Bernt Lie
In Knut Arnebergs Haus
Bernt Lie

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II.

Das Laugthing in Bergen zog sich eine Woche über die gewohnte Zeit hinaus. Um nicht noch ein paar Tage auf den Dampfer warten zu müssen, entschloß Drost Finne sich, den freilich recht beschwerlichen Landweg nach seinem Fjord zu wählen. Er hatte großes Verlangen, nach Hause zu kommen.

Und so kam es denn, daß der Drost ganz unerwartet eines Nachmittags vor der Kontorthür hielt und zehn Minuten später unbemerkt im Gartenzimmer stand und durch die geschlossene Thür Karen Ragnhilds neuen Leseklub belauschte.

Eine scharfe, laute Mädchenstimme klang heftig und gellend, und der Drost erkannte zu seiner großen Verwunderung des Pfarrers stille Tochter an der Stimme.

Gedämpfter, aber nicht weniger leidenschaftlich antwortete eine andere Stimme – ein mehrstimmiges Murmeln – und die scharfe, dünne Stimme gellte von neuem, die andere übertönend wie eine dünne Klinge, die in langen, pfeifenden Schlägen die Luft durchsaust.

Wieder die gedämpfte Stimme – wieder die Säbelklinge – durcheinander, übereinander hitzig und hastig – das Murmeln der anderen – ein einzelnes Wort: der Kinderglaube! der Kinderglaube! fuhr vernehmlich hin und her gleich den schnellen Aufschlägen entsprühenden Funken. – Der Kinderglaube. – – – –

Der Drost stand eine Weile da, dann beschloß er zu gehen und wiederzukommen, wenn der Kampf sich gelegt hatte – –

»Zum Kuckuck mit dem Kinderglauben!« ertönte die Klinge.

Plötzlich wurde die Thür aufgerissen, und ein aufgeregtes, verweintes Mädchen stürzte heraus; ihr nach klangen gleich einer erlösten Lawine die klaren Worte der Säbelklinge durch die Thüröffnung:

»Und deswegen will ich auch, daß meine Kinder ohne die geringste Spur einer Ahnung oder eines Gedankens von diesem Kinderglauben aufwachsen sollen!«

Plötzlich trat Totenstille ein.

Der Drost stand mitten in der Thür und sah zu dem halbaufgelösten Kollegium hinein. Dann wandte er sich nach Milla Baarstad um, die an ihm vorüber hinausgestürzt war und bei seinem Anblick den letzten Todesstoß erhalten hatte. – –

»Aber Vater!«

»Entschuldigen Sie, meine Damen, daß ich den Frieden des Things störe!« Die jungen Mädchen hatten sich erhoben, – noch röter als während der hitzigen Diskussion. Es waren ganz fremde Gesichter – diese großen Augen, diese erhitzte Hautfarbe, glühend erregt jede auf ihre Weise, und eine jede jetzt eifrig bemüht, dem Drost gegenüber das gewöhnliche Gesicht aufzusetzen.

Alle mit Ausnahme von Anne Sofie Oppegaarden, die groß und bauernruhig dastand und aussah, als sei sie das Kindermädchen der ganzen übrigen Schar.

Des Pfarrers Maria aber war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen vor Entsetzen, daß jemand gehört hatte. – –

Hanna Baarstad lugte verzweifelt über den offenbaren Skandal der Schwester aus der Thür, und Marthe Ingebretsen, die etwas ältere Tochter des Küsters, stand da und zupfte an ihrer zu kurzen Kleidertaille.

»Hier ist wohl ein Collegium politicum!« sagte der Drost und reichte Karen Ragnhild die Hand. – »Ich will aber nicht stören! wollte dir nur meine Ankunft melden, mein Herz. Über Land, wie du siehst. Ich werde schon mit Guro fertig. In einer halben Stunde, wenn ich die Kleider gewechselt habe, kann ich wohl eine Tasse Thee mit euch trinken. Bleib du nur sitzen, mein Kind!«

Grüßend winkte er mit der Hand und verschwand.

