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Berechtigten Vermutungen zufolge war die erste Kindheit Louis Lycurgues keineswegs reich an Wundern. Es versteht sich von selbst, daß wir bei dieser Behauptung das Geschwätz der Maguelonne außer acht lassen, denn wie es einer Amme zukommt, hielt sie ihren Lulu für das wunderbarste Püppchen der Welt und war unerschöpflich in Lobsprüchen auf seinen Verstand und seine körperlichen Reize. Gegen allen Brauch wetteiferte die eigne Mutter Louis Lycurgues bei diesem Thema nicht mit ihr, denn Madame Olympia hielt ihr Herz in solchem Maße rein und verständig geordnet, daß nicht einmal die Phantasien der mütterlichen Liebe darin wild aufschießen konnten. Dagegen schien Herr von Migurac – diese Ausnahme ist recht bemerkenswert – mehr geneigt, in seinem Herrn Sohn etwas Außerordentliches zu sehen. Er verbrachte lange Stunden damit, ihn mit bewundernder Aufmerksamkeit zu betrachten. Wenn sie sich zufällig allein befanden, konnte es vorkommen, daß er den Sohn in seine Arme nahm und ihm eine geheimnisvolle Rede hielt, deren Sinn dem Kinde unzweifelhaft offenbar war, denn es lächelte dazu. Die geringsten Unpäßlichkeiten des jungen Vicomte gingen seinem Vater unglaublich zu Herzen. Der Marquis litt mit ihm, wenn er Leibschmerzen hatte; die Brust war ihm beklommen, wenn der Kleine hustete. Während Louis Lycurgue den Keuchhusten hatte, vermochte der Marquis nur mit lobenswerter Selbstüberwindung nach Bordeaux zu reisen, wohin ein dringliches Geschäft ihn rief. So sehr Herr von Migurac diese außergewöhnliche Zärtlichkeit in einer Art von Scham zu verbergen suchte, so sprang sie doch jedermann in die Augen, und im Schlosse war es eine stehende Redensart, daß das Kind an seinem Vater eine Mutter und an seiner Mutter einen Vater hätte.
Wie dem auch sei, Louis Lycurgue entwickelte sich ungehindert wie einer, der den Willen hat zu leben. Während achtzehn Monaten kargte Maguelonne in der Fülle ihres Herzens und Leibes nicht mit den Schätzen ihres Busens und ihrer Zuneigung. So überstand er ohne Zwischenfall diesen bedenklichen Abschnitt seines Erdendaseins. Nie hatte man der Dienste des Maître Petin bedurft, der im Dorf das Amt des Chirurgen, Arztes, Barbiers und öffentlichen Schreibers versah. Louis Lycurgue nahm die Brust mit Energie und Gier, hatte weder bösartige Fieber noch Krämpfe und bekam mit sechs Monaten den ersten Zahn. Er hatte noch nicht zwölf Monate zurückgelegt, als er schon auf seinen eignen Beinen mit schwankendem, aber kühnem Schritt durch die Vorzimmer und Alleen lief. Diese Zeichen von Frühreife erzeugten bei Maguelonne mit gutem Recht eine ausgesprochene Eitelkeit, denn sie schrieb das Verdienst davon lieber ihrer Milch als dem Blute der Miguracs zu.
Die Moral des jungen Vicomte entwickelte sich, wie das vorzukommen pflegt, minder rasch als seine leibliche Gestalt. Anderseits offenbarte er schon früh Instinkte, die ein Psychologe nicht unbeachtet lassen dürfte. Das wütende Geschrei, mit dem er seine Ungeduld, die Brust zu bekommen, äußerte, muß nicht nur als ein Beweis für die Heftigkeit seines Hungers, sondern auch als ein Zeichen für die Heftigkeit seiner Leidenschaften gedeutet werden. Es war in der Tat merkwürdig, daß er bei jeder Verzögerung über eine bestimmte Zeit hinaus, wenn Maguelonne sich endlich erweichen ließ und ihm gab, was er wünschte, die Brust abwies und sich wütig hineinkrallte, anstatt wie die meisten Säuglinge gierig über die Nahrung herzufallen. Dadurch bewies er, daß sein Zorn keineswegs rasendem Hunger, sondern gekränktem Stolze entsprang.
