Jonas Lie
Hof Gilje
Jonas Lie

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Sechstes Kapitel

Vor drei Tagen hatte der Hauptmann den Deckel seiner großen, alten Meerschaumpfeife mit Kreide putzen lassen, ohne sie jedoch jetzt vom Pfeifengestell herabzunehmen und zu gebrauchen. Mit den andern Pfeifen und der ganzen Ausstattung des Rauchtisches hatte er ein Reinigungsfest veranstaltet. Dann war der Kantor gerufen worden und hatte sein Möglichstes thun müssen, das alte Klavier zu stimmen. Auf die Haustreppe waren zwei weiß gestrichene Bänke gestellt, und der den Garten umgebende, lang vernachlässigte Lattenzaun wies nun hie und da frische weiße Stäbe auf, die so aussahen, wie vereinzelte neue Zähne zwischen einer Reihe alter, grauer. Die Gartenwege wurden gefegt und mit frischem Kies bestreut und der Hofraum gesäubert.

Der Hauptmann war in beinahe übermütig guter Laune, eifrig und unermüdlich, überall zugegen.

Zeitweise gönnte er sich eine gewisse Ruhe und stellte sich rauchend auf die Treppe oder in der großen Stube ans Fenster, von wo aus man die Landstraße übersehen konnte, oder er ging bis ans Hofthor und blieb dort mit seiner Pfeife auf der niedrigen Feldmauer sitzen.

Heute nachmittag war der Hauptmann eben wieder ins Haus gegangen, um zum, wer weiß wievielten Male, die Stimmung des alten Klaviers zu prüfen, die stetig herunterging, als der am Fenster stehende Jörgen einen sich bewegenden Punkt auf einer der hellen Strecken der Landstraße, die auf der andern Seite des Wassers sichtbar war, zu erspähen vermeinte. Hastig nahm der Hauptmann das Fernglas auf, lief auf die Treppe hinaus, kam wieder herein, rief nach Ma – und bezog geduldig seinen Posten am offenen Fenster, wo er jedesmal nach Ma verlangte, wenn das Fuhrwerk wieder bei einer Biegung des Weges in Sicht kam.

Da unten ging's aber nicht so rasch. Der Rappe blieb von selbst stehen, wenn ihm ein Mensch begegnete und Stor-Ola Auskunft geben mußte.

Eine junge Dame in einem knapp sitzenden Staubmantel, mit Sonnenschirm und Handschuhen und einem feinen, messingbeschlagenen englischen Koffer hinten auf der Kutsche, war schon an sich kein alltäglicher Anblick; allein daß es die Tochter des Hauptmanns auf Gilje war, erhob die Sache ins Gebiet des Aufsehenerregenden, und die Nachricht hatte sich schon eine ziemliche Strecke in der Umgegend verbreitet, als das Fuhrwerk gegen Abend vor der Hausthür vorfuhr.

Da standen Vater, Mutter, Jörgen und Thea, und auch der Unteroffizier Tronberg zeigte sich hinten an der Ecke des Hauses, und die Knechte vom Hofe und die Mägde warteten im Flur. Stor-Ola wurde um die Freude, das Fräulein vom Wagen auf die Treppe zu heben, geprellt, denn sie sprang allein vom Wagentritt unmittelbar in die Arme ihres Vaters, küßte ihre Mutter, drückte Thea an die Brust und schwenkte Jörgen einmal auf der Treppe herum, damit er einen ersten Eindruck von ihrer Heimkehr bekäme.

Ja, das war ihr Sonnenschirm, den sie achtlos auf der Treppe hatte fallen lassen, womit jetzt ein barfüßiges Mädchen eintrat. Ma nahm ihn vorsichtig an sich, den teuren, mit schönen Fransen besetzten Sonnenschirm mit dem langen Elfenbeingriff, der zwischen Treppe und Wagenrädern gelegen hatte. Der Hauptmann nahm ihr selbst den Mantel ab. Haar, Kleidung, Handschuhe, wie sah sie aus! Eine feine, erwachsene Dame von Kopf zu Füßen. Und nun war die Sonne von Gilje in der Stube!

»Ich habe mich den ganzen Tag nach dem Tabaksduft gesehnt und mir immer ausgemalt, wie dir die Rauchwolken um den Kopf ziehen, Vater! – Ich glaube, du bist ein bißchen stärker geworden – hu! und im Staatsrock! – Ich habe dich mir immer im alten, abgetragenen vorgestellt – und Mutter – Mutter!« Sie lief hinter Ma in die Speisekammer, wo sie lange allein zusammenblieben.

Dann kam sie ruhiger wieder zum Vorschein.

In der Küche brannte ein Helles Feuer. Dort stand Marit, ein untersetztes, rotwangiges Hochlandsmädchen mit weißen Zähnen und kleinen Händen. Sie stampfte Grütze, daß ihr der Schweiß auf der Stirn stand, denn sie wußte sehr wohl, daß Stor-Ola sie so haben wollte, daß fünfzehn ausgewachsene Männer auf der Kruste tanzen konnten – und nun kam plötzlich das Fräulein, um ihr zu helfen. Nachher mußte Inger-Johanna auch an Torbjörgens Spinnrad spinnen.

Der Hauptmann folgte ihr überall hin und sah ihr mit Augen zu, worin ein verdächtiger Glanz schimmerte, und als sie wieder in die Stube kam, nahm sie die Flasche aus dem Schranke und schenkte denen draußen jedem einzeln einen Schluck als Willkommtrunk ein.

In der Stube wartete das Abendbrot – ein frisches Tischtuch war aufgedeckt, und darauf standen rote Bergforellen und ihr Leibgericht: Erdbeeren mit Rahm. ...

»Daß sich niemand untersteht, sie zu wecken, so müde, wie sie gestern abend war,« hatte der Vater gesagt, und deshalb saß Thea von halb sieben an außen vor der Thür und wartete darauf, irgend ein Geräusch von innen zu vernehmen, damit sie mit dem Teller voll kleinem Gebäck hineinstürzen könne – denn Inger-Johanna sollte den Kaffee im Bett einnehmen.

Jörgen, der Thea standhaft Gesellschaft leistete, war durch die genaue Betrachtung des wunderlichen Schlosses an ihrem Koffer und der kleinen, feinen Lackschuhe ganz in Anspruch genommen, mit denen er sich Stirn und Nase rieb, nachdem er sie angehaucht hatte.

Jetzt wachte sie drinnen auf, und die Thür öffnete sich, um Jörgen, Thea, Paßauf und etwas später Torbjörg mit dem Kaffeegeschirr einzulassen.

Ja, nun war sie daheim!

