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Herr von Migurac erblickte das Licht der Welt am 28. Juli des Jahres 1741 im Schlosse von Migurac in der Provinz Guyenne nahe bei dem Dorf gleichen Namens und einige Meilen von der Stadt Périgueux entfernt.
Am Abend vorher hatte die Marquise von Migurac, geborene Olympia Marie Eugenie von Gransalat, ihrem Gatten in gewohnter Weise gegenübersitzend, in dem hohen, streng im Stile Louis XIII. ausgestatteten Eßsaal gespeist. Dann gegen elf Uhr, als sie im Begriffe war, sich niederzulegen, verspürte sie die ersten Wehen, die ihr die nahe Geburt ihres Kindes verkündeten. Obwohl zehn Jahre verheiratet, war sie in diesen Dingen noch unbewandert, aber sie täuschte sich darin nicht und ließ alsbald Jungfer Aglaé Perronneau, die wohlbekannte Wehemutter von Périgueux, rufen, die seit vierzehn Tagen im linken Flügel des Schlosses mit großer Geduld der Stunde harrte, wo sie ihre Gaben entfalten konnte. Jungfer Perronneau, der nächst der Sorge für ihren Gaumen keine kostbarer dünkte, als die für ihr Bett, kam, sich die Augen reibend, mit verdrossener Miene an. Doch mußte sie sich versichern, daß die Marquise sie nicht unnötig gestört hatte und daß nach menschlicher Voraussicht nicht mehr viele Stunden dahingehen würden, bis der Name Migurac einen Erben hätte. Würde es ein männlicher oder ein weiblicher sein?
Darüber herrschte in der Seele der Marquise keine Ungewißheit; über einen etwaigen Zweifel hätte sie gelächelt, ob ihr gleich nicht wohl zumute war. Als der erschrockene Marquis mit verschobener Perücke und spiralförmig herabgerutschten Strümpfen erschien, bot sie ihm mit vornehmem Anstand die Stirn zum Kusse und sagte:
»Morgen, mein Gemahl, werde ich Ihnen unfehlbar einen Marquis schenken.« Alsdann bat sie ihn, sich zurückzuziehen, denn sie erachtete, daß ein Mann bei solchem Ereignis nicht wohl am Platze sei.
Marquis Henri gehorchte in großer Unruhe. Die jeweiligen Wechselfälle seines Daseins hatten ihn immer unversehens überfallen, und alles, was in seinem Leben von Bedeutung war, von seiner Geburt bis zu seiner Heirat, hatte sich ohne sein Zutun eingestellt. Darum zweifelte er auch keineswegs an der Berechtigung ihres Wunsches, wiewohl seine Zärtlichkeit bei dem Gedanken an die Leiden, die Madame Olympia bevorstanden, in Wallung geriet. Und so verbrachte er die Nacht, in sein Zimmer eingeschlossen, mit unruhigem Auf- und Niedergehen, bald dem geringsten Geräusche sein Ohr leihend, bald in tiefe Gedanken versunken.
Die Aussicht, daß ihm nach zehnjähriger unfruchtbarer Verbindung wider alles Erwarten ein Kind geboren werden sollte, deuchte ihn wunderbar. Während Madame von Migurac ihre Schwangerschaft mit ernster, ruhiger Befriedigung hingenommen hatte, als ein Ereignis, über das sich zu verwundern kein Grund vorlag und das nur die natürliche Folge ihrer ausdauernden Geduld und der der heiligen Radegunde dargebrachten Gebete und Opfer war, blieb der Marquis lange Zeit ungläubig. Und da seine Zweifelsucht sich endlich der Weisheit der Jungfer Perronneau hatte beugen müssen, war der Marquis dennoch nicht des hartnäckigen Argwohns Herr geworden, daß ein Unfall seine Hoffnung noch zuschanden machen würde. Eben jetzt noch fürchtete er eine Katastrophe und erwartete von einem Augenblick zum andern eine unheilvolle Botschaft. Aber im Schlosse herrschte Schweigen.
Herr von Migurac rief sich die Kaltblütigkeit der Marquise ins Gedächtnis und suchte seiner Nerven Herr zu werden. Er wagte es, seine Gedanken auf das Kind zu lenken, dessen Geburt bevorstand.
Im Grunde seiner Seele wünschte er sich eine Tochter. Auch hatte er diesen Wunsch der Marquise nicht verborgen, so überraschend er bei einem Edelmann war, der noch keinen Erben seines Namens hatte, und die edle Dame hatte ihm ihr Erstaunen und einen Anflug von Tadel nicht verhehlen können. Fürwahr, es wäre ihm hart angekommen, für diesen Wunsch einen genauen Grund vorzubringen. Vielleicht dünkte es ihn, in Ansehung der Torheiten, durch die sein Herr Vater das Vermögen der Miguracs verringert hatte, besser, daß sein Name mit ihm erlosch, als daß er langsam mit einer unbemittelten Nachkommenschaft verfiel. Oder vielleicht erhoffte er, in einer Tochter etwas Sanftes und Zärtliches um sich zu haben, was er bislang nicht gekannt hatte. Endlich mochte es auch eine Laune seines Geistes sein, daß ihn die Frage, wie er die Seele eines Mannes bilden solle, entsetzte. Dieses sonderbare Bedenken hätte wohl zu den seltsamen Theorien gepaßt, an denen er hing, ohne ihnen Ausdruck zu verleihen, denn er wollte lieber schweigen als seinen Nächsten Aergernis geben.
