenn wir die Natur des dolosen Zweckverbrechens daneben halten. Wenn man Wahrheit hätte suchen wollen, statt Wahrheit aus dem Gerichtssaal auszuweisen, dann hätte man gerade aus diesem seltsamen Nebeneinander viel lernen können. – Eine kurze philosophische Betrachtung bahne uns den Weg.

Gleichwie das Licht und die Flamme, so lange sie umschlossen bleiben vom Kreislauf des Lebens, das allbelebende und erwärmende Urwesen, ja, vielleicht das Wesen des Lebens selber sind, dagegen sobald sie abgetrennt und losgelöst der Natur gegenüberstehen, zum schrecklichen Dämon werden, zum einzigen Element, darin keinerlei organisches Leben mehr gedeihen kann und welches alles Leben zu verzehren trachtet und wohl am Ende aller Enden auch verzehren wird; genau so ist das, was wir Menschen den »Geist« nennen, so lange es umschlossen bleibt vom Kreislauf des Lebens, das allbelebende und erwärmende Urwesen, ja, vielleicht das zeugende Wesen des Lebens selbst; aber sobald der Geist sich losreißt vom Naturschoß und als wachbewußte Zweckwelt heraustritt aus dem träumenden Element des Vorbewußten, so wandelt er sich zum schrecklichen Dämon, zum kalten Witz, darin keinerlei Seelisches mehr gedeihen kann und der alles Dumpfe und Schlafende aufzuzehren bemüht ist und wohl am Ende aller Enden auch aufzehren wird. Dies ist nun das ganze schreckliche Rätsel unseres Zeitalters, unseres Menschenschicksals, unserer Kultur: Die Loslösung und Unverbundenheit beider ist da! Der Mensch als ein Stück Naturseele und der Mensch als zweckesetzender Geist sind auseinandergetreten! Das Schauspiel unserer Erdhälfte ist die Tragödie einer Seele, die nicht mehr Schritt halten kann mit den Werken und Werten, die sie aus sich selber herausgestellt hat. Die Werke sind größer und edler geworden als der Mensch selbst. Oder wie ich vorhin sagte: »Der Wolfsmensch mit Radio und Elektrizität«; das ist die Signatur unseres Lebensalters. Solche Unverbundenheit des Naturelements mit dem Geistigen zeugt aber nach zwei Seiten hin eine unvermeidliche Entartung: Entgeistigte, sinnlose, irrsinnige Natur auf der einen Seite! – Naturlose, seelenlose Geistigkeit auf der anderen! Dort wo im »modernen Menschen« noch Naturtriebe durchbrechen, entbehren sie der eingeborenen Vernunft und sinnvollen Schönheit, welche überall dort das Leben durchgeistigen, wo die Wesen noch einverschlungen blieben im kosmischen Ring. Dort aber, wo der »moderne Mensch« aus dem Naturelement heraus und in maßloser Selbstüberhebung der Erde übermächtigend gegenübertrat, da ist er zum Teufel an ihr geworden. – Wir haben an Haarmann und Grans die klassischen Schulfälle dieser hoffnungslosen Entzweiung: Hier das caput mortuum des entfesselten Bestientums, dort den nackten, vom letzten Tröpflein Seele verlassenen, teuflisch leerlaufenden Intellekt.

Und es ist nur allzuverständlich, daß diese beiden Pole zur Symbiose sich aufeinanderpfropften und in künstlicher Vernietung wieder zur perversen Einheit banden, was von Natur aus heillos auseinanderbrach. Diese Doppelform der Entartung zeigt sich wie an vielen anderen Merkmalen vor allem auch an der Stellung der beiden zu Rausch und Alkohol. Grans ist ein so leerer, ausgehöhlter, vernüchterter Mensch, daß außerhalb von Nutzzwecken und Absichten seiner Selbstsucht die Träume oder Räusche des Blutes für ihn nicht vorhanden sind. Eben darum ist der künstliche Rausch sein Bedürfnis. Er gibt ihm die einzige Möglichkeit, von sich loszukommen. Haarmann dagegen ist ein so triebtierischer, blindwütiger, vergeilter Mensch, daß ihn Alkohol bleiern traurig macht, wenn er andere auflockert. So etwa wie ein Blinder das schielende Auge des Taubstummen, der Taubstumme die krächzende Stimme des Blinden beneidet, so bewunderte hier jeder den Ausfall im andern: der gerissene Fuchs den Wolfsblutdurst, welcher zwecklos ins Bodenlose springt; der irrsinnige Wolf aber jene Fuchsbesonnenheit, die nie etwas ohne Vorteil tut. – – Irrsinn und Teufelei! das sind die Pole dieser »Besten aller möglichen Welten« . . .