Durch die geöffneten Fenster drang der Duft frischen Heus, und sie hörte, wie die schweren Fuder donnernd in die Scheune rollten. Und als sie aus dem Fenster über das lange, schmale Wasser da unten blickte, und dann das Auge zu den Berggipfeln erhob, die aus dem leichten Nebel auf der andern Seite so steil gen Himmel ragten, da verstand sie teilweise ihrer Mutter Empfindung, daß es so eng hier oben sei und daß es einunddreißig lange Meilen bis zur Stadt waren. Aber dafür war es so duftig schön, und – war sie denn nicht auf Gilje daheim?

Sie mußte auf der Stelle hin, im Heu liegen, und damit sie ungefährdet am Bock, der bösartig war, vorbeikommen konnte, um ihres Bruders Werkstatt und das heimlich aus Lauf und Schloß einer alten Soldatenbüchse verfertigte Jagdgewehr zu sehen, mußte Jörgen ihn halten. Damit, daß er ihr sein Gewehr zeigte, bewies er seiner ältern Schwester ein besonderes Vertrauen, denn Pulver und Schießwaffen waren ihm aufs strengste verboten, was aber nicht hinderte, daß er sich sowohl drüben, als auch hier in den Bergen kleine Arsenale von dem Vater gemausten Patronen angelegt hatte.

Das war ein frohes, fast berauschendes Bewillkommnungsfest während der nächsten drei, vier Tage! Erst als sozusagen wieder Werktagsstimmung eintrat, fing Ma an, von dieser und jener häuslichen Angelegenheit mit Inger-Johanna zu sprechen und ihr ihre verschiedenen Sorgen und Kümmernisse anzuvertrauen.

Was sollte aus Jörgen werden? Sie mußten doch einmal daran denken, ihn nach der Stadt zu schicken! Ma hatte viel darüber nachgedacht, ob sie nicht an Tante Alette schreiben und sie um Rat fragen sollte. Vater durfte nicht durch kostspielige Pläne beunruhigt werden. Ob Tante Alette nicht veranlaßt werden könnte, den Vorschlag zu machen, den Jungen in Kost und Wohnung zu nehmen? Dann würden wenigstens allzu große bare Auslagen vermieden. Sie könnten ihr ja allerhand Nahrungsmittel schicken, Butter, Käse, Brot, Pökelfleisch und Speck, so oft sich eine Gelegenheit bot. Jedenfalls müsse sie sehen, daß sie während des Winters einmal mit Vater darüber sprechen könne, wenn sie gehört habe, was Tante Alette dazu sage.

Und mit Thinka hatte sie auch viel durchzumachen! Ma hatte ihre liebe Mühe und Not gehabt, zu verhindern, daß Vater etwas erfuhr – »du weißt ja, wie wenig er Aerger vertragen kann« – und Mittwochs hatte sie immer mit einer wahren Todesangst Jörgen aufgelauert, um Thinkas Brief beiseite zu bringen, wenn der Junge mit der Post kam. Sie hatte ihr im Frühjahr einmal über das andre Mal geschrieben und ihr Vorstellungen gemacht, was für eine thörichte Schwachheit sie begehen würde, wenn sie sich mit dem Schreiber Ohs verplemperte. Im Anfang waren dann einige wirklich ganz trostlose Briefe gekommen. Man könne auch in bescheidenen Verhältnissen glücklich sein, hatte sie geschrieben – die Aussicht auf eine Anstellung als Untervogt wäre doch da, worauf sie bauen könnten! Ma hatte ihr aber ernstlich vor Augen gestellt, wie so etwas enden könne, z. B, wenn er krank würde oder stürbe. Was sollte dann aus ihr und vielleicht einer ganzen Schar von Kindern werden?

»Es gilt nur das erste Aufwallen der Empfindung zu überwinden. Nun kommt sie im Herbst nach Hause, und es wäre zu wünschen, daß sie sich diese Geschichte aus dem Sinne schlüge. Mein Bruder Birger ist ja so heftig, aber daß er sofort, als er hinter die Sache kam, losbrach, wie meine Schwägerin schrieb, diesem Ohs den Laufpaß gab und noch am selben Tage die Thür wies, das ist doch wohl ganz gut gewesen.« Die letzten paar Briefe ließen hoffen, daß Thinka ruhiger geworden sei.

»Thinka ist furchtbar weichherzig,« rief Inger-Johanna mit funkelnden Augen aus. »Ich glaube, wenn man sie einsalzte und in einen Topf legte, sie muckte nicht. Onkel Birger hätte sich das nur gegen mich herausnehmen sollen; nicht einen Tag länger wäre ich im Hause geblieben!«

»Aber Inger-Johanna, Inger-Johanna!« rief Ma kopfschüttelnd. »Du hast eine gefährliche Gemütsart und bist sehr verzogen worden. Es gibt nur sehr, sehr wenige unter uns Frauen, denen es gestattet ist, ihren Neigungen zu folgen.«


Der Hauptmann ließ keine Gelegenheit vorübergehen, wo er seine aus der Hauptstadt zurückgekehrte Tochter zeigen konnte. Er hatte seine Zeit bis jetzt gut ausgenützt, denn Anfang nächster Woche mußte er zu verschiedenen Kartenvermessungen ins Hochland, und bald darauf begann die Uebungszeit. Nun waren sie zum nächsten Sonntag zum Vogt Gülke eingeladen – eine Reise von vier oder fünf Meilen ins Thal hinab.

Der alte Rumpelkasten von Kutsche wurde aus den tiefsten Tiefen der Scheune hervorgezogen, und der arme Rappe und der Fuchs – der blinde Falbe war langst wieder abgeschafft worden – sollten zusammengespannt werden und ihre schon drei Monate dauernden Versuche, friedlich nebeneinander zu gehen, fortsetzen.

Wenn es etwas gab, worauf der Hauptmann streng hielt, so war es militärische Pünktlichkeit, und Schlag halb fünf Uhr morgens wanderte die ganze Familie im feinsten Putz, der Vater und Jörgen mit aufgekrempten Beinkleidern, die Damen mit aufgeschürzten Röcken zu Fuße die Anhöhe von Gilje hinab – das war der schwierigste Teil des ganzen Weges – während Stor-Ola mit dem leeren Wagen auf der Landstraße hinunterfuhr.

Das Wetter war heiß und beschwerlich, und der Wagen rollte unaufhörlich in einer dichten Wolke lästigen Straßenstaubes, den die Hufe der Pferde und die Räder aufwirbelten. Allein es ging ja die ganze Zeit meist bergab, und nach jeder Meile wurde ausgeruht und verschnauft. Um halb eins waren sie am Ufer des Sees angelangt und brauchten nur noch mit der Fähre überzusetzen, und dann kam noch ein kurzes Stück Wegs bis zum Vogtshofe.