An der Art, wie er mit seinen Spielsachen umging, erkannte man leicht seinen Mangel an Beständigkeit und einen ebenso unberechenbaren wie herrschsüchtigen Charakter. Zu seinem ersten Wiegenfeste beschenkte ihn der Marquis von Condras mit einer prächtigen deutschen Puppe, einem Meisterwerk seiner Art, die er mit großen Kosten hatte kommen lassen. Anfangs begrüßte er sie mit begeisterten Gluckstönen, hatte keine Ruhe, bis er ihre beiden Füße in den Mund gesteckt hatte, und wollte nicht einschlafen, wenn sie nicht seine Wiege mit ihm teilte. Aber schon nach zwei Tagen schleuderte er sie mit aller Kraft seines kleinen Armes weit fort, denn Maguelonne, die Heuchlerin, hatte sie ihm angeboten, als er einen andern Dienst von ihr verlangte. Von da an erging er sich in Geheul, so oft er die Puppe erblickte.
Es war schwierig, am Abend vorauszusehen, welche Unterhaltung ihm am nächsten Morgen genehm sein würde. Im allgemeinen neigte er zu solchen Wünschen, deren Erfüllung nicht in seiner Macht stand, und sobald sie befriedigt waren, verlor er die Lust daran. Lange Zeit war sein Begehr ein Band, das Jungfer Seraphinens Hals schmückte, und es ward ihm verehrt, als es nicht mehr ganz neu war. Aber schon nach fünf Minuten warf er es verächtlich fort und beschmutzte es sogar auf die beleidigendste Weise. Man kann wohl sagen, daß von allen Liebhabereien seiner Kindheit nur eine einzige nicht verging, und das war seine Bewunderung für die Sonnenstrahlen; denn die konnte man ihm niemals in die Hand geben, trotz aller Anstrengungen seiner kleinen Finger, die leuchtenden Stäubchen, die er vor sich tanzen sah, zu greifen. Es wäre nicht gewagt gewesen, aus seinen Kinderjahren den Schluß zu ziehen, daß er im Leben Träumen und Hirngespinsten nachjagen und daß jede erreichte Wirklichkeit ihm schal und verächtlich erscheinen würde.
Man kann behaupten, daß Louis Lycurgue in bezug auf Menschen nicht beständiger war als bei Gegenständen. Von dem ganzen Gesinde des Schlosses, das ihm zu dienen hatte, erfuhr nicht einer zwei Tage hindurch die gleiche Behandlung. Selbst Maguelonne erlebte Stunden der Ungnade, und oft hatte auch Madame Olympia in den Augenblicken, wo sie ihn in seinem Zimmer aufzusuchen pflegte, sich seiner Verwünschungen zu versehen. Alles in allem gerechnet, gab es von aller Menschheit nur einen, dessen Besuch er fast immer mit Freuden guthieß. Für die, welche seine wechselnden Launen erfahren hatten, war es ein Gegenstand des Erstaunens, ihn manchmal eine halbe Stunde lang angesichts seines Vaters plappern zu sehen, während der Marquis ihn nachdenklich und wortlos betrachtete.
Unter andern, zeitig hervortretenden Zügen seines Charakters wird man auch eine unbeugsame Willenskraft bemerken. So schnell er aufhörte, etwas Erhaltenes zu würdigen, ebenso stark war sein Wille, während er es begehrte. Für diese Energie möchte ich einen merkwürdigen Beweis geben: im Alter von fünfzehn Monaten stach er sich bis aufs Blut mit einer Stecknadel und gab keinen Laut von sich, da er wußte, daß ihm die Nadel fortgenommen würde. Maguelonne entdeckte seine Verwundung nur durch den Blutfleck auf seinem Kleidchen und mußte Gewalt anwenden, um ihm den gefährlichen geliebten Gegenstand zu entreißen, den er in seiner kleinen blutenden Faust krampfhaft festhielt.
Ebenso zeigte er schon früh Neigung für glänzende Dinge und einen gewissen Schönheitssinn. Wie unberechenbar auch seine Laune war, seine Gunst wandte sich mit Vorliebe einnehmenden Gesichtern, seidigen Stoffen und metallenen Gegenständen zu. Mehr als ein Lächeln, das Madame Olympia vielleicht für das erste Zeichen kindlicher Liebe hielt, galt dem Diamantmedaillon, das sie gern an ihrem Mieder trug, und wenn man ihn in seinem Kinderwagen spazieren fuhr, so lehnte er sich hartnäckig hintenüber, anscheinend weniger aus Müdigkeit, als um träumerisch in den blauen Himmel zu schauen und dabei zu sabbern.
