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Biographische Skizze
Die Lichtenbergers sind eine aus Straßburg gebürtige Gelehrtenfamilie. Andrés Onkel Frédéric war ein durch seine Schriften bekannter protestantischer Theologe, der nach 1870 von der Universität Straßburg nach der Sorbonne übersiedelte, wo eigens ein Lehrstuhl der protestantischen Theologie für ihn errichtet wurde. Ein andrer Onkel Andrés ist noch heute Professor an der Sorbonne; es ist der durch Vorlesungen über deutsche Literatur bekannte unermüdliche Verfechter Goetheschen Geistes, Ernest Lichtenberger. Die Neffen traten in die Bahn ihrer Oheime. Andrés älterer Bruder, Henri Lichtenberger, hat sich auch in Deutschland in weiten Kreisen bekannt gemacht durch sein großes Werk »Richard Wagner, der Dichter und Denker« (deutsch bei C. Reißner in Dresden), das – ein erfreuliches Zeichen der deutsch-französischen Geistesannäherung – von der Académie des Inscriptions preisgekrönt worden ist, und sein vorzügliches Werk »Die Philosophie Friedrich Nietzsches«, das Frau Förster-Nietzsche, die Schwester des unglücklichen Philosophen, im gleichen Verlage deutsch erscheinen ließ, weil es wohl das objektivste und klarste Handbuch des Lebens und Denkens ihres Bruders ist. Henri Lichtenberger, der sich durch eine Quellenstudie über das Nibelungenlied und eine Geschichte der deutschen Sprache in die wissenschaftliche Literatur eingeführt hat, wirkt seit einer Reihe von Jahren in Nancy als Professor der germanischen Sprachen.
Diese Familiengeschichte vorauszuschicken scheint mir unerläßlich, da sich in ihr die bewußte oder unbewußte Verwandtschaft unsers Autors mit deutscher Kultur und deutschem Wesen spiegelt, ohne die man seine für einen Franzosen ungewöhnliche Kunst nicht voll verstehen würde. Er selbst, als Gelehrter am Musée social tätig, hat sich seit Jahren dem französischen Publikum durch eine Reihe feinsinniger Bücher beliebt gemacht, von denen namentlich seine Kindergeschichten » Le petit Trott« und » La Soeur du petit Trott« (auch deutsch übersetzt) am bekanntesten geworden und beide von der Académie française preisgekrönt sind. Unwillkürlich erinnert dieser Trott an den Bob der Madame Gyp, und auch seine » Portraits des jeunes filles« (ebenfalls deutsch übersetzt) gemahnen in ihrer Dialogform an die sarkastische antisemitische Gräfin, die dieses Pseudonym führt. Aber inhaltlich verraten sie doch tieferen psychologischen Blick für soziale Zusammenhänge und feineres Verständnis der Kinderseele als die grotesk-drolligen Bücher jener Dame. Sie sind weniger sensationell, dafür aber menschlich wahrer. Lichtenberger hat dann einen anscheinenden Sprung in die Antike vollführt und uns den Untergang Korinths (» La Mort de Corinthe«) geschildert, auch hierin den soziale Entwicklungsreihen überschauenden Gelehrten verratend. Er läßt uns tiefe Einblicke tun in die letzten Tage einer glänzenden, aber korrumpierten Gesellschaft, in die Wühlarbeit der Parteien, die hochverräterischen Verhandlungen der herrschenden Klasse mit den römischen Heerführern, die sich durch diese die Macht sichern will, den Kriegsdurst der großen Masse, die sich mit dem Feinde auch ihre eignen Herren vom Hals schaffen will, den Einbruch des Konsuls Mummius und den »Kommuneaufstand« des Volkes, den Brand der Stadt und den blutigen Untergang der Freiheit …
Alle diese Werke sind in gewissem Sinne Vorarbeiten für Lichtenbergers bisher bedeutendstes Werk, den »Herrn von Migurac«, mit dem er in Frankreich schon warmes Interesse gewonnen hat. Wie vor mehr als hundert Jahren Goethe einen weiten Anlauf zu mächtigem Sprunge nahm, indem er auf die ältere, noch wurzelechte deutsche Literatur zurückging und sich an Hans Sachs, an der Selbstbiographie des Götz von Berlichingen und dem Faustbuch inspirierte, um seine eigne Zeit zu überholen, so sehen wir heute in Jungfrankreich eine mächtige Bewegung, die auf das 16. und 17. Jahrhundert zurückgreift. Die Dichter der Plejade, allen voran Ronsard, kommen wieder in Mode, alte Romane, wie der wundervolle » Page disgracié« von Tristan L'Hermite, dem Freunde Cyranos von Bergerac, werden wieder ausgegraben, dieser selbst ist von Meister Rostand in einem europäischen Triumphzuge über die Welt der Bretter geführt worden; Künstler vom Range Henri de Régniers haben sich in Scarron und Lesage, in Saint-Simon und die Briefe der Sévigné vertieft und aus diesem Milieustudium heraus Novellen wie » Le Rival«, Romane wie » La Double Maîtresse« geschaffen; Funck-Brentano hat die Hexen- und Giftmischerprozesse unter Ludwig XIV. wieder ans Licht gefördert.
