Theodor Lessing
Haarmann
Theodor Lessing

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Nachwort

Mein Buch ist abgeschlossen und liegt vor mir, fertig gesetzt. Die Revision, die der junge Hans Grans einlegte, wurde vom Reichsgericht verworfen. Das Todesurteil ist rechtskräftig geworden.

Da ereignet sich soeben ein Umstand, den wohl jedermann, wenn er ihn in einem Kriminalroman lesen würde, als tolle Phantasie bezeichnet hätte. Der Bote Lüters, Hannover, Große Wallstraße 3, findet auf der Straße einen mit der Bezeichnung »Wertbrief« versehenen und mit einer in Meran abgestempelten Marke beklebten Briefumschlag, adressiert an Buchhändler Albert Grans, den Vater des zum Tode Verurteilten. Er befördert das Schreiben an den Adressaten, der es mir vorlegt. Es ist der folgende vier Seiten lange Brief des Massenmörders Haarmann.

Hannover, den 5. Februar.

Geständnis des Mörders Fritz Haarmann

Ich habe die gelegenheit, da ich Persönlich peer Auto durch die Straße gefahren werde um zur Polizei Präsidium zu fahren, diesen Brief der Öffentlichkeit zu geben.

Ich mögte nicht, das diese Zeilen dem Gericht oder aber der Polizei in den Händen gelangen, da ich annähmen muß, dieses der Oeffentlichkeit meinen Geständniß vorenthalten wird & dadurch ein Unschuldiger Hans Grans durch das Beil des Henkers zu Tode gebracht würde. Möge der Ehrliche Finder Gottes Segen bis in Ewigkeit der Familie & Kinder bringen. Dieses wünscht Ihnen der zum Tode geweihten Fritz Haarmann. Mein volles Geständniß aber werde ich Herrn Pastor Hauptmann Gerichtsgefängniß geben. Um das auch dieses Schriftstück durch die Oeffentlichkeit geprüft wird und nicht verschwindet; daher dieser Brief. Also Herr Rechtsanwalt Dr. Lotze muß das Schriftstück von Herrn Pastor Hauptmann fordern. Ich Fritz Haarmann habe diesen Brief eigenhändig geschrieben, um die Wahrheit zu Beweisen, das dieses meine Schrift ist, kennt mein Bruder Adolf Haarmann-Fortmüller hier Asternstr. No. 16 meine Handschrift ganz genau. Mein Geständniß. So war mir Gott helfe, ich sage hir die reine Wahrheit u mögte doch so gern mein Gewissen nicht vor Gott noch mehr Belasten ich der zum Tode verurteilte.