Wir könnten die Zahl dieser kleinen Züge nach Belieben vermehren, doch es scheint uns unangebracht, mit ihrer Aufzählung fortzufahren, denn man würde uns vorhalten können, daß ähnliche und auch ganz entgegengesetzte Beobachtungen sich bei allen Säuglingen machen lassen, und daß, wenn eine solche Methode zulässig wäre, es keinen Menschen gäbe, dessen Charakter, gleichviel welcher Art, nicht von Kindheit an vorgezeichnet schiene, je nach den Tatsachen, die man beliebig herausgreift.
Wir wollen uns also darauf beschränken zu sagen, daß wir geglaubt haben, unter den zahlreichen uns übermittelten Zeugnissen von der frühesten Jugend Louis Lycurgues nur diejenigen wiedergeben zu sollen, die uns auf den Mann, zu dem er sich schließlich entwickelte, einigermaßen zu passen schienen. Die ernste Frage der philosophischen Beziehungen zwischen der Kindheit und dem reifen Alter lassen wir als nicht zur Sache gehörig beiseite. Es genüge uns, zum Schluß anzudeuten, daß Louis Lycurgue im Alter von fünf Jahren ein wohlgewachsener, ansehnlicher Knabe war. Von seiner Frau Mutter hatte er das regelmäßige Gesicht, die bleiche und doch nicht kalte Hautfarbe, die braunen Haare und den roten Mund, dessen Lippen um ein weniges aufgeworfen waren. Vom Vater hatte er die Feinheit der Züge, die tiefblauen Augen und ein zärtliches, sanftes Lächeln, bei dem seine weißen und regelmäßigen Zähnchen blitzten. Es war eine Lust, ihn anzusehen, so stark und gerade gewachsen war er für sein Alter, und so fest stand er auf seinen kleinen Beinen. Gesundheit und Freimut leuchteten aus seinem geraden Blick, den weit geöffneten Augen und erhöhten noch den Eindruck der Munterkeit, mit der er im Park herumsprang, während Maguelonne stolz, aber atemlos und scheltend hinter ihm herlief, ohne ihn einzuholen.
Ehe er sein sechstes Jahr vollendet hatte, führte die Marquise mit ihrem Herrn Gemahl ein bedeutsames Gespräch über die Erziehung ihres Sohnes.
Bis dahin war diese Angelegenheit, wie bräuchlich, der Fürsorge Maguelonnes und ihresgleichen im Schloß anvertraut worden. Wenn auch die Marquise oftmals nicht wußte, was sie mit ihrer Zeit beginnen sollte, so war sie doch zu vornehm erzogen, um nicht zu wissen, daß es einer Frau von Stande nicht ziemt, ein kleines Kind zu warten. So begnügte sie sich damit, ihren Sohn morgens und abends zu küssen, ihm dreimal täglich in einem Korridor oder einer Allee zu begegnen und ihn bei wichtigen Anlässen vor ihren Augen züchtigen zu lassen. Sie widmete ihre Tage Besuchen in den Schlössern der Nachbarschaft, die sie in der alten Kutsche der Miguracs abstattete, oder zog sich in ihre Gemächer zurück, arbeitete am Webstuhl, stickte im Rahmen und ließ sich fromme oder genealogische Abhandlungen vorlesen.
Was den Marquis anbelangt, so richtete er seine Sorge darauf, seine Besitzungen ertragfähig zu machen und durch geschäftliche Verhandlungen den Verfall des Gutes, den sein Vater verschuldet hatte, abzuwenden. Außerdem liebte er es, sich in seine philosophischen Bücher und Träumereien zu vertiefen, und so fand er trotz seiner Grundsätze nicht die Zeit, seinen Sohn zu beaufsichtigen. Er wünschte dringend, daß die Marquise sich mit dem Kinde beschäftigte, war aber zu schüchtern, um ihr dies zu zeigen.