Als er eine halbe Stunde später zurückkam, saßen sie alle – auch Milla Baarstad – fein säuberlich mit ihren Landarbeiten um den gedeckten Theetisch. Er begrüßte jede Einzelne, nahm die Grüße »von Vater und Mutter« in Empfang und trank seine Tasse Thee mit ihnen. Sowohl Millas unbeschreibliches Schamgefühl als Marias wildes Entsetzen – denn darüber waren sie alle einig, daß der Drost ihre ganze Tirade durch die Thür gehört haben mußte – schwanden wie böse Nebel vor der Sonne bei seiner liebenswürdigen Unterhaltung. Er erzählte vom Laugthing – und gab schließlich eine ganze Gerichtssitzung aus Frankreich zum besten. Von einer stolzen, resoluten Mutter, die den Anbeter ihrer Tochter erschossen, weil sie wußte, daß er ein Schlingel war, der es nur auf ihr Geld und Gut abgesehen hatte, – die ihn mit der Flinte ihres verstorbenen Mannes erschoß, mit der dieser – in der allerberedtetsten Wiedergabe des Drosts – Frankreichs Feinde im Koalitionskriege getötet hatte. – –

Die französische Jury hatte die Mutter freigesprochen. Und nun unterbreitete der Drost das gerichtliche Urteil einer Diskussion der Mädchen. Als diese im lebhaftesten, eifrigen Gange war, erschreckte Anne Sofie die Freundinnen, indem sie mit heftiger, kategorischer Geradheit erklärte, ihrer Ansicht nach habe niemand das Recht, einen Menschen mit der Flinte zu erschießen – außer im Kriege!

Und gerade diese, Anne Sofiens peinliche, dumme Bemerkung schien den Drost in hohem Grade zu interessieren, er charakterisierte sie als ungewöhnlich klare Form einer sehr beliebten kriminalistischen Theorie. – –

Und der Nachmittag verging, bis sie gegen Abend eine nach der anderen ihren Knix machten und verschwanden.

Der Drost geleitete sie bis auf die Veranda hinaus und nahm dort einen erneuten Dank und Abschiedsgruß in Empfang. Er lächelte ihnen nach: wie sie strahlten! Milla Baarstad würde ihr Leben für ihn lassen, – und des Pfarrers Maria ginge mit Freuden für ihn durchs Feuer!

Arm in Arm gingen sie die lange Allee hinab – Karen Ragnhild in der Mitte – bis an die Gartenpforte.

Da unten ein längeres Abschiednehmen – und Karen Ragnhild kam zurück. Die Sonnenstrahlen fielen schräge durch die Birken und Linden der Allee; der Fjord dahinter und die Berge am Horizont lagen in Gold und Blau getaucht da. Karen Ragnhild schritt schnell und fröhlich über Schatten und Sonne des Weges dahin, – über Schatten und Sonne; das kornblumenblaue Kleid umflatterte sie und hob sich von dem grünen Blätterwerk ab. Als sie den Vater noch immer auf der Veranda stehen sah, lachte sie zu ihm hinauf und nahm die Treppe mit ein paar Sätzen.

Bald hing sie an seinem Arm.

»Ach, Vater, wie entzückend du bist! Tausend, tausend Dank! Du glaubst nicht, wie begeistert sie waren! Übrigens willkommen daheim!

»Danke, mein Kind! Mein liebes, liebes Herz!«

Er strich ihr über das Haar und blieb einen Augenblick regungslos stehen.

»Mein liebes, liebes Herz!«

Dann gab er sie frei.

»Aber jetzt komm' herein! Ich habe dir ja etwas zu zeigen! Aus der großen Stadt.«

Er führte sie hinauf, in ihr eigenes Zimmer. Mitten an der Erde standen zwei feine Koffer. Ein großer mit blankem Schloß und Messingbeschlag, ein kleinerer, sehr eleganter Handkoffer aus Juchtenleder.

»Was sagst du zu den beiden? Sieh sie nur einmal genau an: die Zettel mit der Adresse!«

Auf den Zetteln stand mit des Drosts eigener Hand:

»Frl. K. R. Finne. Adr.: Maler Knut Arneberg. Kristiania.«

»Aber Vater!« Karen Ragnhild lag auf den Knieen neben den Koffern.

Der Drost nickte ihr lächelnd zu.

»Sind – die – für mich?«

Der Drost nickte abermals.