Auf der Fähre wurde die Gelegenheit benützt, die Kleider ein wenig zurecht zu zupfen und abzustäuben, und der Hauptmann zog seinen neuen Uniformsrock an, der im Wagenkasten unter dem Sitze lag. Sobald sie die Anhöhe am andern Ufer erstiegen hatten, sahen sie den Wagen des Amtsrichters vor sich ins Hofthor einbiegen, und auf dem Hofe hielt bereits das Wägelchen des Doktors und der Gig des Fürsprechs. Auch der Vogt selbst stand da und half der Frau Amtsrichter beim Aussteigen; der Gerichtsschreiber und die Tochter befanden sich bereits auf der Treppe.

Nach der langen Fahrt mußten die Damen natürlich ihre Kleider etwas in Ordnung bringen, ehe sie glaubten, sich sehen lassen zu können. Von den beiden Töchtern des Fürsprechs trug eine ein rotes, die andre ein weißes durchsichtiges Kleid, und von den drei Töchtern des Amtsrichters waren zwei in Weiß und eine in Blau.

... Daß eines so gering besoldeten Hauptmanns Tochter in brauner Seide und Stiefelchen mit Glanzlederspitzen kam, ließ sich ja durch die eigenartigen Verhältnisse erklären, zischelte Frau Fürsprech Scharfenberg dem alten Fräulein Horn vom Pfarrhofe ins Ohr. Es war vermutlich ein abgelegtes von der Stiftsamtmännin drinnen in der Stadt, das für sie zurecht gemacht war.

Frau Scharfenberg ärgerte sich nämlich, daß der junge Horn, der Hilfsprediger bei seinem Vater, dem Pfarrer, zu werden erwartete, Inger-Johanna eine viel schmeichelhaftere Aufmerksamkeit widmete, als ihrer eigenen Tochter Bine, mit der er so gut wie verlobt war, und es schien auch so, als ob der Gerichtsschreiber nicht blind für sie sei, denn beide stürzten fort, um ihr einen Stuhl zu holen.

Die Frau Amtsrichter und »Ma« wurden selbstverständlich aufs Sofa genötigt. Auch das fand Frau Scharfenberg wieder nicht richtig, denn ihr Mann war Nummer 2 im Gerichtsbezirk, und daß der Vogt heute die reiche Frau Silje eingeladen hatte, war, wie ihr Mann gesagt hatte, weiter nichts, als seine Sucht, sich beliebt zu machen; die blieb deswegen doch, was sie war: die Witwe des Krämers Silje.

Eine lange Stunde verging, während die Gesellschaft sich, so gut es gehen wollte, unterhielt, bis die Hausfrau dem Vogt einen Wink gab, die Gäste zu bitten, sich ins Speisezimmer zu begeben. Die einzige, die gelacht und unbefangen geplaudert hatte, ehe das Eis als gebrochen anerkannt werden konnte, war Inger-Johanna gewesen, die anfangs mit dem Amtsrichter und dann mit Horn und dem Corpsarzt ein Gespräch angeknüpft hatte. Ma kniff allerdings die Lippen ein wenig unruhig zusammen, wahrend sie sich den Anschein gab, als sei sie von der Unterhaltung der Frau Brinkmann sehr gefesselt; aber sie wußte sehr wohl, wie sie alle nachher über ihre Tochter herfallen würden. – –

Es war ein ziemlich hitziges Mittagsessen gewesen. Die Müdigkeit und der Hunger nach der langen Fahrt waren infolge der überreichen Bewirtung bald vergessen und hatten einer sehr muntern, durch Erzählungen und Lieder gewürzten Stimmung Platz gemacht, und die Gesellschaft saß lange bei Tische, bis der Amtsrichter seinen Stuhl geräuschvoll zurückschob und damit das Zeichen zum Aufstehen gab.

Während des Danksagens für die genossene Mahlzeit stand der dicke Vogt strahlend im Zimmer und forderte und empfing den üblichen Zoll als Gastgeber: einen Kuß von jeder der jungen Damen. Die Herren der Gesellschaft zerstreuten sich mit ihren Kaffeetassen draußen im kühlen Flur oder spazierten mit der Pfeife auf dem Hofe umher, während die Damen in der Stube am Kaffeetische saßen. Der Amtsrichter unterhielt sich mit etwas lauter Stimme mit dem Vogt, und der Hauptmann stand rot und erhitzt draußen auf dem Hof und kühlte sich ab.

»Heute hat er den Zapfen aber mal richtig aus dem Spundloch ziehen müssen,« sprach der Corpsarzt und schlug den Hauptmann auf die Schulter. »Wir haben tüchtig gepichelt.«

»Ach, Rist, jetzt eine Pfeife, und dann ein bischen ruhen!«

»Aber, Mensch, du hast sie ja in der Hand!«

»So? – Ja, ich meine geladen, weißt du.«

»Du hast ja eben dagestanden und sie gestopft.«

»Ich? Nein, wahrhaftig! – Aber Feuer, siehst du, Feuer!«

»Hör mal, du, Jäger. Scharfenberg ist schon hinaufgegangen, um ein Mittagschläfchen zu halten.«

»Ja, ja – aber du, mit dem Falben, da hast du mich schnöde angeführt.«

»Ach, red doch nicht, Peter. Dein Krippenbeißer hat sich bei mir halb durch die Wand gebissen. – Hör mal du, der Madeira war aber stark!«

»Du, Rist ... meine Tochter Inger-Johanna ...«

»Ja, siehst du, Peter, daß du ein bißchen übergeschnappt über sie bist, das nehme ich dir gar nicht übel; die verdreht noch ganz andre Hirnkasten, als deinen.«

»Sie ist ... so schön ... so schön ...« sprach er mit einem bedenklichen Ausdruck der Rührung in seiner Stimme, und dann zogen sich die beiden Kriegsmänner in gesetztem Marschschritt in eines der obern Schlafzimmer zurück.

Drinnen im Flur stand der lange Buchholz, der Gerichtsschreiber des Amtsrichters, steif und still mit der Kaffeetasse an der Wand und suchte sich darüber klar zu werden, ob ihm jemand anmerken könne, daß er einen kleinen Spitz hatte. Er war im Zimmer bei den Damen gewesen und hatte versucht, mit Fräulein Jäger eine Unterhaltung anzufangen,

»Wie lange sind sie schon hier, Fräulein Jä–Jä–Jäger?«

»Drei Wochen.«

»Und wie la–la–lange beabsichtigen Sie hi–hi–hier zu bleiben?«

»Bis Ende August.«

»Ve–ve–ver–vermissen Sie die Ha–ha–ha–Hauptstadt nicht hier oben?«

»Nein, gar nicht.«

Sie wandte ihm den Rücken und fing an, mit ihrer Mutter zu sprechen, denn genau dieselbe Reihe von Fragen, hatten nun sämtliche Herren an sie gerichtet.

Neben der Thür stand der untadelhafte Kandidat Horn und genoß seinen Mokka – und des Gerichtsschreibers Niederlage. Er wartete nur auf eine Gelegenheit, Inger-Johanna anzureden, fand aber ein unübersteigliches Hindernis in der Frau des Amtsrichters, die anfing, sich mit ihm zu unterhalten, bis infolge einer Aufforderung des Vogts plötzlich ein allgemeines Ausrücken stattfand. Die ältern Damen mußten hinaus auf die Treppe treten und zusehen, wie das junge Volk »Witmann sucht eine Witwe« spielte.