Kurzum, er hätte einer Tochter den Vorzug gegeben. Aber Frau von Migurac hatte ihm bestimmt einen Sohn versprochen. Und wie unvernünftig es immer sein mag, bei solchen Anlässen an Ahnungen festzuhalten, so wußte er gleichwohl, daß die Marquise so bestimmt in ihren Vorsätzen wie pünktlich in ihren Pflichten war, so daß er voller Bestürzung und wider Willen ihr zu glauben neigte. Mit leisem Bedauern gedachte er der hübschen Vornamen, die er nun seiner Tochter nicht geben konnte, und die er mit so viel Entzücken geflüstert hätte: Hypatia, Eucharis, Arsinoë und Irene.
In der Stille der Nacht zerriß ein gräßlicher Schrei die Lüfte. Er drang Herrn von Migurac bis ins Mark und riß ihn aus dem Lehnstuhl empor, in dem er schlummerte. Schon zog er den Riegel, um nach dem Zimmer der Marquise zu stürzen und ihr in den Todesqualen, in denen er sie wähnte, beizustehen. Aber seine Zaghaftigkeit und das Gefühl seiner Ohnmacht hielten ihn davon zurück. Er fürchtete ein schreckliches Schauspiel zu sehen oder indiskret zu sein und schloß die Tür wieder zu. Sein Herz krampfte sich in grausamer Angst zusammen und wand sich in leiblichen Schmerzen.
Dem Ersticken nahe, eilte er ans Fenster und öffnete es. Ein paar Atemzüge frischer Luft flößten ihm neue Kraft ein. Er bewunderte die Pracht des gestirnten Himmels und beklagte es, Atheist zu sein, denn es hätte ihm not getan, zu beten und bei einer allmächtigen Güte Ruhe zu finden. Durchdrungen vom Gefühl seiner Schwäche und Verlassenheit, sank er aufs neue in seinen Lehnstuhl zurück, indem er sich Mühe gab, sich dem Walten der Naturgesetze zu unterwerfen. Er war nicht imstande, seine Gedanken zu ordnen, und erbebte bei dem geringsten Geräusch, das aus den schlummernden Gefilden zu ihm drang. Mit Leidenschaft wünschte er etwas zu erfahren, selbst eine Katastrophe, und er hatte doch solche Furcht vor der Gewißheit, daß er sich nicht traute, einen Dienstboten zu schicken und Nachricht zu fordern.
Plötzlich ließ ihn ein Scharren an der Tür erzittern. Bestürzt wurde er inne, daß es Tag war und daß er schlief. Mit klangloser Stimme rief er herein. Durch eine Art Nebel erkannte er die weiße Haube und das battistene Busentuch von Jungfer Seraphine, der Kammerfrau, und er war überzeugt, daß sie ihm ein Unglück zu verkünden kam. Erstaunt hörte er sie mit ihrer gewöhnlichen Stimme melden, daß die Frau Marquise den Herrn Gemahl bitten lasse, sich zu ihr ins Schlafzimmer zu begeben.
Als Herr von Migurac in das Zimmer seiner Frau trat, war das erste, was ihm ins Auge fiel, ein rötlicher Klumpen, mit weißen Windeln umwickelt, von unbestimmter Form, ungleichmäßigen Bewegungen und quäkender Stimme, der in Jungfer Perronneaus Armen lag, während sie mit befriedigtem Lächeln darauf blickte. Gleichzeitig drang die Stimme der Marquise an sein Ohr, ein wenig schwach zwar, aber nichtsdestoweniger fest und deutlich:
»Ich hoffe, mein Herr Gemahl, daß der Sohn, den ich Ihnen versprochen hatte, Ihren Beifall finden wird.«
Herr von Migurac blickte die Marquise an. Sie war sehr blaß, und man las in ihren eingefallenen Zügen die ausgestandenen Leiden. Aber wie sie so in dem großen Bett mit dem feinen, schönen Linnen und der Ueberdecke von Lyoner Seide ruhte, bewahrte sie trotz ihrer Mattigkeit das adlige Aussehen, das ihr eigen war. Außerstande zu sprechen, nahm Herr von Migurac ihre weiße, herabhängende Hand und küßte sie mit ungewohnter Inbrunst.
Aber Jungfer Perronneau näherte sich ihm mit bedeutender Miene und erhobenen Armen und hielt ihm das Kind hin. Verlegen beschaute er die kleine, rötliche, faltige Masse, die winzigen Fingerchen, die sich willkürlich spreizten, und die trüben, kleinen, ausdruckslosen Augen. Ohne Worte zu finden, beugte er sich über die kleine, wulstige Stirn. Und indem er bedachte, daß dieses Ding sein Sohn sei und ein Mann werden würde, fühlte er, daß seine Wimpern sich feuchteten und auf seinen Wangen einige Tränen rannen, die er nicht zurückhalten konnte. Frau von Migurac sah ihm derweil mit stolzem Lächeln und ein wenig Herablassung zu.
