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Fünfzehntes Kapitel

An diesem Morgen gab es viele brummende Schädel in Joe Easters Haus. Außer Pop Buck sahen alle schwach und elend aus. Pop war als erster wach und kochte, nachdem er zur Einleitung seines Morgens einen tüchtigen Schluck Whisky genommen hatte, einen wilden Kaffee, der den anderen zu Hilfe kommen sollte.

»Das war ein hübsches kleines Beisammensein«, führte er beim Frühstück behaglich vor zerknitterten, unaufmerksamen Zuhörern aus. »Und das war 'ne großartige Geschichte, die du erzählt hast, Curly, grad bevor du schlappgemacht hast.«

»Hab' ich 'ne Geschichte erzählt?« stöhnte Curly.

»Na ja! Von dem Reisenden und dem Revolver, der nicht geladen war. Nette Geschichte. Und 'n feines Blatt hast du gehabt, George – die vier Damen.«

»Hab' ich mal vier Damen gehabt? Sag mal, Pop, wer zum Teufel hat denn heute nacht gewonnen?« krächzte Eagan.

»Sieh mal an!« Pop war bekümmert. »Ich weiß nicht, was aus der Welt geworden ist. Die Leute können ja überhaupt nicht mehr trinken. Ich, ich war heute nacht vergnügt wie 'ne Eidechse. Ich sage euch, jedes Jahr, bis ich hundert auf dem Buckel hab' – ich weiß nur, daß ich dann mit dem Trinken aufhören werd' – jedes Jahr werde ich diese Nacht feiern wie meinen Geburtstag.«

»Ach, hör auf, so verdammt munter und guter Laune zu sein!« schrie Curly, und die übrigen stöhnten zustimmend, als Alverna von der Veranda hereinkam, so verdrossen, daß sie fast ganz still blieb.

Curly hatte anscheinend alle Ausschweifungen und den leichtfertigen Lebenswandel der Jugend aufgegeben und begonnen, offiziell und ungemütlich zu sein.

Er drängte während des Frühstücks: »Hör mal, Joe – Mac, du und Biermeier, ihr müßt in dieser Kreditstreiterei mit den Crees was tun. Ich weiß nur, daß ein Polizist ständig hier stationiert werden muß, bis der ganze Schwindel vorüber ist. Sie haben eine schreckliche Wut auf euch drei, weil ihr ihnen keinen Kredit mehr gebt. Ich hör' sie immer auf den Tragstrecken davon reden. Sie kochen irgendeine Gemeinheit aus. Ihr wollt euch doch nicht im Bett umbringen lassen.«

»Oh – Joe!« wimmerte Alverna.

Joe lachte. »Unsinn! Die Burschen werden nie was tun. Sind zu dumm dazu.«

»Auch 'n dummer Kerl kann abdrücken«, beharrte Curly. »Ich will gleich nachher mit Mac drüber reden, aber ich kann dir schon jetzt sagen, daß du als Friedensrichter alle Crees, die hier im Wigwam sind, zu 'nem Meeting zusammenrufen mußt, und dann werden wir versuchen, die Sache klarzustellen. Es tut mir leid, Joe, für dich« – er sah über den Tisch zu Alverna hinüber, ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander hängen – »und für deine Frau.«

»Curly, du wirst dich drum kümmern, daß Joe was tut«, bat Alverna.

»Sicher, Schatz! Wirst schon sehen!«

Ralph hörte aus ihren Stimmen das Einverständnis heraus. Und plötzlich, ganz schamlos, war er nicht Joes wegen, sondern um seiner selbst willen auf Curly wütend. Und noch immer wich das Gespenst des einsamen Woodbury nicht von ihm. Keiner war bei diesem Frühstück stiller und elender als Ralph.