Frau Silje saß nach all dem guten Essen breit und gutmütig da und unterhielt sich vortrefflich. »Nein, diesmal hat er sie aber nicht gefangen! Das nächste Mal müssen Sie die Beine etwas flotter heben, mein Herr Sekretär,« sprach sie lachend vor sich hin, als ein Versuch des Gerichtsschreibers, Inger-Johanna zu fangen, kläglich scheiterte. »Das schöne Fräulein ist schon einer Anstrengung wert!«

Frau Scharfenberg fand, daß es auf der Treppe ziehe, und als sie sich in den Flur flüchtete, wo die stets kränkliche Frau des Vogts in ihren Shawl gewickelt saß, konnte sie dieser und der Frau Amtsrichter gegenüber die Bemerkung nicht unterdrücken, daß die zwanglose Art, wie die jungen Damen heutigestages liefen – so, daß man die Strümpfe bis hoch über die Stiefel sehen könne – etwas sehr frei sei, aber Frau Silje fände nicht das geringste Unpassende darin, meinte sie spöttisch. »Nun, sie wird ja wohl auch oft genug mit den andern Dirnen barfuß gelaufen sein und im bloßen Hemd Heu gemacht haben, ehe sie den Krämer geheiratet hat.«

Ma gab Inger-Johanna auch einen ängstlichen Wink, sobald sie in ihre Nähe gelangen konnte.

»Du mußt nicht so wild laufen, Kind! Das sieht nicht gut aus ... und dann muß man sich fangen lassen.«

»Vom Sekretär? In alle Ewigkeit nicht!«

Ma seufzte.

Mit dem Spiel wurde bis zur Theezeit fortgefahren, wo auch die nach dem Mittagessen Verschwundenen in ausgeruhtem Zustande, zu einer Partie Boston bereit, wieder sichtbar wurden.

»Aber Jörgen? ... Wo steckt denn nur Jörgen?«

Man rief nach ihm, und er kam auch alsbald etwas bleich, mit einem verdächtigen Angstschweiß im Gesicht und einer Munterkeit, der man auch anmerkte, daß sie ein wenig erkünstelt war, aus dem Dienstzimmer des Vogts, wo er mit dessen Schreiber, welcher von dem wenig beliebten Teil der Amtsthätigkeit, der auf seinen Schultern ruhte, den schönen Beinamen »Pfändungsgaul« trug, zusammengesessen und geraucht hatte.

Auch nach dem Abendessen wurde die Bostonpartie mit ungeheuren Bêten und ganz merkwürdigen, aufgedeckten Spielen vom Amtsrichter, dem Hauptmann, dem Vogt und dem Fürsprech fortgesetzt. In der andern Stube saß Ma. Sie war unruhig und wunderte sich, ob Vater gar nicht ans Aufbrechen dachte, denn sie hatten den weitesten Weg nach Hause, und es war bereits nach zehn.

Aeußerlich vollkommen ruhig, hoffte Ma, die kleine Frau Scharfenberg mit der spitzen Zunge würde bald wagen, sich an der Thür des Spielzimmers zu zeigen. Aber das dauerte doch eine ganze Weile, und es schien, als ob die andern Frauen ihr überlassen wollten, den Aufbruch zu machen, und schließlich winkte sie Inger-Johanna herbei.

»Kannst du nicht hineingehen und den Vater daran erinnern, daß es Zeit ist?« flüsterte sie ihr zu. »Du mußt aber so thun, als ob du aus eigenem Antriebe kämst.« – –

Um elf Uhr saßen sie endlich im Wagen, nachdem der Vogt auf der Haustreppe sein Hausherrnvorrecht bei den jungen Damen wieder zur Geltung gebracht hatte, denn er war ein Meister in der Kunst, alle die spaßhaften Anstellereien zu durchkreuzen, die sie versuchten, um sich ihm zu entziehen und dem schmatzenden Abschiedskusse zu entrinnen.

Der Gerichtsschreiber und der Kandidat Horn geleiteten den Wagen bis zum Thor.

»Die haben sich weder deinet- noch meinetwegen so angestrengt, Ma,« meinte der Hauptmann kichernd. Er kutschierte, allein er wandte sich unaufhörlich zurück, um das Gespräch im Wagen zu hören und seinen Senf dazu zu geben.

Eine gute halbe Meile auf ebener Straße, wo sie alle im Wagen sitzen konnten, ging's im kurzen Trabe. Es war schwül, ein halbfeuchter Heuduft lag über der Gegend und ein leichter Hauch von Dämmerung. Stor-Ola gähnte, der Hauptmann gähnte, die Pferde gähnten, Jörgen nickte, und Thea schlief wohl geborgen unter Mas Shawl. Ab und zu wurden sie durch das Rauschen eines Sturzbachs aufgeweckt, der schäumend unter einer Brücke der Straße hindurchströmte. Inger-Johanna war in ihre Träume versunken und meinte schließlich, eine gelbbraune Kröte vor sich zu sehen, mit kleinen, neugierigen Augen und einem großen Maule – das dicke Tier richtete sich ungeschickt auf und hüpfte auf sie zu. In diesem Augenblick standen die Pferde still.

»Hu! – Ich glaube, ich habe vom Vogt geträumt!« sprach Inger-Johanna zusammenschauernd.

»Wir müssen hier aussteigen,« rief der Hauptmann schlaftrunken. »Wir sind am Rognerudberge, aber Ma und Thea können sitzen bleiben.«

Der Tag brach an, und die Reisenden sahen, wie die Strahlen der Sonne die fernen Berggipfel vergoldeten, aber sie selbst war noch nicht sichtbar, bis sie endlich wie eine Goldkugel über dem Bergkamm im Osten emporstieg, die Anhöhen im Westen mit einem rosigen Schimmer übergoß und in den Tautropfen auf den grasbewachsenen Abfällen glänzte.

Nun ging es Fuß für Fuß in den Anhöhen weiter, und als sie die Gemarkung von Gilje erreichten, waren die Leute schon auf den Wiesen damit beschäftigt, das Heu auszubreiten.

»Es ist doch angenehm, wieder zu Hause zu sein,« meinte Ma. »Ob Marit wohl daran gedacht hat, die Forellen in den Rauch zu hängen?«

Diese trat eben hastig aus der Beischlagthür.

»Gestern abend ist ein feiner Stadtherr hier angekommen ... der, der vor zwei Jahren schon einmal hier war und seine Stiefel besohlen ließ ... ich wußte mir nicht zu helfen und habe ihn in der blauen Kammer schlafen lassen.«

»Aha! Studiosus Grip! Er ist wohl auf dem Nachhausewege.«

Ma sah Inger-Johanna verstohlen an und bemerkte, daß ein nachdenklicher Ausdruck in ihrem Antlitz aufgestiegen war, als sie schnell aus dem Wagen sprang.


