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Zweites Kapitel

Tatsächlich klingt in jenem Berichte, merkwürdig verschlungen, ein Motiv an, welches wir in den Sagen der meisten Völker des Morgen- und des Abendlandes wiederfinden. Es ist dies der Gedanke von der Relativität der Zeit.

Was das Gemüt des Menschen als Wahrheit dunkel ahnt, Jahrhunderte bevor der forschende Verstand sie als Erfindung, als Entdeckung in die Denkgesetze ordnend einfügt, das formt die Vorzeit in der Sage zum nebelhaften Bilde, zur schwankenden Figur. Das große Rätsel, das uns stets umgibt, die Zeit, blieb bisher ungelöst. Alte Sagen bringen davon dunkle Kunde und deuten zagend an, daß die Zeit nicht wirklich ist, nur in der Vorstellung des Menschengeistes besteht.

Epimerides aus Kreta soll siebenundfünfzig Jahre geschlafen haben.

Bekannt ist die Legende von den Siebenschläfern. Sieben Jünglinge aus dem Gefolge des Kaisers Decius, die sich heimlich zum Christentum bekannten, flüchteten in eine Höhle bei Ephesos. Der Kaiser, ein grausamer Verfolger aller Christen, ließ die Höhle vermauern und zum Gedächtnis dessen eine Inschrift in die Mauer meißeln. Die sieben in der Höhle entschliefen sanft. So verstreichen zwei Jahrhunderte, und die Begebenheit ist längst verschollen. Ein Landmann will in jener Höhle seinen Viehstall unterbringen. Er reißt den Eingang auf und geht. Die sieben Schläfer in der Höhle erwachen und entsenden den jüngsten, Diomedes, in die Stadt um Nahrung. Er steigt hinab und sieht verwundert auf allen Toren, allen Türmen Kreuze in der Sonne leuchten. Das Geld, womit er zahlt, kennt niemand; es ist zweihundert Jahre alt. Man glaubt, er habe einen Schatz gehoben, und ergreift ihn. Und er erfährt, daß Kaiser Theodosius regiere, der sich zum Christentum bekennt, und daß im ganzen Römerreiche die Lehre Christi herrsche. Der Kaiser und der Bischof eilen zu der Höhle. Sie sehen die alte Inschrift, und die Märtyrer bezeugen abermals das Wunder. Dann neigen sie die Häupter und verscheiden.

Die Schweden und die Schotten erzählen von Elfen, welche Jünglinge zum Tanze locken. Kehrt der Tänzer heim, so findet er, daß er nicht eine kurze Stunde, daß er Jahrzehnte fort gewesen.

Der Held der Frankensage ist Ogier le Danois, einer der Paladine Karls des Großen, der sich mit einer Fee vermählte und in dem Zauberschloß auf dem Magnetberg wohnte. Die Krone, die ihm seine Gattin aufsetzt, läßt ihn die Zeit vergessen. Wie er sie vom Haupte hebt, verlangt es ihn, zu seinem Herrn, dem Kaiser Karl, zurückzukehren. Doch der ist lange tot, denn es sind zwei Jahrhunderte vergangen.

Die Lübecker Chronik berichtet, daß ein Mann in einer Lucke auf dem Turm, von niemandem bemerkt, sieben Jahre schlief. Bei der Wettenburg flüchtete ein Schläfer vor dem Regen in eine Höhle und verfiel in einen Schlaf, der siebenmal sieben Jahre währte. Und bei Trier sollen gar zwei Bauern, die ein Unwetter in eine Höhle trieb, hundert Jahre lang geschlafen haben.

Ähnliche Sagen gibt es auch im Morgenlande. Die indischen Purana berichten von dem König Raiwata, der zu Brahma kommt, um ihn um Rat zu fragen über die Vermählung seiner Tochter. Da lauscht er einem himmlisch schönen Liede. Als das Lied zu Ende und er des Gottes Rat erfragen will, erklärt ihm Brahma lächelnd, daß zwanzig Menschenalter in dem Strom der Zeit verflossen seien.

Die Dichtung der Araber wiederum verlegt in einen irdischen Augenblick die Fülle göttlicher Jahrtausende. So in der Himmelfahrt des Mahomed, den eines Nachts der Engel Gabriel durch alle sieben Himmel Allahs führt, eine Weltenreise, die tausend Jahrtausende erfordert. Und Mahomed, zurückgekehrt von dieser Reise, findet, daß sein Bett noch warm ist.

Ein Sultan von Egypten zweifelt an der Wahrheit der Legende und disputiert darüber mit dem Scheich Schahabeddin. Der Scheich ersucht den Herrscher, daß er seinen Kopf in eine Wasserkufe tauche. Und nun durchlebt der Sultan sieben schicksalsreiche Jahre, voll Abenteuer, Glück und Schrecken. Nach Atem ringend, hebt er seinen Kopf empor – aus der Wasserkufe. Er sieht, daß er all dies in einem kurzen Augenblick erlebte.


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