Als Herr von Migurac seine Sinne wieder beisammen hatte, meinte Jungfer Perronneau, die in Geburtssachen gründlich bewandert war, daß es angemessen wäre, den Neugeborenen zum Christen zu machen; und da die eigentliche Taufe bis zum ersten Kirchgang der Marquise aufgeschoben war, erschien Herr Baguelinier, der alte Pfarrer von Migurac, schwankenden Schrittes, murmelte zwei Zeilen Latein zwischen seinen zahnlosen Kiefern und gab dem Kinde die Nottaufe, indem er mit seinen langen, mageren, zitternden Armen ruckweise das Zeichen des Kreuzes über ihm machte.
Nach Verrichtung dieser heiligen Handlung überantwortete man den jungen Katholiken den Händen der braunen Maguelonne, eines schmucken Frauenzimmers aus dem Ort, mit breiten Hüften und vollem Busen, die das scharfsichtige Auge Jungfer Perronneaus unter mehreren Bewerberinnen für das beneidete Amt einer Amme auserkoren hatte. Bald sah der Marquis die Wangen seines Sohnes im Takte anschwellen, um seine erste Nahrung zu kosten.
Der Erbe des Marquis von Migurac wurde unter den vorher vereinbarten Vornamen Louis Lycurgue ins Kirchenregister eingetragen. Die Marquise hatte für ihren Sohn den gleichen Schutzpatron haben wollen, wie die drei erlauchtesten Könige Frankreichs: der, der den Namen des Heiligen verdient hatte, der Sonnenkönig und endlich Louis der Vielgeliebte, der regierende Monarch. Den Namen Lycurgue hatte Herr von Migurac gewählt, denn es lag ihm am Herzen, daß sein Sohn nach dem weisesten Gesetzgeber genannt würde, nach dem Philosophen, der den Menschen die Gesetze der Natur und der Gleichheit offenbart hatte.
Diesem Vornamen wurde, dem ausdrücklichen Wunsche der Frau von Migurac gemäß, der Titel eines Vicomte von Aubetorte beigefügt, ein Name, der an einem geringen Pachthof haftete, dessen Dach ein Türmchen schmückte.
Am Abend fand eine große Verteilung von Lebensmitteln an die Landsleute statt, die herbeigeeilt waren, um ihrer Gebieterin ihre Glückwünsche darzubringen. Ein Feuerwerk, das man dem besten Feuerwerker in Périgueux mit hundertzwanzig Lire und zehn Sous bezahlt hatte, wurde von Maître Pierre Antonie Lestrade abgebrannt, der im Schloß das Amt des Stallmeisters und Verwalters versah.
Dieses waren die namhaftesten Begleitumstände der Geburt Louis Lycurgues. Fügen wir noch hinzu, daß Jungfer Perronneau ihn für stark und wohlgestaltet erklärte; seine Art zu schreien, deutete ihr auf gute Lungen, sein Gewicht, das zweiundfünfzig Mark betrug, und die Größe seiner Hände und Füße ließen eine gute Statur prophezeien.
Selbiges Frauenzimmer, das die Hinweise der Astrologie nicht verschmähte, bemerkte auch, daß das Kind, da es unter dem Zeichen des Löwen geboren sei, eine großmütige Seele haben werde und nach hohen Zielen streben könne. Aber sie empfahl, der geweihten Medaille, die man ihm um den Hals hängte, noch einen kleinen durchbohrten Rubin beizufügen, denn dieser Stein hat die Kraft, seinen Träger vor dem übeln Einfluß der Konstellation zu bewahren, die, wie männiglich bekannt, die Veränderlichkeit des Charakters, die maßlose Glut der Leidenschaften und die Neigung befördert, sich die gewöhnlichen Widrigkeiten des Lebens noch zu vervielfältigen.
Ohne den wenig katholischen Geist dieser Glaubensartikel zu verkennen, nahm die Marquise sie doch zu Herzen und hielt es nicht für angebracht, sie zu verachten. Ein Eilbote sprengte mit verhängten Zügeln nach Périgueux, um von einem Juwelier einen Stein von schönem Wasser zu holen, der dem Kinde um den Hals gehängt wurde.
Erst gegen das zweiundzwanzigste Jahr seines Lebens, als er durch Umstände, von denen wir später noch reden werden, zum Verkaufe des Steines gedrängt wurde, gewahrte Louis Lycurgue, daß er unecht war und daß der Kaufmann den guten Glauben seiner Eltern getäuscht hatte. Woraus abergläubische Leute die Schlußfolgerung zogen, daß er mit guter Wahrscheinlichkeit einer stürmischen Laufbahn entgegenging, da man ja die verderbliche Macht der Gestirne nicht beschworen hätte.