Hans Grans, hat mich furchtbar die langen Jahre Betrogen & Bestohlen, aber trotzdem konnte ich nicht von Ihm lassen, da ich keinen Menschen auf der Welt hatte. Grans sollte mir im Alter eine Stütze sein, da ich doch immer für Grans sorgte & ich hätte ein gutes Vermögen zusammen gebracht, wenn mir Grans nicht alles Fortgenommen hätte. Grans war nicht schlecht, aber sehr Leichtsinnig. Grans seine Leichtsinnigkeit ging so weit mit den Weibern & Saufereien, so das ich für Grans nur die Melkende Kuh war. Aus den Treiben, welches ich mit den Jungen Leuten machte, war Grans zu arglos durch seinen liederlichen Lebenswandel. Grans hatte überhaupt keine Ahnung das ich Mordete hat nie etwas gesehen. Grans wußte nur das ich Pervers war und mit Jungen harmonirte. Wie nun meine Sachen entdeckt wurde betrefs Mord, so wurde ich durch die hiesige Polizei genötigt mit Gewalt durch Mißhandlungen Unwarheiten zu sagen, aus Angst um das ich keine Mißhandlungen mehr haben wollte, sagte ich nachher zu allen ja & habe dann Grans, durch Unwahrheit belastet. Meine Schwester Emma & Bruder Adolf welche ich um Hilfe rief da die kommen habe ich Herrn Kommisar Rätz gegenwart zu Ihnen gesagt, Emma, Adolf, ich werde hir mit Gewalt & Schlägen gezwungen Unwahrheiten zu sagen. Ich habe Frau Witzel damals gebeten zu beantragen das ich meine Aussagen vor der Staatsanwaltschaft machen wollte, aber leider, ich wurde nicht gehört. Dann habe ich Gelogen & habe Grans Belastet um das ich Ruh hatte vor der Polizei. Da nun noch die Polizei sagte Grans Belastette mich auch noch sehr, dann habe ich, mir gesagt, das durfte Grans nicht da Grans zu viel gutes von mir gehabt hatte, je mehr ich Schwindelte über Grans je anständiger wurde ich behandelt. Betrefs Wiederrufen meine Aussagen vor Gericht mochte ich auch nicht, ich dachte nur an Rache an Grans & das ist mir auch mit Hülfe der Polizei gelungen. Ich mögte hir Erwähnen Hans Grans der wußte von meinen Vorleben nichts. Grans wußte nicht das ich je in einer Irrenanstalt war, hat mich betrefs auch nie bedroht, Grans wußte von keinem Mord, hat nie etwas gesehen hatte keine Ahnung. Alle die Aussagen die Grans machte wurden Grans nicht geglaubt, oder aber so gedreht, das Sie Grans Belasteten. Daher Grans seine Worte vor Gericht, Haarmann sagt Wahrheit & Dichtung so, sodas mann das nicht Unterscheiden kann. Ich, Fr. Haarmann rufe den Himmel zum Zeugen an, Grans ist Unschuldig verurteilt. Grans hat sich noch nicht mal der Helerei bei mir schuld gemacht. Grans hat mir niemals einen Menschen gebracht, welcher mir zum Opfer fiel & hätte Grans gewust das ich Mordete dann hätte Grans es bestimmt verhütet. Ich kann diese Schuld nicht mit ins Grab nehmen und Rufe meine Mutter zum Zeugen welche mir heilig ist & bei Gott ist. Hans Grans ist Unschuldig verurteilt durch die Schuld der Polizei & damals aus Rache von mir, weil Grans der nur Gutes von mir hatte noch schwer belastete. Nehmt mein bischen Leben ich fürchte mich nicht vor den Tod durch das Beil des Henkers es ist für mich eine Erlösung, aber stellen Sie sich in der Lage von Hans Grans, der muß an Gott & Gerechtigkeit verzweifeln durch meine Schuld. Ich wurde mit meinen Lügen geglaubt Grans mit seine Wahrheit verworfen. Möge Hans Grans mir verzeihen für meine Rache, die Menschheit aber mir meine Morde welche ich in Krankhaften Zustande beging. Mein Tod und Blut gebe ich gern zur Sühne in Gottes Arme und Gerechtigkeit.

(gez.) Fritz Haarmann.

Meine erste Vermutung, daß dieses Schreiben eine Verulkung sei – (denn ich hatte einen solchen Beweis für fast alle, sogar für meine zartesten Seelendeutungen nicht mehr erwartet) hat sich nicht bestätigt.

Gepeinigt von Gewissensqualen in der einzigen Beziehung, die ihm edlere Gefühle wachrief; gequält von Angst vor der Polizei, die durchaus etwas herausbringen wollte, wo doch nichts herauszubringen war als nur die Selbsterkenntnis der eigenen Mitschuld; gemartert endlich von der Pein, daß es zur Umkehr zu spät sei, daß man einen Widerruf keinesfalls in die Öffentlichkeit gelangen lassen, um nicht die große Schlappe unserer Rechtspflege einzugestehen, ja daß man vielleicht erklären würde: »Jetzt ist das Verfahren abgeschlossen und das Urteil rechtskräftig«; von allen diesen Ängsten gequält, hat der unselige Mensch diesen Weg gewählt, um vielleicht durch den Druck der öffentlichen Meinung die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den jungen Grans doch noch zu erzwingen.