Diesem Zuge der Zeit ist auch Lichtenberger in seinem Roman aus dem ancien régime gefolgt; er hat uns das Abenteurerleben eines französischen Rokokoedelmannes dargestellt, mit unerbittlicher Schilderung der Sittengeschichte jener Zeit, in der die Riccaut de la Marlinière von Lessing gebrandmarkt wurden, und mit einer Sprachvirtuosität, die sich an dem gravitätisch-liederlichen Hofe Louis des Vielgeliebten so sicher fühlt, als käme er just aus Versailles. Der gelehrte Erforscher sozialer Entwicklungsreihen führt uns wie in » La Mort de Corinthe« abermals durch eine glänzende, aber korrumpierte Herrscherklasse und bis an die Guillotine, und der deutsch fühlende Kinderfreund, den wir bereits aus » Le petit Trott« und » La Sœur du petit Trott« kennen, gibt diesem Abenteurerroman, der sich anscheinend nur von Anekdoten nährt, die er aus (fingierten) alten Familienpapieren schöpft, eine zwar indirekte, aber gerade dadurch um so feinere und überzeugendere psychologische Unterlage, indem er uns die Entwicklung des Kindes von seiner Geburt an und die Charaktere der beiden Eltern vor Augen führt und aus diesen gegensätzlichen Faktoren, diesem inneren Schicksal, das äußere sich dann logisch und psychologisch entwickeln läßt.
Diese indirekte Charakteristik, deren feiner Humor hinter jeder Zeile kichert, bildet überhaupt einen wesentlichen Reiz des Romans. Je lauter der Ruhm des »Helden« gepriesen, je platter seine Sünden entschuldigt werden, desto schriller klingt der Spott hinter den Worten, desto tiefer sinkt auch sein Charakter in Wahrheit, und es ist schließlich ein grausamer Hohn, wenn Herr von Migurac in der Verteidigung des Königs seinen Märtyrertod findet, nachdem er sein Leben lang durch Wort und Schrift der Revolution vorgearbeitet hat. Lichtenberger führt seinen Helden durch die Folgen seiner eignen Handlungen ad absurdum, und indem er ihn zum Vertreter und Exponenten seiner Zeitrichtung machte, erweitert er die geheime persönliche Satire zu einer bitteren Zeitsatire auf das utopische Phrasentum der Revolutionsmänner, ihr moralisches Ressentiment und ihren bodenlosen Mangel an Menschenkenntnis, der nur durch ihre Gewissenlosigkeit überboten wird. Es ist, als ob Nietzsches flammende Proteste gegen die französische Revolution, diese »blutige Farce«, und gegen Rousseau, diesen »Idealisten und Kanaille in einer Person«, dem Autor vorgeschwebt hätten, und unwillkürlich denkt man auch an Goethes berüchtigtes Epigramm, das eigens auf den Marquis von Migurac gedichtet scheint: »Jeglichen Schwärmer schlagt mir ans Kreuz im dreißigsten Jahre. Kennt er erst einmal die Welt, wird der Betrogne der Schelm.«