Unser aller Schuld

Wenn in die Gewohnheitsabläufe menschlichen Seelenlebens eine bange Frage fällt, wie ein Stein in das ausgewaschene Bett eines Stromes, dann haben wir wunderbar bequeme Streckformen zur Hand, um das Rätsel zu entwirken und den Stein des Anstoßes kleinzukriegen. Wir reden von »Schuld« und schieben den Bruch unserer Natur (der eigentlich hinauskommt auf unseren Bruch mit der Natur) auf unabänderliche Gesetze, Umstände oder Schicksale. – Ich habe in meiner Rechtsphilosophie (»Wertaxiomatische Studien«, Leipzig 1914, Verlag Felix Meiner) ausführlich dargelegt, daß der Satz vom zureichenden Grunde hinauskommt auf eben dieses Schuldsuchen (d. h. daß auch das Logische vom moralischen Wollen unterströmt ist), wobei (§ 13 »Epochen der Schuld«) der Mensch zwar langsam, aber unausbleiblich dahin geführt wird, alle »Schuld« einzig zu suchen in sich selber: »Jeder ist schuldig an jedem, und ich bin der Schuldigste unter allen.« – –

Wie wir von fremder Seele niemals mehr und niemals anderes wissen können als was wir eben aus uns selber wissen, so ist an Abändern, Verbessern und Aufrichten nur gerade so weit zu denken, als wir in unserem eigenen Leben die Mitschuld am Verhalten des anderen aufzufinden vermögen. So lange dieses »Selbstrichtertum der menschlichen Gemeinschaft« nicht die Grundstimmung der Rechtsfindung geworden ist, bleibt eben alles Urteilen ein bloßes Quälen und Rachenehmen solcher, die das Glück gehabt haben, den Zuchthäusern zu entgehen, an solchen, die das Unglück haben, in die Zuchthäuser hineinzukommen. Denn was wir alle in jedem Augenblick des Lebens tun (man braucht nicht mal zu denken an das Millionenmorden, Rauben, Plündern, Lügen, Ausspionieren, Vergiften in den sogenannten »großen Zeiten der Weltgeschichte«), ist den Inhalten wie den Beweggründen nach genau dasselbe, was auch Tier, Kind und Verbrecher tut. Sobald wir aber die »Schuld« an den Übeln unserer Gemeinschaft abschieben können auf die anderen, so sind wir enthoben allen beunruhigenden Mitverschuldungs- und Miterleidungs-Erlebnissen. Daher besteht schon im alltäglichen Leben die Strebung, dort, wo einer Person unserer Umgebung ein Unfall zustößt, so lange zu forschen, bis wir die »Schuld« in ein unrichtiges Verhalten auf ihrer Seite hineinverlegen können. (Daher in der deutschen Sprache der tiefe Doppelsinn der Worte »Geschick« und »Ungeschick«.) So aber fällen wir auch juridische Urteile. Wir fällen sie zu unserer eigenen Beruhigung.

Von allen Ökonomien der Denkfaulheit ist nun das »anathema sit« die bequemste Methode. Verbrennen, verketzern, Kopf abschlagen, moralisch entrüstet sein, das war von jeher die einfachste Auflösung jener peinlichen Bewußtseinsstauung, daß wir selber einem Irrationalen nicht gewachsen sind.

Auf den theoretischen Gebieten schafft man sich Unbequemes am besten dadurch vom Halse, daß man die Augen davor schließt, es nicht an sich herankommen läßt, daß man es zur Not mit irgendeiner Formel abwehrt oder – aus dem Gerichtssaal herausweist. Auf dem praktischen Gebiet werden die unangenehmen Selbsterkenntnisse am besten dadurch vermieden, daß man Problematischem den Kopf abschlägt.

