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Drittes Kapitel

Als Ralph aufwachte und den Vorhang hochrollen ließ, dampfte der Zug durch die Manitoba-Prairie. Ralph lag gelöst in seinem schwingenden Bett und wünschte, immer weiter zu fahren. Er hatte die Unermeßlichkeit der Alpen gesehen und Schiffe in dem unendlichen Rund des Horizonts zusammenschrumpfen, aber nie hatte er die Grenzenlosigkeit der Welt so tief empfunden wie jetzt, als er über diese ebenen Flächen blickte, deren Linie nur von fernen Farmhäusern mit ihren kargen Pappelhecken gebrochen wurde. Es war ein kraftvolles, junges Land.

Sie sahen die freundliche Stadt Winnipeg, sie verbrachten eine Nacht in Bearpaw Junction; dann rumpelten sie den ganzen Tag durch Moorland und Nadelwälder in gemischtem Zug nach Whitewater, das am Flambeau River gelegen ist.

Der Zug hatte einen Dienstwagen, und hinter der langen Reihe brauner, knarrender Güterwagen rumpelte ein bejahrter Personenwagen einher. Züge hatten für Ralph bequeme Pullmanwagen bedeutet, die Länder achtlos durchrasten, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und nie wäre er auf den Gedanken gekommen, daß es angenehm sein könnte, sich mit einem Eisenbahner zu unterhalten. Nun saß er im Dienstwagen, in einem Holzsessel, und hörte dem alten Schaffner mit den wolligen Haarbüscheln in den Ohren zu, der sein Geschwätz mit zahllosen langweiligen Sentenzen unterstrich, vom Wetter plauderte, von der Regierung, vom Reisepublikum und warum die Frauen von vielen für nervös gehalten werden.

Woodbury hatte ihnen die Möglichkeit geschaffen, statt in dem überfüllten Personenwagen in dem für die Eisenbahner bestimmten Dienstwagen zu reisen. Woodbury gehörte zu den Leuten, die es verstehen, Freikarten im Theater, Rabatt auf Autoreifen und an Feiertagabenden Tische in Restaurants zu ergattern. Als sie fünf Minuten im Zug gewesen waren, hatte er den Bremser mit Ratschlägen für seine Verdauungsstörungen versehen, Ralph und sich in den Dienstwagen bugsiert und wußte, daß der Enkel des Schaffners die Handelsschule besuchte.

Das Innere des kleinen roten Wagens am Zugende glich dem Büro eines Bauholzlagers. Ein Schreibpult, hart aussehende Stühle und ein Tischbrett, das an der Wand hochzuklappen war. Hier versammelte sich die Crême des Zuges: der Schaffner, ein reisender Kolonialwarenhändler, der jeden Menschen und jeden Skandal von Bearpaw bis Kittiko kannte, und ein echter Sergeant der Royal Mounted Police, der aber in seinem strammen scharlachroten Rock, dem großen Hut und den unglaublich gut geschnittenen Reithosen einem Filmsergeanten nichts nachgab.

Der Zug schob sich langsam vor, die Erde, die Ralph durch die offene Hintertür des Wagens erblickte, war so nah, daß er sich mit ihrer schläfrigen Kraft vereint fühlte. Er gehörte nicht mehr der hektischen Stadt. Nein, er war eins mit den braunen Marschen, die sich weithin dehnten, mit dem düsteren Horizont, in den die schwarzen Skelette verkohlter Bäume ihre sonderbaren Schattenrisse warfen. Ihm behagte die Herbheit des Dienstwagens, sie befreite ihn – befreite ihn von all der dumpfen Sauberkeit der Büros und der glatten Mietwohnungen.

Dann aber wurde ihm sehr unbehaglich, die Erzählung des Polizisten schreckte ihn auf aus seiner Träumerei.

»Schreckliche Sache – ich konnte seine Leiche nie finden –« sagte dieser, »er muß bei den Felsen in lauter Stücke zerfetzt worden sein – konnte es nie verstehen ich habe ein Stück von seinem Kanu und ein Paddel gefunden – es war mir unbegreiflich, daß ein so guter Bootsmann wie er überhaupt in die Versuchung kam, die Singenden Schnellen zu nehmen.«

»W–was für Schnellen sind das?« fragte Ralph leise Woodbury.

»Singende Schnellen im Mantrap. Der Sergeant hat uns eben erzählt, wie ein Halbblut, blendend guter Kanumann übrigens! – wie er darin ertrunken ist.«

Mit einemmal wußte Ralph, daß er ein Feigling war.