Während Curly bei der Hudsons Bay war, nahm Ralph Joe auf die Seite und fragte ihn gerade heraus:

»Joe, was für einen Eindruck hat dieser Woodbury, der bei mir war, auf Sie gemacht? War er Ihnen sympathisch?«

»Nein, gar nicht, 'n ekelhafter, aufgeblasener Kerl!«

»Also: hätten Sie ihn sitzen lassen wie ich, wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären?«

»Ja, das – ich –«

»Los. Sagen Sie mir's. Aufrichtig!«

»N–nein, ich glaub' nicht.«

»Warum?«

»Oh, es ist nur – na also, einer, der immer hier oben in den Wäldern ist, der bleibt bei seiner Blase, ganz egal, ob er sie leiden kann oder nicht. Das ist schon so 'ne Gewohnheit. Stellen Sie sich vor: wenn der andere sich 'n Bein bricht oder sonst was passiert.«

»Machen Sie mir einen Vorwurf daraus?«

»Nein – nein – gewiß nicht. So was muß jeder für sich selber entscheiden. Ich kann mir übrigens vorstellen, wie Ihnen zumut war.«

»Hören Sie: ich habe von Woodbury geträumt. Dabei hatte ich das Gefühl, daß ich ihn nicht hätte verlassen dürfen. Sagen Sie, wäre es vielleicht möglich, Lawrence Jackfish auszuschicken, damit er ihn sucht und eventuell herbringt? Er könnte ja wahrscheinlich bei McGavity ein Zimmer mieten.«

»Nein. Ich kann den Kerl nicht ausstehen. Ich kann ihn hier nicht brauchen. Wenn Sie ihn schon verlassen haben – was geschehen ist, ist geschehen. Ich würd's vergessen, Ralph. Na – ich muß mal in den Laden rüberspringen und was tun. Oh, mein Kopf! Also, auf später.«

Ralph blieb allein in der Veranda und fing sofort wieder zu grübeln an. Es war also so. Es war eine Schlechtigkeit von ihm gewesen, Woodbury im Stich zu lassen.

»Und es war doch keine Schlechtigkeit! Er hat's verdient! Ich wäre ein Narr gewesen, mir meinen Urlaub von ihm verderben zu lassen!«

Sein Verstand schwor, daß er recht gehabt hatte, aber sein Gefühl blieb hartnäckig dabei, daß er ein Deserteur sei.

Er mußte Woodbury also wieder aufsuchen? Gut, so würde er wenigstens der Gefahr entgehen, sich in Alverna zu verlieben! (Wo war sie jetzt? Das Haus war leer und öde, weil er sie nicht singen hörte. Er sehnte sich nach dem tröstlichen Klang ihrer schnellen, leichten Tritte.) Ja, seine Pflicht gegen Woodbury, seine Pflicht gegen Alverna, gegen Joe, seine Pflicht gegen sich selbst. Er würde gehen!

Aber – nein, keinen Tag länger!

Er würde einen oder zwei Augenblicke mit Alverna allein sein und von der Höhe seiner selbstaufopfernden Tugend herab sie beschwören, eine zweite Mrs. McGavity, kurz, tugendhaft, brav und gesetzt zu sein.

So weit war er mit seinen Meditationen gekommen, als Curly Joe zum Indianermeeting abholte. Ralph ging mit ihnen.

Zwei Gruppen von Indianern waren im Sommerlager von Mantrap Landing: der Träumende-See-Stamm, unter Häuptling Wapenaug, und ein kleiner Teil des Mitternachtssee-Stammes mit einem Häuptling, dessen Name durch irgendeine Volksethymologie zu Burberry anglisiert worden war.