»Jäger muß morgen zur Kartenberichtigung weit ins Gebirge, bis über die Grönelidstrift hinaus,« bemerkte Ma, »und dazu muß noch viel hergerichtet werden.«

»So – so? Und schon sehr frühzeitig?« fragte der Student. »Ich habe den Plan, quer über die Berge nach Hause zu gehen, wie das letzte Mal, und ordentlich Luft zu schnappen.«

»Aber dann könnten Sie ja meinen Mann begleiten. Fünf, sechs Meilen haben Sie gewiß denselben Weg – und für Jäger wäre Ihre Gesellschaft eine große Annehmlichkeit. Sie haben wohl nichts einzuwenden, wenn ich auch für Sie etwas Frühstück schneide – zum Mitnehmen?«

»Danke, danke sehr für alle Ihre Freundlichkeit, Frau Hauptmann. – Sie will mich los sein, das liegt auf der Hand,« murmelte er, während er sich in den Vormittagsstunden auf dem Hofe die Zeit zu vertreiben suchte, denn mit Ausnahme der Hausfrau schliefen alle andern noch.

Aber um den Hauptmann zu begleiten, war er nicht hier herauf gekommen.

Am Nachmittag, als es anfing, sich etwas abzukühlen, machten der Hauptmann, Inger-Johanna, Jörgen und der Studiosus Grip einen Spaziergang auf dem schönen Wege nach der Mühle. Stor-Ola und Aslak, der Kätner, folgten ebenfalls, denn es war etwas am Mühlrad auszubessern, und jetzt, wo der Mühlbach fast trocken war, ließ sich das am leichtesten nachsehen.

Nun hatten sie ihr Ziel erreicht und überlegten eifrig, wie das große Rad am besten aus der Achse zu heben sei.

»Nein, aber dieser Jörgen, der hat's wirklich wieder herausgetüftelt!« rief der Hauptmann. »Du mußt den Schreiner Tor zu Hilfe nehmen, Ola, sobald du mit den Pferden aus den Bergen wieder zurück bist; und dann laßt euch nur von Jörgen bescheiden, der versteht's. Wenn es sich nicht um Büchergelehrsamkeit handelt, ist er klug genug.«

»Setz dich ordentlich auf die Hosen, Jörgen, gerade wie du's mit der Roggengrütze machst; je rascher du schluckst, um so eher ist's überstanden,« tröstete Grip.

»Sieh mal an, da hätte ich beinahe die Angelschnur für morgen vergessen! Du mußt noch heute abend hinunter zum Krämer laufen, Jörgen. Wir fischen Forellen da oben, passen Sie mal auf,« sprach der Hauptmann zu Grip gewandt.

»Ach ja,« pustete er auf dem Rückweg, »ich habe es nötig, mal wieder in die Berge zu kommen; das ist mir sehr zuträglich; ich kehre immer drei, vier Pfund leichter zurück.«

»Diese Gegend interessiert mich schon seit der Zeit, als ich noch die Schulbank drückte,« bemerkte Grip. »Wir kriegten einmal die Aufgabe, den See in eine Karte dieses Bezirks hineinzuzeichnen; er war damals erst vor ein paar Jahren mitten in einem weiten Tafellande in den Bergen, wovon kaum ein paar Renntierjäger etwas wußten, entdeckt worden, – und das war es gerade, was mich anzog, als ich vor zwei Jahren den Renntierjäger traf. Ich wollte auch etwas entdecken – sehen, was dort wäre,«

»Ganz mein Fall,« warf Inger-Johanna dazwischen, »ich habe mir auch immer auszumalen gesucht, wie es in der Stadt wäre.«

»Sie sollten Ihren Herrn Vater ein Stück Wegs in die Berge begleiten, Fräulein, und sehen, ob Sie schöne Aussichtspunkte entdecken.«

»Das ist ein Gedanke ... gar nicht übel!« rief der Hauptmann, »nicht unausführbar, gar nicht! ... Du könntest ganz gut bis zur Grönelidstrift reiten.«

»Ach Vater! Wenn du das durchsetzen könntest!« antwortete sie eifrig. »Nun habe ich auch Lust gekriegt, zu sehen, was dort ist. Ich glaube, wir haben uns immer eingebildet, die Welt höre an unsrer eigenen Weidegrenze auf.«

»Wir nehmen Decken auf dem Packsattel mit, und wo sich ein Dach für mich findet, wird es ja wohl so sein, daß auch du ... na, na, Morten! Willst du die Menschen wohl in Frieden lassen!«

Der Hauptmann zog eine Rolle Kanaster aus der Tasche und hielt dem Bock, der auf sie losgefahren war, als sie den Hof wieder betraten, ein Stück hin.

»So'n Sakermenter! Er will seine Ration haben, der Kerl! – Du, Ma,« rief er, als er seine Frau aus dem Vorratshause kommen sah, »was sagst du dazu, wenn ich Inger-Johanna morgen mit mir nehme? Sie kann Freitag mit Ola und den Pferden wieder zurückkehren – sie und Jörgen.«

»Aber lieber Jäger, was soll sie denn da oben?«

»Sie kann auf der Grönelidstrift übernachten.«

»Ein so anstrengender Ausflug! – Da, wo du hingehst, ist es ja überall so unwegsam und wild.«

»Sie kann zu Pferde bis weit hinter die Trift kommen. Der Rappe geht unter ihr und dem Packsattel so ruhig, wie ein Pastor über Berg und Moor. Ich selbst reite den Fuchs.« Er war bei dem Gedanken, seine Lieblingstochter mit sich zu nehmen, ganz hitzig geworden. »Ja, gewiß, Kind, du gehst mit!« rief er ihr zu. »Du mußt uns einen guten Eßkorb voll packen, Ma,« fuhr er zu seiner Frau gewandt fort. »Punkt fünf morgen früh müssen wir aufbrechen. Tronberg trifft uns mit seinem Pferde weiter oben, und dann wird wohl auch schon Rat werden, daß Sie auch reiten können, Grip.«


Braun gebrannt im Nacken, rot und schweißtriefend im Gesicht und in Hemdärmeln kletterte der Hauptmann die Bergabfälle hinan, die unter dem Torsknut liegen.

Zuerst kamen die Packpferde mit Inger-Johanna und dem Gepäck. Daneben gingen einige Bauern und erklärten eifrig die Grenzzeichen und -steine, wenn die kleine Gesellschaft hielt und der Hauptmann eine Linie vorläufig aufnehmen wollte.