»Aber –«

»Wenn Mahomed nicht zum Berge kommt, muß der Berg wohl zum Propheten kommen! Wenn Bergliot und Knut nicht zu dir kommen, mußt du wohl zu ihnen kommen. Nicht wahr, mein Herz?«

»Aber – aber du selber, Vater?«

»Ich, – ich bleibe daheim und wahre die Interessen des Reiches.«

Karen Ragnhild setzte sich auf den großen Koffer und breitete die Handflächen auf dem Deckel aus; sinnend und bekümmert senkte sie den Kopf.

»Nun, Frl. K. R. Finne! Sind dir die Reiseutensilien vielleicht nicht fein genug?«

»Ach, Vater!« lächelte sie traurig, – »es ist nur so unrecht, daß du etwas so schönes für mich gekauft hast!«

»Vielleicht setzest du dich ungern den Strapazen einer solchen Reise aus?«

»Ach, Vater! wie kannst du nur so etwas sagen!«

Der Drost stand ganz verwundert und schließlich auch ein wenig ungeduldig da:

»Aber in Gottes Namen, Kind! Ich glaubte dir eine Freude zu machen!«

Sie wollte antworten, machte einige verzweifelte Versuche und brach dann in Thränen aus.

Nachdenklich nahm der Drost einen Stuhl und setzte sich zu ihr hin, legte seine Hand auf die ihre und fragte leise, beruhigend:

»Was hast du nur einmal, mein Herz? Sag' es mir doch, dann wollen wir uns die Sache zusammen ansehen, du und ich!«

»Ja, Vater, siehst du, die Sache ist die, daß ich – ich kann wirklich nicht reisen, du!«

»Du kannst nicht reisen?«

»Erstens würde es ja unrecht gegen dich sein, Vater. Denk' nur, wenn du den ganzen Sommer allein sein solltest!«

»Über diese Seite der Sache müßte ich wohl im Grunde weinen, – nicht wahr, Karen Ragnhild?«

Sie lächelte.

»Und wenn dein alter, vernünftiger Vater den Entschluß gefaßt hat, allein hier auszuhalten – ohne sein kleines, liebes Herz – so kannst du dir die Sorge um ihn getrost aus dem Sinn schlagen.«

»Ja, aber – Vater – –«

Einmal mußt du ja doch reisen, Kind! du kannst doch nicht dein ganzes junges Leben hier bleiben! Wie?«

»Das kann ich sehr wohl, Vater!«

»Ja, ja, das weiß ich. Du weißt ja, was du Sr. Majestät dem König antwortetest, als du fünf Jahre alt warst und er dich unten an der Brücke fragte, mit wem du dich verheiraten wolltest!«

»Dasselbe würde ich noch heute antworten, Vater!« Karen Ragnhild lächelte durch ihre Thränen.

»Ja, ich danke dir, mein Herz, das ist sehr freundlich von dir. Aber erstens widerstreitet es den Gesetzen dieses Landes, sich mit seinem Vater zu verheiraten, und zweitens habe ich ja gar nicht um dich angehalten. Im Gegenteil! Jetzt schicke ich dich sogar fort. Deine weibliche Ehre erlaubt es dir ganz einfach nicht, daß du dich so offenbar an mich festklammerst! Wie?«

Karen Ragnhild mußte lachen. Bald aber saß sie wieder ernsthaft da.

»Ja, Vater! Aber dann ist da noch so vieles andere. Wenn ich es dir nur alles gesagt hätte, ehe du auf die Reise gingst. Dann hättest du es gewußt, und dann hättest du diese schönen Koffer nicht gekauft. Es ist so dumm, – so dumm!«

Sie saß eine Weile in tiefem, ernstem Sinnen da.

»Ist es eine lange Geschichte, Karen Ragnhild?« fragte er vorsichtig.

»Ach ja, eine ziemlich lange, Vater!«

»Gut, mein Herz, dann wollen wir uns einen Hut aufsetzen und in den Garten hinab gehen. Da macht sich das leichter.«

Auf der Treppe begegneten sie Guro, die meldete, daß angerichtet sei. Die Herren vom Bureau wären bereits da.

»Laß sie nur essen, Guro! Grüße sie und sage ihnen, ich sei beschäftigt. Und dann, Guro, könntest du wohl in einer Stunde – wir können wohl eine Stunde sagen, Karen Ragnhild?«

Karen Ragnhild nickte errötend.