Ralph hatte mittlerweile erfahren, daß die Würde eines Häuptlings im praktischen Leben weit weniger königlich ist als in Romanen. Sie ist ungefähr ebenso wichtig wie die eines Gemeinderatsältesten in einem Flecken mit dreihundert Einwohnern. Der Häuptling kann Versammlungen einberufen und ist der Mittelsmann zwischen seinem wandernden Stamm und der Regierung, aber er wird von seinem Volk gewählt und kann ohne weitere Untersuchung oder Verhandlung vom Indianerkommissar abgesetzt werden. Die wesentlichsten seiner Führerrechte bestehen darin, daß er statt fünf Dollar fünfundzwanzig im Jahr erhält, wenn die Regierung ihren Mündeln das jährliche Vertragsgeld auszahlt, und daß er ein riesiges Goldband um seinen Hut, einen blauen Rock mit Messingknöpfen und ein goldenes Armband tragen darf und außerdem eine Medaille, die so groß ist, daß man bei ihrem Anblick an den komischen Polizisten in einer Burleske denken muß.

Wapenaug und Burberry stolzierten beim Ordnen ihrer hundert Krieger zu einer Beratung mit drei Ladenbesitzern und einem Polizisten in einer pomphaften Würde einher, deren sich der König bei der Parlamentseröffnung geschämt hätte. Ihre ziemlich schmutzigen Hemden verbargen sich unter den wackeren Messingknopfröcken, ihre noch viel schmutzigeren Gesichter wurden von den goldbebänderten Hüten beschattet, und ihre riesigen Medaillen schlugen ihnen bei jedem Schritt an den stolzen Magen.

Mr. Dillon, der Missionar, hatte die Kirche für das Meeting zur Verfügung gestellt. Vorne, unter dem Altar, den Indianern gegenüber, standen Mr. Dillon, Curly Evans, Joe, McGavity, Biermeier von Revillon Frères, Ralph, Pete Renchoux und die Häuptlinge. Die Kapelle war fast voll mit dunkelhäutigen Indianern, die ein wenig verdrossen und ausdruckslos wie Orientalen vor sich hinstarrten, für Ralph aber den Geist ihrer Vorfahren ganz verloren zu haben schienen. Wie sie sich der Fallen der Weißen bedienten, die Kanus der Weißen paddelten und keine andere Musik kannten als die minderwertigen Broadway-Couplets – ebenso trugen sie die unromantische Kleidung der Weißen: billige Hemden, schwarze Röcke und lange schwarze Hosen.

Unter der Assistenz Pete Renchoux', der ihm ab und zu ein Wort soufflieren mußte, hielt Curly Evans eine Ansprache an die Crees, die Joe leise für Ralph übersetzte.

Curly war bekümmert, er war außer sich, in der Tat, er war über alle Maßen erstaunt, hören zu müssen, daß unverantwortliche junge Indianer Drohungen gegen die Händler ausgestoßen hätten. Er konnte verstehen, daß der Kreditverlust nach einer sehr schlechten Saison überaus unwillkommen sei. Aber daran waren nur sie selbst schuld. In den guten alten ehrlichen Zeiten waren die Indianer, die ihren Kredit schon drei Jahre lang angespannt hatten, zu den Händlern gekommen und hatten ihre Rechnungen bezahlt, sobald sie Geld hatten.

Und solche Patriarchen wie Häuptling Wapenaug und Häuptling Burberry – Curly machte ihnen eine Verbeugung, und sie verbeugten sich wieder mit der Feierlichkeit vertrockneter Pfefferkuchengötzen – solche Patriarchen halten es noch heute so. Aber er wußte, Curly wußte positiv, daß gewisse Indianer, statt zu bezahlen, wenn sie die Mittel dazu hatten, zum Warwicksee gefahren waren und dort ihr Geld nicht nur ausgegeben, sondern es auch noch für ganz überflüssige Dinge ausgegeben hatten: Außenbordmotoren – für die Söhne der Männer, die einst fünfzig Meilen in einem Tag gepaddelt hatten – Zigaretten, wo doch immer Pfeifen gut genug gewesen waren – Zehndollarschuhe zum Tanzen! Und dann erwarteten sie, daß die Händler von Mantrap ihnen für Bohnen und Gewehrpatronen borgten!