So war Louis Lycurgue einzig unter der Zuchtrute Maguelonnes aufgewachsen, die jeweilig von Jungfer Seraphine unterstützt wurde. Diese beiden hatten seinen werdenden Geist gebildet. Seine wissenschaftlichen Kenntnisse waren beschränkt. Er kannte das Alphabet unvollkommen, hatte das Vaterunser und zwei oder drei Kirchenlieder gelernt und sich die Ausdrücke der Bauern sowie Bruchstücke von Gassenhauern angeeignet, ohne daß man ihn darin unterwiesen hätte. Ueberdies hatte er den Kopf voll von Feen-, Zauber- und Geistergeschichten, die er mit der Kühnheit einer vielversprechenden Einbildungskraft auf sonderbare Weise mit der Wirklichkeit verknüpfte. Die Wolken, die Bäume, die Quellen belebten sich für ihn. Eine Phantasienwelt umgab ihn, die ihn abwechselnd entzückte, aufregte, ihn Spiele erfinden ließ und ihm plötzliche Liebe und Furcht einflößte. In ihr suchte er um so lieber Zuflucht, je mehr er sich der Herrschaft Maguelonnes und der Kammerfrau entzog. Beständig entwischte er den beiden, und trotz aller Befehle und Drohungen flüchtete er in den Park, wo man ihn mit zerfetzten Kleidern, den Kopf der Sonne ausgesetzt und die Füße in irgendeinem Sumpf, wiederfand.
An dem Tage, von dem wir erzählen wollen, geschah es, daß er in einem Käfig zwei fette Hühner erspähte, die für die Mahlzeit des nächsten Tages bestimmt waren. Er stahl sich hin, zog die Türe auf und erschloß ihnen die weite Welt. Als die entrüstete Jungfer Seraphine ihn deswegen hart anließ und sogar die Hand gegen ihn erhob, warf er sich auf sie und biß sie heftig in den Arm. Darauf ging sie zur Marquise Olympia, um sich zu beklagen. Diese runzelte ihre schönen Augenbrauen und befahl, daß man den Uebeltäter vor sie brächte. Er erschien mit beschmutzten, aufgegangenen Schuhen; ein Strumpf war über die Ferse gerutscht, die Hose durchlöchert, ein Aermel ausgerissen, die Haare zerzaust. Die Marquise maß ihn strengen Blicks und hielt ihm sein Unrecht vor; er antwortete kurz, mit keckem, trotzigem Ton. Nachdem die Marquise ihm eine halbe Stunde lang Vorhaltungen gemacht hatte, entließ sie ihn mit umwölkter Stirn und sagte trocken: »Mein Sohn, du bist kein Edelmann, und wenn du so fortfährst, ist es stark zu bezweifeln, daß du jemals einer wirst.«
Das Kind ging fort, die Lippen zusammengepreßt, ohne daß seine Mutter seiner Blässe geachtet hätte. Aber einige Sekunden später erscholl ein durchdringendes Geschrei aus dem Schloß. Selbst die Marquise, wie unerschütterlich sie auch war, schnellte aus ihrem Lehnstuhl auf und stürzte nach dem Vestibül, wo ein unerwartetes Schauspiel sie bannte. In den Armen der bestürzten Maguelonne lag der junge Vicomte mit blutbefleckter Brust; eine seiner kleinen Hände hielt noch ein Taschenmesser, mit dem er sich verwundet hatte. Jungfer Seraphine, die ganz den Kopf verloren hatte, rannte hin und her und suchte, sie wußte selbst nicht was, um das fließende Blut zu stillen. Beim Anblick seiner Mutter stammelte der junge Louis Lycurgue:
»Madame, ich glaubte, daß es besser für Sie wäre, keinen Sohn zu haben, als einen, der kein Edelmann ist. Verzeihen Sie, daß ich keinen Erfolg gehabt habe.«
Er sagte: »I dlaubte« und konnte das R noch nicht aussprechen.
Madame Olympia erwiderte nichts, aber ihre schönen Augen umflorten sich. Sie nahm das Kind sehr sanft auf den Schoß, während Jungfer Seraphine mit zitternden Händen eine Binde von feinem Linnen machte, auf die Maguelonne außer ihren Tränen noch einige Tropfen syrischen Balsam goß, der gut ist, um Wunden zu schließen.
Infolge dieses Vorfalls bat die Marquise Herrn von Migurac nach dem Abendessen, ehe er eines seiner Bücher aufgeschlagen hatte, ihr einen Augenblick Gehör zu schenken, und erzählte ihm in einem Atem von Louis Lycurgues Unbändigkeit, seiner Heftigkeit und seinen törichten Reden über Feen und Geister. Sie klagte ihm, daß er keine Verbeugungen machte und die Kunst des Handküssens nicht verstünde, daß er zwei Hühner habe entwischen lassen und Hand an sich selbst gelegt hätte. Während ihrer Erzählung ward Herr von Migurac von heftiger Erregung befallen und abwechselnd rot und blaß.