Der Prozeß Haarmann zeigt uns die alte Wahrheit! Es werden Jahrhunderte kommen, die (aus dem Geiste feinerer Rechtsethik) das Todesurteil für ebenso unsinnig halten, wie es beispiellos abgeschmackt war, daß ein moderner Gerichtshof, den ich (wär ich minder verantwortungsbewußt) mit ein paar Strichen auf immer verlächerlichen könnte, mich aus dem Gerichtssaal hinauswies mit der Begründung, daß ich »geistig unfähig sei, seinen Verhandlungen folgen und sie sachlich wiedergeben zu können«. Die ganze Barbarei unserer Seelenkunde wie unserer Sittenlehre trat in diesem Straffall scharf an den Tag. Immer wird die unwillkommene Pflanze ausgerodet (die unter- wie die übernormale), wo doch unsere Arbeit sein soll: Die Erde besser zu lieben; den Acker edler zu bestellen. – Die Schlechtgeborenheit und Schlechtgeborgenheit, die falsche Zeugung und falsche Erziehung, die verkehrte Auslese, der Mangel an Gesundheitspflege und an Gemeinschaftsseele, die unsinnige Geistesverwirrung großer Menschenmassen durch Zeitungen, Halbbildung, Partei- und Staatspolitik (die selbst nichts anderes ist, als das organisierte Verbrechen und von Staats wegen das züchtet, was sie von Privat wegen – wenn es herauskommt – bestraft), die Armut, der Schmutz, der Klassenkampf, alles das erzeugt hüben: Wolfsmenschen, und drüben: die intelligenten Schmarotzer. Das Zuchthaus verunzüchtet sie zur Homosexualität. Ein sinnloser Strafvollzug mordet in ihnen, was vielleicht an zarteren Keimen noch da wäre, und läßt zuletzt nichts übrig als die moralische Gehässigkeit und Selbstüberheblichkeit einer jeden Gruppe gegen jede andere, bestenfalls noch ein mattdumpfes Solidaritätsgefühl des einzelnen mit anderen »Außenseitern der Gesellschaft«.

Nicht aber die Natur schuf die bösartigen Ungeheuer. Der Käfig schuf sie. Der Mensch ist so anfällig und triebunsicher geworden, daß man auch den stärksten, kühnsten und klügsten mit leichter Mühe durch ein paar Tage Käfig zu allem Bösen wie allem Irrsinnigen bringen kann. Wir haben es also erreicht. Unsere Irrenhäuser liefern Irrsinn. Unsere Zuchthäuser züchten Verbrecher . . .

 

Am Morgen des 19. Dezember wurde das Todesurteil gefällt. Am Abend dieses Tages wurde noch einmal Gericht gehalten. Gericht über das Gericht! Da kamen in einem kahlen Hinterzimmer, bevor sie wieder an ihre Heimstätten zurückfuhren, die Eltern der gemordeten Kinder zusammen: bescheidene, gebeugte, tiefgedemütigte Menschen, Klage führend und Anklage. Es war kein einziger darunter, den die abgeschlossene Verhandlung Genugtuung oder Gerechtigkeit hatte fühlen lassen. Es war kein einziger darunter, dem die Fragen: »Wie konnte uns das geschehen? Wodurch? Warum? Wozu?« irgendwie klarer geworden wären. Nichts als ein Haufe gallebitterer, verworrener, dunkel grollender und im tiefsten gekränkter Menschlichkeiten war aus diesem Prozeß hervorgegangen. Sie hatten mich zu ihrer Versammlung gebeten, weil sie, meine Maßregelung im Gerichtssaal kennend, eine große Anklage gegen Gericht, Behörden, Polizei, Regierungs- und Oberpräsidium erwarteten. Ich wußte, wie nutzlos und hilflos das alles wäre. All die Aufrufe und Anklagen der unglücklichen Eltern sind dann auch nachmals nur in die Papierkörbe gewandert und unbeantwortet geblieben. – Ich vermochte nichts, als zum Gedächtnis für dreißig Kinder, die beim ersten sehnsüchtigen Ausflug in den lockenden Lebenswald dem Werwolf in den Rachen liefen, so sachlich als möglich diese Blätter hier niederzuschreiben . . . Zur Zeit, wo das Buch im Druck erscheint, wird vielleicht das sinnlose Ende des sinnlosen Dramas vollzogen sein. Menschlich das mildeste (denn hinter aller Zwangsgier der Wollust brennt stets auch Wille zur Selbstvernichtung); juristisch, ethisch, sozialpolitisch das dümmste aller Urteile und dem Wesen der Strafe (die nicht Instinkte ausroden, sondern nutzen und läutern muß), ganz widersprechend . . .

Hinter dem Bahnhof der Stadt Hannover, im totesten seelenlosesten Steinwüstenbezirk an der Cellerstraße, dort wo die ersten der geschilderten Morde begangen sind, liegt das Zuchthaus; ein riesiges Gelände, umzirkt von einer trostlosen Riesenmauer aus roten Backsteinen. Auf einem Winkel dieser Mauer blüht ein holdes Wunder, das jeder Hannoveraner kennt: eine kleine Birke, der zarteste und zäheste Baum, so blond und so bescheiden, so herb und so lieblich, von so verletzlicher und zarter Rinde und von so zäher und gesunder Wurzel, wie die Kinder unserer niedersächsischen Landschaft. Sie hat durch ein Wunder mitten in der baumlosen Steinwüste just auf der roten Zuchthausmauer Wurzel geschlagen, ein Gruß des guten Lebens, das durch all unser menschliches Zucht- und Unzuchtelend doch wieder hindurchbricht. Hier nun wird das Fallbeil stehen und der rote Richter sein sinnloses Amt erfüllen.