Und wenn sie dächten, daß das, was sie in Warwick täten, den allsehenden Augen der Regierung nicht bekannt wäre –

Häuptling Wapenaug nickte, Häuptling Wapenaug blickte betrübt auf seine verderbten Jungmannen. (Häuptling Wapenaug war Joe Easter jetzt schon seit vier Jahren vierhundert Dollar schuldig, und vor drei Wochen war er aus Kittiko zurückgekommen mit einem Motor, einem Banjo und Seidenstrümpfen für seine fleißige, aber leichtsinnige Enkelin.)

So weit war Curly in hoher Beredsamkeit gediehen. Jetzt zog er seine Schultern hoch und versuchte, in seine Stimme einen gruseligen Klang und in seine Kinderaugen einen mysteriösen und düsteren Ausdruck zu legen.

In der Mitte der Kapelle stand ein junger Indianer auf, gähnte und ging hinaus. Andere Mutige sahen einander an und folgten ihm.

Curly deutete an, wie vielvermögend Seiner Majestät Polizeimacht sei. Sie könne so weit sehen, wie der Donner gehört werde. Aber die Wucht seines Gleichnisses zerschellte am Exodus von zwanzig Männern, die im Gänsemarsch hinausschritten.

»Niedersetzen!« brüllte er den letzten der Unruhstifter an.

Im Hintergrund kicherte einer. Das Kichern lief durch den ganzen Raum. Häuptling Wapenaug grinste, und vor dieser kichernden Menge versuchte Curly seine Ermahnungen fortzusetzen: sie müßten gute Jungens sein und ihre Rechnungen bezahlen, und dann würden ihre liebevollen Pflegeonkel, die Ladenbesitzer, ihnen wieder Kredit geben.

Errötend brach er seine Rede ab.

Dann, während man überlegte, wer als nächster den Beschwörer spielen sollte, erhob sich das ganze Auditorium und schritt in vollkommener Ordnung und glänzender Laune unter gehässigem Gekicher von dannen. Draußen vor der Kirche blieben sie stehen und schauten dumm und störrisch drein, unbewegt, abwartend, zu allem bereit.

»Jetzt steh' euch Gott bei!« murmelte Curly Joe und McGavity zu. »Das wird die jungen Burschen ermutigen, irgendwas anzustiften. In zehn Minuten bin ich unterwegs. Ich werd' Tag und Nacht marschieren, und in einer Woche bin ich mit zwei Konstablern von Whitewater zurück, die dann ständig hierbleiben. Tag.«

Das war nicht mehr der lachende, tanzende junge Curly. Das war ein Soldat in Aktion. Ralph sah ihn durch das Indianerlager zu Joes Haus eilen. Er sah ihn einen Sack Mehl, einen Sack Bohnen, eine Speckseite, eine Büchse Tee und einen Kanister Petroleum zu seinem Kanu schleppen und hörte ihn mit scharfen, unfreundlich klingenden Befehlen seine zwei Cree-Bootsleute aus ihrem Schlummer auf dem Holzstapel vor Joes Laden aufjagen.

Zehn Minuten nach seinem Versprechen fuhr Curlys Boot ab. Der See war unruhig, aber Curly hielt unbekümmert auf die Mitte zu, das Kanu warf sich in Sprüngen vorwärts und der starke kleine Motor arbeitete regelmäßig wie eine Uhr.

Dann sagte Joe: »Guter Junge, der Curly. Aber ich glaub', es war nicht notwendig. Die Indianer sind nicht gefährlich, solang' sie so lachen.«

»Vielleicht nicht«, brummte McGavity. »Wenn ich Ihnen also sage, daß ich nach Hause geh', meine drei Gewehre schmieren und laden, so wissen Sie, daß ich das nur zur Übung mache.«

»Hm«, sagte Ralph.

Er konnte jetzt nicht zu Woodbury zurück und den gefährdeten Joe im Stich lassen.

Aber wie, wenn Woodbury auch in Gefahr war, ein einzelner Weißer, den niemand warnte?

» Irgendwas muß ich tun. Und ich werde auch was tun! Und was es auch sein wird, falsch ist es sicher«, dachte Ralph.


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