Er wußte, daß er Angst hatte, tödliche Angst, vor den Stromschnellen und all den unbekannten Gefahren der Wildnis. Und weil er Angst hatte, bemühte er sich, seiner Stimme einen möglichst sorglosen Klang zu geben:

»Hm. Wirklich? Na, dann hoffe ich, wir machen die nicht, was?«

»Nein, wir haben sie hinauf zu, Ralph. Unsere Route geht stromaufwärts.«

»Ich verstehe. Aber würden, ah-was halten Sie eigentlich von so einer Sache? Würden Sie's riskieren und es versuchen, die Schnellen zu nehmen, wenn sie die Freundlichkeit hätten, dieselbe Richtung zu haben wie wir? Und was werden Sie tun? Hinauftauen, oder was?«

»Wahrscheinlich Tragen um sie herum. Zeit genug, daran zu denken, wenn wir hinkommen … Viel Branntweinschmuggel jetzt hier oben, Sergeant?« fragte Woodbury mit dröhnender Liebenswürdigkeit.

»Zeit genug, daran zu denken …«

Ralph schauderte; er begann schon jetzt daran zu denken. Er quälte sich mit dem Gedanken: »Werde ich die ganze Zeit über Angst haben?« Seine Abenteuerfreude war getrübt, sie verschwand fast ganz, als er, dem Geplauder lauschend, von Wölfen hörte, von Waldbränden, von Kanus, die mitten in einem zehn Meilen breiten See gekentert, und von Kanus, die im Sturm auf verborgene Baumstämme gestoßen und untergegangen waren.

Und zu seinen traurigen Befürchtungen gesellte sich noch eine gewisse Langweile. Fast vier Tage war er ununterbrochen mit E. Wesson Woodbury zusammen gewesen, und er empfand einen leichten Überdruß vor diesem bellenden Lachen, diesem aufdringlichen Gönnertum, der Geschichte von den Affendrüsen, die er nun schon siebenmal gehört hatte.

»Ist ja gut, daß wir getrennte Kanus haben werden«, dachte er.

»Wes ist ein Prachtkerl, aber er hat nie gelernt, den Mund zu halten«, und: »Wenn wir jetzt in den Schnellen wären – wenn das Kanu auf einen Felsen auffahren würde, und du müßtest schwimmen – was, wenn die Strömung dich mit dem Kopf gegen einen Felsen schleudern würde?«

So saß er da, voll Angst vor künftiger Angst, gelähmt von der entnervendsten und erbärmlichsten Furcht, Stunde um langweilige Stunde, während sie zwischen den staubigen Kiefern dahinkrochen, während der Zug bei jedem einsamen Weizenspeicher anhielt und im unermeßlichen Bahnhof der Zeit Güterwagen rangierte, und seine Erstarrung wurde einzig durch Wutanfälle über Woodburys mannhaftes Gelächter unterbrochen.

Es war eine Erlösung, als der Zug widerwillig in Whitewater einrollte – Whitewater am Flambeau River, Umschlagplatz der sogenannten Zivilisation – und es war eine Erlösung, die ersten Stromschnellen zu sehen und die Bahnfahrt hinter sich zu haben. Ende der Eisenbahn!

Der Flambeau kriecht wie eine angeschwollene Boa constrictor durch die zerzausten Wälder und fällt am Rande der Stadt, neben der Bahnstrecke, in die Whitewater-Schnellen. Der ganze Strom wird zwischen zwei schwarze Granitbasteien gedrängt, so glatt fließend, als würde er aus einer Millionen-Gallonenflasche gegossen. Aber unten, im vielfachen Geröll, wird er in ein Chaos milchigen Gischts zerbrochen. Kein Kanu könnte in diesem Wirrsal leben, in dem das gemarterte Wasser in regenbogengeädertem Gischt emporgeschleudert wird, um in schneeweiße Strudel zu stürzen.

Doch Ralph faßte wieder Mut.

Wie die meisten schweigsamen und zu phantasievollen Menschen hatte er Angst hauptsächlich vor dem, was er nicht sehen konnte. Er hatte sich alle Schnellen in drohende Finsternis gehüllt vorgestellt, und so ungestüm dieser Katarakt auch war, er erschien unter dem Licht der nördlichen Sonne als etwas Wirkliches und Überwindbares. Durchschwimmen? – sicher konnte er durchschwimmen – also, vielleicht konnte er – wenn er mußte!

Mit erneuter Abenteuerfreude und infolgedessen erneuter Sympathie für E. Wesson Woodbury, kletterte er vom Zug herunter, seine Flinte und sein Angelzeug klapperten, seine neuen Stiefel dröhnten befriedigend und höchst ergreifend auf den Bohlen des Bahnsteigs, er war in seiner ersten Grenzstadt.


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