Die Reisenden hatten auf der Grönelidstrift übernachtet, waren aber seit fünf Uhr in der Flur mit Vermessungen beschäftigt. Jetzt arbeiteten sie sich durch das Weidengestrüpp flacher Berghalden, wobei die Pferde wieder und wieder die Krümmungen desselben Baches durchwaten mußten.

So erreichten sie nach einem steilen Aufstieg den Platz, wo der Unteroffizier Tronberg, den sie schon unten zwischen den Vorbergen gesehen hatten, zu ihnen stoßen sollte, und machten Halt, um ihn zu erwarten. Der Hauptmann zog das Fernrohr hervor, sah einen Augenblick flüchtig nach den blendenden Eisfeldern hinüber und richtete es sodann tiefer und tiefer.

»Das müssen die Leute von Rognelid sein, das, was sich da unten im Westen der Höhe von Bräkstad bewegt. Was?«

Die Leute, die er anredete, brauchten nur ihre Augen zu beschatten, um darüber ins reine zu kommen, daß das die Gegenpartei war, mit der sie morgen am Tiskebach zusammentreffen sollten, aber sie waren schlau genug, das nur durch ein bewunderndes: »Nein, aber was für ein Fernglas der Herr Hauptmann hat!« auszusprechen,

»Haben Sie gefischt, Tronberg?« rief er, als der Kopf von des Unteroffiziers »Grauem« sich nickend auf dem steilen Fußpfade zeigte. »Forellen? ... Heute morgen gefangen?«

»Jawohl, heute morgen, Herr Hauptmann,« antwortete Tronberg, indem er dem Hauptmann die Fische hinreichte, und dieser sah ihnen in den Rachen.

»Ja, die sind von heute,« sprach er zufrieden, während der Unteroffizier seine Mütze abnahm und sich Stirn und Kopf trocknete. »Die Fische hätte man da unten an den Felswänden im ganzen Thalkessel gleich braten können,« versicherte Tronberg dabei.

»Feine Fische. Sehen Sie nur den mal an, Grip, der wiegt sicher seine drei Pfund.«

»Herrje! Ist das Fräulein auch hier?« rief der Unteroffizier aus, nahm unwillkürlich eine strammere Haltung an und grüßte militärisch, als Inger-Johanna ihr Pferd zu ihm hinlenkte und die glänzenden, rotgetupften Fische betrachtete, die an des Unteroffiziers Sattel hingen. Der alte Lars Opidalen, auf dessen Antrag die Katasterberichtigung vorgenommen wurde, trat zu ihr und strich mit seiner rauhen Hand über die ihre, während er die an einer Weidenrute aufgeschnürten Forellen zählte.

»Und das soll Staub und Erde sein!« sprach er voll Bewunderung.

»Hilf dem Fräulein aus dem Sattel, Lars, hier ist's nicht ratsam für sie, zu reiten? es wird zu gefährlich glatt.«

Der Weg zog sich steiler und steiler bergan; nur zuweilen kamen flache, moorige Strecken, und manchmal verlor er sich ganz im Steingeröll.

Ueber ihnen ertönte der wilde Schrei eines Fischadlers. Kreischend zog er seine Kreise, und als Jörgen ihn anrief, flog er davon. Wahrscheinlich hatte er seinen Horst da oben an der Bergwand. Die Schrotflinte des Hauptmanns wurde hervorgeholt, und Tronberg schickte sich an, seine Schießkunst zu versuchen, allein der Adler kam nicht wieder in Schußweite. O, wer jetzt zwischen den Felsblöcken da oben hätte liegen und ihm auflauern können!

Jetzt kreiste der Adler mit ausgebreiteten Schwingen wieder in ihrer Nähe. Plötzlich krachte ein Schuß, und dann folgten einige heftige, klatschende Flügelschläge: der Adler wehrte sich gegen das Niedersinken.

Der Schuß war durch eine Schwinge gegangen, man sah das Tageslicht durch ein Loch in den Federn schimmern, und es wurde dem Vogel augenscheinlich schwer, sich im Gleichgewicht zu halten.

»Pfui! Er ist angeschossen!« rief Inger-Johanna.

»Wer hat denn eigentlich geschossen?« fragte der Hauptmann ganz verblüfft.

»Jörgen ist mit einer Büchse fortgelaufen,« bemerkte Tronberg.

»Jörgen? Er will mir doch nicht weis machen, daß das sein erster Schuß war? Die Kanaille! Na, diesmal hat er sich von den Hieben, die er eigentlich verdient hätte, freigeschossen – das war, meiner Seele, ein guter Schuß. Der Schlingel! Ich habe ihm aufs strengste verboten, ein Gewehr anzurühren.«

»Verboten! O ja,« murmelte Grip. »Ist das nicht sonderbar, Fräulein Inger-Johanna? Gerade in dem, was uns verboten ist, werden wir merkwürdigerweise gewöhnlich am tüchtigsten. Alle diese Verbote fördern durch ihre Uebertretung unsre Erziehung am meisten. Das führt beim Heranwachsen zu Spitzbubenstreichen, und die hinterlassen ihre Spuren, sie machen helle Köpfe und schlechte Charaktere! – Sehen Sie nur alle diese krummen, verdrehten Zaubergestalten ... man kann wohl sagen, daß das Leben hier wirklich versteinert ist ... und doch quillt es überall auf,« fuhr er stehen bleibend fort. »Wissen Sie auch, wozu ich wohl Lust hätte, Fräulein Inger-Johanna?«

Keine Spur des ironischen Zuges, der gewöhnlich in seinem Gesicht lag, war noch zu bemerken.

»Ganz einfacher Schulmeister möchte ich werden! ... Die Kinder lehren, die beiden ersten Stäbchen mit ihren eigenen schlichten Gedanken kreuzweise zu legen...das sind die Grundlagen, die uns treu bleiben. Man sollte sie lehren, genau so viel und so wenig zu glauben und zu begreifen, als sie wirklich in sich aufnehmen können. Und dann zur Thür hinaus mit all diesen Heerscharen von beliebten sogenannten schützenden Verboten! Ich würde mich darauf beschränken, ihnen die Folgen zu zeigen: Pulver und Streichhölzer vor ihren Augen untereinander mischen, bis es sich entzündete, und dann sagen: ,Sei so gut, Jörgen. Meinetwegen kannst du mit diesen beiden Dingen in der Tasche so viel umherlaufen, als du willst. Du selbst wirst in die Luft fliegen, nicht ich.' Das Gefühl der Verantwortung, das ist es, was mir in der heranwachsenden Jugend wecken müssen, wenn wir sie zu tüchtigen Menschen erziehen sollen.«