Die Marquise schloß mit den Worten: »Wenn Sie mir beipflichten, so ist dieses Kind nicht bösartiger Natur, aber sein Sinn ist gewalttätig und ungebändigt und muß gezügelt werden. Ich bin der Ansicht, daß es höchste Zeit ist, an seine Erziehung zu denken, damit er nicht, wenn er größer wird, noch schlimmere Verirrungen begeht.«
Nachdem der Marquis zugestimmt hatte, wurde die Unterhaltung fortgesetzt. Das Ergebnis davon war, daß Jungfer Seraphine auf ihr Amt als Kammerfrau beschränkt und Maguelonne zur Wäschekammer befördert ward. So ging Louis Lycurgue aus den Händen der Frauen in die der Männer über. Der junge Gilles, ein braver, manierlicher Bursche, der seit zwei Jahren bei der Tafel aufwartete, wurde ihm zum Gefährten beigesellt; und Pierre Antoine, der ehemals unter dem Marschall von Villars den Krieg mitgemacht hatte und seit fünfundzwanzig Jahren die Aufsicht über die Pferde und Wagen in Migurac führte, erhielt den Auftrag, den Vicomte im Reiten und Waffenhandwerk auszubilden. Drittens wurde beschlossen, an Stelle des Abbé Baguelinier, der sich in Ansehung seines hohen Alters auf ein kleines Gut im Languedoc zurückzuziehen wünschte, das Amt des Almosenpflegers einem andern Geistlichen anzuvertrauen, der zugleich geeignet wäre, den jungen Vicomte in den schönen Wissenschaften und in allem, was einem Edelmann zu wissen geziemt, zu unterweisen. Auf Empfehlung Seiner Hochwürden, des Bischofs von Condom, dem der Marquis sein Vorhaben eröffnete, wurde dieses Amt Herrn Joineau übertragen, der damals gerade das Seminar verließ, reich an Wissen, aber arm an klingender Münze, im übrigen angenehm, wohlbeleibt und umgänglich.
Gewillt, nichts zu verabsäumen, was der Erziehung seines Sohnes frommen konnte, bewies der Marquis seiner Gemahlin mit ungewohntem Feuer, daß man eine so wichtige Aufgabe nicht ausschließlich Mietlingen, selbst nicht geistlichen Standes, überlassen dürfe. Er berief sich dabei auf die Ansichten mehrerer alter Schriftsteller und bekräftigte seine Behauptungen durch Bibelzitate, und es gelang ihm, die Marquise zu überzeugen, denn sie hielt die Vorschriften der Religion und die Pflicht des ehelichen Gehorsams in gleichen Ehren wie die Anforderungen ihres Standes. Dem Verlangen ihres Gemahls zufolge erklärte sie sich bereit, täglich eine halbe Stunde ihrer Muße der Ausbildung ihres Sohnes in der Kunst des gesellschaftlichen Benehmens zu widmen. Und als sie den Marquis befragte, welche Rolle er sich vorbehielte, erwiderte dieser, daß er versuchen würde, mit Hilfe der Natur Verstand und Herz des Kindes zu lenken, worauf ohne Zweifel niemand gekommen wäre. Die Marquise verstand das nicht und erhob folglich auch keine Einwendung dagegen.
So kam es, daß Louis Lycurgue vom sechsten Jahre an mit Unterricht und Erziehung jeder Art überhäuft wurde. Während Gilles und Pierre Antoine sich in die Sorge für die Entwicklung seines Körpers teilten, fiel die Pflicht, ihn in Wissenschaft und Religion zu unterweisen, Herrn Joineau, Kandidat der Künste und Theologie, zu. Die Marquise selbst prägte ihm die Vorschriften seines Standes ein, und Herr von Migurac, der noch höher strebte, bemühte sich, ihn wahrhaft zum Menschen zu machen.
Es fällt nicht aus dem Rahmen unsrer Darstellung, wenn wir einen kurzen Abriß davon geben, wie und auf welche Weise die so eingeteilte Erziehung wirklich ausgeführt wurde. Ueber ihre Resultate werden wir später zu berichten haben.