Es entstehen nun die Fragen: Kann man ihm glauben? und: Wird man ihm glauben? Denn natürlich ist auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß ein an »pseudologia fantastica« leidender Seelenkranker im Entlastenwollen gerade so übertreibt wie er zuvor im Belastenwollen übertrieben hat. Und auch damit ist zu rechnen, daß dieser Mann immer neue Tricks ersinnt, nur um seine Hinrichtung hinauszuschieben. Folgendes aber scheint mir nunmehr bewiesen:

  1. Das Urteil des Schwurgerichts Hannover kann nicht befriedigen. Die Behörden haben vermieden, die eigene Mitschuld klar hervortreten zu lassen.
  2. Es ist bewiesen, daß Haarmann unter dem Druck bestimmter Behörden und Personen anders ausgesagt hat, als er in einer anderen Stadt, vor einem anderen Gericht und vor einer anderen Polizei ausgesagt hätte.
  3. Das hannoversche Gericht hat ein Fehlurteil gesprochen! Es hat einen unter den Einflüssen der Zeit verwahrlosten Jüngling zum Tode verurteilt, einzig auf Aussagen eines Mannes hin, welchen fünf Irrenärzte für geisteskrank befunden haben. Die den Grans belastenden Indizien sind sämtlich auch durch In-den-Tag-hineinleben und Nichtswissen- und Nichtssehenwollen vollkommen erklärlich.

Der Prozeß hatte zwei glückliche Zufälle. Erstens: Daß in meiner Person ein Unbefangener, gegen Schuljuristerei, Schulmedizin und Schulpsychologie Gleichgültiger zufällig zugegen war. Zweitens: Daß man diesen nicht dulden konnte und entfernte.

Dadurch machte man mich zunächst mißtrauisch und brachte zweitens auch in weiter Öffentlichkeit die Befangenheit oder Unangemessenheit des Gerichtshofes zu Bewußtsein.

Für den Gerichtshof und zumal für den Vorsitzenden ist der Ausgang wohl eine schwere Schlappe: aber dennoch sollen alle für sie dankbar sein. Denn sie bewahrte unsere deutsche Rechtspflege vor einem durch einen seelenunkundigen Richterstand und durch eine unerhört unfähige Verteidigung verschuldeten nun völlig offenkundigen Justizmord.

Wenn ich bedachte: Was soll daraus werden?, dann schwebte mir vor eine grauenhafte Möglichkeit. Haarmann und Grans werden hingerichtet. Nach ihrem Tode findet man einen Brief. Darin steht Folgendes:

»Ich habe Rache am Leben genommen. Rache an dem einzigen, den ich mit Wohltat überhäufte und der doch von mir abrückte, als mein schlimmes Geheimnis ans Licht kam. Da habe ich noch einmal um ihn geworben. Ich brachte ihn unter meine Klauen und wartete ab. Weil er mich nicht lieben konnte, darum habe ich auch ihn getötet. Zugleich war das meine Rache an der Polizei. Sie hat mich mißbraucht, benützt und verdorben und dabei heuchlerisch getan, als wolle man mich ›bessern‹. Aber als die Mitschuld klar zutage trat, haben alle mich fallengelassen und wollten doch so gern noch einmal mit meiner Hilfe sich billige Lorbeeren verschaffen für ihre ›Karriere‹. Sie haben mir das Gesäß zerschlagen. Sie haben mir die Hoden gequetscht. (Da sieht man Mißhandlung nicht.) Sie haben mich mit dem Gummischlauch geprügelt. (Der hinterläßt keine Striemen.) Sie gaben mir nicht Ruh, bis ich das gestand, was sie alle gerne hörten. Da hab ich ihnen denn den Triumph verschafft: ›Wir haben doch was rausgekriegt‹, und habe mit Hilfe der Polizei auch meine letzte Schufterei vollendet, das Liebste verdorben, was ich hatte. So habe ich alle an der Nase herumgeführt, gerade als sie wähnten, mich überwunden zu haben. Meine letzten Lebenswochen habe ich mir angenehm gemacht, indem ich mich für euch angenehm machte. Und habe euch doch nur zum Werkzeug meiner Rache am Leben benützt. Und dadurch eben Rache genommen an – euch!! Rache auch am Gericht! Das mordet ja nicht wie ich aus Naturzwang. (Denn ist nicht auch Todesstrafe ein Morden am Menschen?) Nein! das mordet aus Vernunft und positivem Recht. Dank der Moral! O eure Moral! An's Karrieremachen habt ihr gedacht, meine Lieben. An euer Urteil im Maule der Literaten. An euch selber habt ihr gedacht mehr als an die Sache. Und also war euch jede meiner Lügen willkommen, wofern sie nur versprach, daß der Herr Oberstaatsanwalt Reichsgerichtspräsident, daß der Herr Landgerichtsdirektor ein Herr Oberlandesgerichtsdirektor werden möge. Ich nahm meine Rache auch an seelenlosen Verteidigern, diesen Opfern ihrer Talare. Brannten sie denn vom Willen zur Gerechtigkeit? Sie bebten in Angst vor den Meinungen der Zeit und der großen Menge. Selbst der Blödeste, sogar ein Geschworener oder Schöffe müßte die Wahrheit fühlen, wären nicht alle so verblendet durch die Komödie der Ämter und der Amtsröcke. Ach, und eure Wissenschaft. Wie vermöchten eure ›Sachverständigen‹ wohl zuzugeben, daß einer viel klüger sein kann als sie selber und dennoch ein Triebverfluchter und dennoch unverantwortlich im Sinn ungeschriebener Gesetze. Rache zuletzt am ganzen Volke! Begeistert hätte man mich gesteinigt ohne Gefühl dafür, daß ich genau dasselbe tat als Einer, was ihr eben nur noch zu tun wagt als Viele. So bereue ich denn nicht und pfeife auf eure Pfaffen samt Christentum. Ich kenne euch alle zu gut und weiß wohl, wie es steht mit eurer ›Seele‹. Ihr bringt mich nicht um; ich kehre wieder, ja ich bin ewig mitten unter euch. Und ihr selber habt nun gemordet. Mögt ihr es denn wissen: Hans Grans war unschuldig! Nun? Wie steht's um euer Gewissen?«

Dies war meine Furcht. Denn so war Haarmanns stärkster Gedanke in seiner bösesten Stunde. Aber dieser arme Triebwüstling war ja wahrlich kein Teufel und mithin auch kein Charakter. Er war nichts als ein im Käfig verunzüchtetes und von der Gesellschaft mißbrauchtes primitives Tier, das vor dem Kreuz zusammenbrach und in der Hand eines starken Seelsorgers leicht hinzubringen wäre zu dem selbstaufhebenden Sühnewillen, den Schopenhauer nannte ›unsern zweiten Weg ins Nirwana‹.

Wie wird das Drama nun zu Ende gehen? Im normalen Rechtsstaat müßte nach Erscheinen dieses hier vorliegenden Buches das Justizministerium das Urteil des Schwurgerichts Hannover kassieren und den Fall zu erneuter Behandlung an ein anderes Schwurgericht verweisen. Dieses wird zwar voraussichtlich das Todesurteil gegen Haarmann bestätigen; sicher aber das Todesurteil gegen Grans aufheben, falls dieser, was zu hoffen steht, den Schwindel eines »Gnadengesuches« (durch das das hannoversche Gericht seine Verfehlungen zu verschleiern suchen wird) kräftig abweist und darauf besteht, daß er nicht Gnade, sondern Recht haben will. Möglich aber auch, daß man mit anderen Richtern, anderen Anwälten und Sachverständigen noch dahinterkommt, daß Haarmann (wofern er nicht dazu zu bestimmen ist, die Sühne, die er sich doch wünscht, klar an sich selber zu vollziehen) in eine Irrenanstalt gehört! Grans dagegen dürfte für sein Lebensschmarotzertum mit ein, zwei Jahren Gefängnis wegen Hehlerei hart genug bestraft sein. Er gehe ins Ausland, arbeite und werde ein Mann. Dann wird er sicherlich noch eine angesehene Stütze dieser Zeit und dieser Gesellschaft.

 

Hannover, den 8. Februar 1925.

Theodor Lessing

 


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