»Sie haben furchtbar viele Ideen, Grip.«

»Sie meinen fixe? Hätte ich nur etwas Anlage zu schriftstellerischer Thätigkeit, aber ich bin wie auf den Mund geschlagen. ...Sehen Sie, hier gibt es nur vier Pforten, und die heißen: Theologie, Philologie, Medizin und Rechtswissenschaft, und ich habe vorläufig an der letzten angeklopft. Was ich da will, das weiß ich eigentlich selbst nicht! ... Haben Sie 'mal von der Katze gehört, Fräulein, die sie in eine Glaskugel gesetzt hatten, aus der sie nachher die Luft auspumpten? Sie merkte, daß etwas Unangenehmes vorging, daß sie nicht atmen konnte und daß die Luft dünner und dünner wurde, und da setzte sie mit einemmal die Pfote aufs Luftloch ...Ich werde mir ebenfalls erlauben, die Pfote aufs Luftloch zu setzen, denn hier ist auch ein luftleerer Raum. Nicht oben in den Wolken bei den Dichtern, bewahre! Da blitzt und leuchtet es, und sie schreiben, um für das Volk und die Freiheit und alles, was erhaben und groß ist, in so vielen Richtungen zu wirken, als Striche auf dem Kompaß sind. Aber in der Wirklichkeit hier unten auf Erden...für einen Prosaiker, der nun einmal wenig auf Redensarten gibt, für den ist jeder Weg versperrt! Für unsre besten Gedanken hat die praktische Welt keine Verwendung, sage ich Ihnen, Fräulein, nicht einmal so viel, daß ein Mann genug davon von sich geben kann, sich unglücklich zu machen ... und so lebt man denn, so gut man kann ... das andre Leben mit den Kameraden und betäubt sich mit ihnen in Punsch jedesmal, wenn man draußen in den Theegesellschaften seine Sache brav verleugnet hat....Nun aber diese Luft! Jeder unendliche Atemzug wie ein Glas des feinsten ...feinsten ...ja, was soll ich doch gleich sagen?«

»Punsch,« schlug Inger-Johanna ziemlich kurz vor.

»Nein, Leben! ... Mit der freien Natur zu streiten, fühlt man sich nicht geneigt. Ich bin einig mit den Bergen, mit der Sonne, mit all diesen krummen, verrenkten Birkenzweigen.... Wenn sich die Leute da unten nur so geben wollten, wie sie sind, aber das thun sie nie, außer bei einem guten, tüchtigen Gelage, wenn sie tief in den Brunnen getaucht sind und sich in hinlänglich gehobene Stimmung versetzt haben. Es gibt eine ganze Freimaurerschaft von Leuten, die einander nur in diesem Zustande kennen.... Oder auch in Westermanns Dampfbad, wenn uns Westermann bei dreißig Grad Hitze mit frischen Birkenreisern peitschte! Die Badestuben dienten unsern Vorfahren als nationale Klubs, wissen Sie, Fräulein ...«

»Nein, ich kriege heute wirklich absonderliche Dinge zu hören, wie mich dünkt,« antwortete sie mit unterdrückter Heiterkeit.

»Horcht! ... Horcht! ... Da schlägt die Rohrdommel!« flüsterte Jörgen.

Der Ton kam aus einer kleinen sumpfigen Niederung, über der der weiße Moornebel lag, und sie blieben stehen und lauschten,

»Haben Sie jemals eine solche überwältigende Stille wahrgenommen,« fragte Grip, »wie nach dem vereinzelten dünnen Pfeifen?... Ein solches Piepsen hört man auch hier und da im Lande....Abel ist tot! Woran ist er gestorben? Am Trunk, sagen die Leute.« Er schüttelte den Kopf. »Am luftleeren Raum, behaupte ich!«

»Hier sehen der Herr Hauptmann die Linie, die von alters her für Opidalen gegolten hat,« rief der alte Lars, »dicht, dicht an der Schlucht entlang, wo wir hinunter und quer über das Wasser müssen ... gerade auf Rödkamp am Torsknut los, da, wo Sie die drei grünen Holme zwischen dem Steingeröll sehen, Herr Hauptmann,« in seinem Eifer drohte er mit dem Stocke, »dafür kann ich Zeugen schaffen.«

Der Nachmittagsschatten fiel in die Schlucht, wo das Eiswasser aus den Spalten der schwarzen Bergwand sickerte. Hier und da schien die Sonne noch auf mit gelbem Renntiermoos bewachsene Stellen oder kleine Gruppen von violetten, weißen und gelben Hochgebirgsblumen, die das Wunder vollbrachten, hier oben unter dem Schnee ihr eigenes, farbenfrohes Leben zu leben.

»Dort kommt Mathis mit dem Kahn,« rief der alte Lars.

Das Boot, das sie zu dem seinem Sohne gehörigen Weideplatze bringen sollte, kroch da unten in der Tiefe wie ein Insekt auf der grünen Wasserfläche, aber das Herabsteigen war eine wahre Erquickung für den etwas beleibten, mit Atmungsbeschwerden kämpfenden Hauptmann, und die Aussicht auf seinen Lieblingssport, den Fischfang, trug ebenfalls dazu bei, seine Stimmung zu heben.

»Wir kommen gerade zur rechten Zeit hinunter, wenn sie am besten beißen,« meinte er.

Als sie sich in den vierkantigen Trog einschifften, der unten an der Fischerbude wartete, hielt er die Angelschnur bereit, für deren Ausrüstung mit Ködern er mit großer Umsicht gesorgt hatte. Das Gefolge, das keinen Raum im Boote fand, mußte mit den Pferden um den See herumwandern, und man konnte sie vom Wasser aus dann und wann auf einige Augenblicke zwischen den Uferhöhen sehen.

»Was hältst du von einer kleinen Schleppangel im Schatten dem Ufer entlang, Mathis? Meinst du nicht, daß sie dort schärfer auf den Köder gehen werden? Wir wollen doch nicht so geradeswegs hinüberrudern,« sprach der Hauptmann vergnügt.

Unter der Ruderbank lag Mathis' eigene Angelschnur, und nun wollte auch Inger-Johanna ihr Glück versuchen. Ihr Vater befestigte ihr einen Köder am Haken, aber sie wollte sich nichts sagen lassen, und ohne zu warten, bis sie an eine günstige Stelle kamen, warf sie ihre Schnur sofort aus, ließ sie hinter dem Boote hertreiben und zog sie während des Ruderns ab und zu gewandt auf.

»Seht nur den Griff!« rief der Hauptmann, »das steckt ihr im Blute ... Du stammst auch eigentlich aus einem Fischergeschlecht, denn ich und mein Vater, wir sind in der Gegend von Bergen aufgewachsen. Hätte ich nur einen Thaler für jeden Dorsch, den ich aus dem Wasser gezogen habe, dann wärst du eine Erbin ... Was? Was?«

Man hörte ein Plätschern im Kielwasser, und Inger-Johanna fühlte ein heftiges Zucken. Einen Augenblick zeigte sich ein gelber Fischbauch im Sonnenschein auf der Wasserfläche, und Inger-Johanna versuchte nun nach dem ersten fieberhaften Ruck, die Schnur in halb aufgerichteter Stellung langsam einzuziehen.