Dieser Tag (so habe ich den Behörden meiner Heimatstadt vorgeschlagen) soll dem Andenken jener dreißig Kinder gehören. In alten Zeiten, als noch das Erlebnis der Gemeinschuld im Menschen fruchtbar war (etwas vollkommen anderes als unser jetziger juristischer Begriff von Kollektivhaftbarkeit), da pflegte, wenn Blutschuld über einer Stadt lag, ein Werk des Gemeinsinns: Kapelle, Kloster, Denkmal, Baumpflanzung den Ruf der Bürgerschaft wieder zu entsühnen. Das älteste Bauwerk Hannovers, die schöne Nikolaikapelle am Klagesmarkt, soll aus solcher Gemeinsühne entstanden sein. Der Tag, an dem der letzte Wolf unserer Wälder getötet wird, soll als Buß- und Bettag für die Stadt Hannover gelten. Man hat (nicht am wenigsten durch die Sensationsreporter des Zeitungsunwesens) so tief an Scham und Seele der Volkheit gesündigt, daß nun diejenigen, die für die Gesundheit unseres Volkes sich verantwortlich wissen: Geistliche, Ärzte, Lehrer, versuchen mögen, auch dieses Grauenvolle wieder in Würde und Schönheit zurückzulenken. Man soll in den Schulen zu den Kindern, in den Kirchen zu den Erwachsenen sprechen. Alle Glocken der Stadt sollen mahnen. Und zur selben Stunde, wo der schuldig-unschuldige Unhold stirbt, wollen wir die traurigen Überreste der dreißig jungen Menschen in einen gemeinsamen Sarg betten, mit Blumen schmücken und auf Kosten unserer Stadt in unsere Erde legen; nicht verborgen auf einem Kirchhof, nein! auf einem unserer großen öffentlichen Plätze. Und wir alle, eine ganze Stadt, werden hinterher gehen: Senatoren und Magistrat, Bürgermeister, Ämter, Behörden, Lehrerschaft, Geistlichkeit, Oberpräsident, Regierungspräsident, Polizeipräsident – nicht um »letzte Ehre zu erweisen« (das können wir gar nicht), sondern um gemeinsame Schuld auf uns zu nehmen.

Es hat Könige gegeben, die an dem Tage wo ihr Volk unterlag, sich selber das Ende bereiteten. Kant hat den Grundsatz ausgesprochen: »An dem Tage, wo Krieg ausbricht, hat die Regierung sofort freiwillig die Macht niederzulegen, denn sie hat bewiesen, daß sie Das nicht zu verhindern imstande ist, was hintan zu halten der ganze Sinn ihres Amtes war.« – Es gibt zum Glück auch bei uns noch Beamte, die freiwillig aus dem Amte scheiden, wenn das Schicksal sich stärker zeigte, als sie selber zu sein vermochten. Die verantwortlichen Männer Hannovers erwiesen sich nicht als adelige Männer. – – Man hat die bitterböse Stimmung, die der Haarmannprozeß hinterlassen hat, damit zu beschwichtigen versucht, daß man verheißen hat, ihm eine Kette »Disziplinarverfahren« folgen zu lassen, durch welche die Mitschuld der einzelnen Subalternbeamten gesühnt werden solle; man unterlasse diese Komödie, durch die einem viel zu langmütigen, viel zu schwerfälligen Volk immer wieder Sand in die Augen gestreut wird; denn wer hat Vorteile daran, daß in einem vom übelsten Spitzelunwesen und Sykophantentum zersetzten Rechtsstaat zwei oder drei ungeschickte oder erfolglose kleine Unterbeamte einen Rüffel davontragen oder auf einen anderen Posten verschoben werden? Nein! Steigen wir in uns selbst hinab und nehmen die Schuld ruhig auf uns! Danach aber soll keiner mehr das Recht haben zu fragen: »Wer trägt die Schuld?«, soll keiner mehr die andere Seite belasten dürfen. Wir gehen alle in gemeinsamer Elternschaft hinter dem Sarge der durch unsere Schuld unerfüllt gebliebenen Jugend. Neben dem Mordhaus, wo die Kinder geopfert sind, liegt ein weiter baumüberblühter Platz. Im Hintergrund steht eine Kirche; darin schläft der klügste Mann, den Hannover besessen hat: Leibniz. Auf diesem Platz wollen wir sie in unseren Boden legen. Aus unseren Harzbergen holen wir dann Granit, oder besser noch holen aus unserer Haide einen der großen Findlinge ferner Urzeit. Der diene zum Denkstein, und die Nachwelt lese darauf nur drei Worte:

»Unser aller Schuld!«

 


 


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