»Der erste Fisch, den ich in meinem Leben gefangen habe!« rief sie jubelnd aus, wahrend sie das glänzende Geschöpf über den Rand des Bootes hob. »Dann soll er auch am Leben bleiben!« rief Grip, löste den Fisch von der Angel und schleuderte ihn weit in den See hinaus.

Mit einem heftigen Ruck seiner gewichtigen Person fuhr der Hauptmann in die Höhe, so daß es rings ums Boot plätscherte, so sehr geriet es ins Schwanken, allein daß das unzeitgemäße Opfer der Tiefe zu Ehren seines Augapfels dargebracht worden war, ließ die Dummheit in milderem Lichte erscheinen, und er blieb guter Laune. Bald nachher näherten sie sich den Uferhöhen, in deren Schatten er seine Angel auswarf. Dabei fing er plötzlich an, eine Weise, die viele Jahre in ihm geschlummert hatte und nun mit der Erinnerung an seine Kindheit in der Gegend von Bergen wieder erwacht war, zu singen, so daß sein in der lautlosen Stille tiefer und klangvoller Baß den Widerhall der Ufer erweckte. Glatt und blank lag der See ringsum, und der Hauptmann zog eine Forelle nach der andern heraus.

Die steilen grünen Matten mit all dem grasenden Vieh spiegelten sich so klar im Wasser, daß man die Hörner zählen konnte.

»Ja, ja, hier laufen die Kühe wie die Fliegen an den Wänden in die Höhe,« sprach der Hauptmann. »Schlüpft ihnen da oben eine Melkbütte aus der Hand, dann rollt sie zu uns ins Boot herab.«

Mehr Hausraum, als die kleine Erdhütte zwischen den Felsblöcken und ein halbverfallener Holzschuppen mit einem großen Feldstein auf dem Dache und einem Lichtloche boten, war freilich nicht vorhanden. Dort sollten der Hauptmann und Inger-Johanna bis Sonnenaufgang schlafen, um dann mit Jörgen, Stor-Ola und dem Rappen die Heimreise anzutreten. Sie hatten zu Abend gespeist und sahen nun, wie die Sonne hinter den hohen Bergen im Westen versank. Der Hauptmann wanderte in Pantoffeln und aufgeknöpftem Uniformrock draußen auf der Matte auf und ab und rauchte seine Pfeife mit dem äußersten Wohlbehagen. Ab und zu blieb er stehen und sah, wie die Strahlen der untergehenden Sonne die fernen Bergspitzen vergoldeten.

Jörgen lag mit seines Vaters langem Fernrohr hinter einem Felsblock und suchte nach Renntieren auf den Schneeflächen.

»Leben Sie wohl, Fräulein Inger-Johanna,« sprach Grip. »Ich gehe noch diese Nacht mit einem von den Leuten übers Gebirge. Hier sind mehr Menschen, als die Herberge aufnehmen kann. – Aber lassen Sie mich Ihnen zuvor sagen,« fuhr er leiser fort, »daß dieser Tag offenherziger Aussprache im Hochlande einer der wenigen in meinem Leben gewesen ist ... wo ich nicht einmal das Bedürfnis gefühlt habe, einen einzigen schnöden, erbärmlichen Witz zu machen ... und nicht vor mir selbst auszuspucken ...« fügte er bitter hinzu. »In dieser Gestalt ... genau so, wie Sie dastehen, so schön, so schlank, so übermütig unter dem großen Strohhut, werde ich Sie in meiner Erinnerung bewahren, bis wir uns in der Stadt wiedersehen.«

»Bis zur Svartdalsbude sind gut fünfviertel Meilen,« unterbrach ihn der Hauptmann, als er nun Abschied nahm. »Sie sind uns allezeit in Gilje willkommen, Grip!« –

Beständig rückwärts grüßend, hatte er schon ein gutes Stück des steilen Aufstiegs zum Torsknut erklommen.

»Hat nicht den Anschein, als ob er etwas von Müdigkeit wüßte, der Bursche,« meinte der Hauptmann.

Auch sie stand da und sah ihm nach ... der letzte Sonnenschein erfüllte die klare, spiegelnde Abendluft mit einem matten goldigen Schimmer ... und ein warmes Leben erstrahlte in ihrem Antlitz ...


Am Morgen nach ihrer Rückkehr befanden sich Ma und Inger-Johanna zusammen im Garten und pflückten Zuckererbsen fürs Mittagessen.

»Nur die reifsten, Inger-Johanna, die, die bis zu des Vaters Heimkehr zu hart und trocken werden würden. – Was wird nur die Tante sagen, wenn sie hört, daß mir dich mit Vater so tief ins wilde Hochland haben reisen lassen? ... Sie wird einen solchen Ausflug gewiß nicht einladend finden oder zu fassen vermögen, daß du so gesprächig über Steine und Felsen werden kannst.«

»Nein, ihrer Ansicht nach läßt sich nichts mit ihrem Tilderöd vergleichen,« erwiderte Inger-Johanna lachend.

»Reich mir 'mal deinen Teller her, ich will ihn in den Korb ausschütten,« sprach Ma. »Also Tante schreibt, Rönnow werde den ganzen Winter in Paris bleiben?«

»Rönnow? Ja. ... Aber ich freue mich sehr darauf, ihr diesen Winter Gedekes ›Schilderungen aus der Schweiz‹ vorzulesen ... dabei kann ich ihr kleine Gaben von meinem Ausflug in unser Hochland verabreichen.«

»Da sprichst du wieder einmal ohne Nachdenken, Inger-Johanna. Es bleibt immer ein großer Unterschied zwischen dem, was im Bereich der Civilisation liegt, und den öden, wilden Gegenden hier oben in unsern Bergen.«

Mas mit einem großen Sonnenhut bedecktes Haupt beugte sich zwischen die Erbsenreiser. »Vater sagt, es sei gewiß, daß Rönnow an den Hof von Stockholm versetzt werden solle, und er sei nach Paris gegangen, um sich im Französischen zu vervollkommnen.«

»Ja, aus dem wird gewiß noch etwas Großes. ... Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie traulich und gemütlich es ist, wenn Tante und ich abends allein sind und ich vorlese.«

Mas großer blaugetupfter Sonnenhut erhob sich. Mit dem Tischmesser in der Hand reichte sie ihrer Tochter den geleerten Teller zurück. »Dann hat er gewiß das Wesen, das für eine höhere Stellung paßt.«

»O, vollkommen, vollendet ... aber ich weiß nicht, wie das ist: er ist gar nicht dazu gemacht, daß man hier auf dem Lande an ihn denken kann.«

Ma stand eine kleine Weile mit dem Messer in der Hand da, ohne sich zu regen.

»Nun haben wir wohl genug,« sagte sie endlich und nahm den Korb etwas schwerfällig auf. »Die Erbsen sind in diesem Jahre nichts Rechtes,« seufzte sie.


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