»In einer Stunde also – ein recht schönes Beefsteak oder etwas anderes gutes Warmes bereit haben? Ich hab' mich den ganzen Tag auf dem Kariol durchrütteln lassen, weißt du –«

Sie durchwanderten den großen Garten der Landdrostei die Kreuz und die Quere, durch die Allee und die Seitengänge hin und her.

Der Drost hörte mit seinem allertiefsten Ernst Karen Ragnhilds Beichte an, bis zu der Geschichte mit Svendsen, mit dem sie sich im vorigen Jahre beinahe verlobt hatte! Und schließlich alle die neuen Pläne, deren Durchführung ihr eine absolute innere Notwendigkeit war, und die sie ja auch zugleich hinderten, jetzt zu reisen und alles im Stich zu lassen, – um sich bei Knut und Bergliot zu amüsieren! Jeder Gedanke an Ernst und Buße verschwand ja mit einer solchen Reise!

Der Drost ging schweigend neben ihr her. Nur wenn der Bericht von Zeit zu Zeit ins Stocken geriet, – entweder ertränkt in Karen Ragnhild Gemütsbewegung, ihrer Reue und ihrem Kummer, oder wenn sie den Faden bei besonders verwickelten Auseinandersetzungen äußerer oder innerer Komplikationen verlor, – half er ihr weiter mit einem orientierenden Wort, einer Frage, die auf den Ausgangspunkt zurückführte, und die sie gleichzeitig ermunterte, indem sie ihr Kunde von seiner angestrengten Aufmerksamkeit gab.

So stand man am Ende des engen Fliederganges vor der Lusthausrotunde und war fertig. Karen Ragnhild forschte in ihrer Erinnerung, fand aber keinen unbeleuchteten Winkel ihres Gewissens. Alles war gesagt.

Die Abendsonne lag niedrig und dunkelblank über den Fliederbäumen und auf ihrem ernsten, bleichen Gesicht. Sie waren an der Rotunde stehen geblieben, es war hier so geräumig und doch so ganz abgeschlossen; und der Fliederduft war jetzt in der Abendstunde, so stark, feucht und frisch.

»Ist da nun gar nichts mehr, Karen Ragnhild?«

»Nein, Vater. Wenn du mich nur richtig verstanden hast, dann – ja, dann ist da nichts mehr.«

Sie sah ihn, wie sie das während ihrer langen Rede so oft gethan hatte, ein wenig ängstlich forschend an. Ob er sie nun wohl auch wirklich so ganz verstand? die ganze Tragweite? Denn er sagte ja nichts und sah ja so aus, als wenn ihm nichts überraschend käme – – nicht einmal die Geschichte mit Svendsen.

Der Drost sah ihr ruhig in die Augen und nickte:

»Ja, meine liebe Karen Ragnhild, ich habe dich ganz verstanden.«

Sie sandte ihm einen warmen, dankbaren Blick zu:

»Und nicht wahr, Vater, da meinst du so wie ich, daß ich nicht reisen kann – ?«

Sie wandte sich an ihn mit einer Mischung von flehender Verzweiflung und stolzer Freude, weil er sie verstanden hatte. Der Drost blieb einen Augenblick stehen und sah zu der Sonne hinüber und dachte nach. Wie er sich so fast ganz von ihr abwandte, blitzte in seinen Augen eine versteckte Heiterkeit auf; um seine Mundwinkel zitterte es sogar ein wenig. So hielt er sich eine Weile von ihr abgewandt. Dann wandte er sich ihr mit ernstem Gesicht wieder zu. Er ergriff ihre Hand, legte ihren Arm in den seinen und ging mit ihr weiter.

»Glaube mir, mein Herz, alles was du mir gesagt hast, habe ich mit der größten Achtung vor dir angehört. Ich finde, das Ganze ist klar und tüchtig gedacht, und deine Entschlüsse sind aller Ehren wert. Steht es so mit dir, wie du sagst, empfindest du dies tiefe Gefühl der Schuld, die gesühnt werden muß, dann hast du die Sache mutig und ganz richtig angefaßt. Ich habe dich deswegen lieb, Kind. Ich habe dich sehr lieb!«

Sie umarmte ihn heftig. Er strich ihr über das Haar, und dann gingen sie weiter.

»Ich bin mir auch klar darüber, daß du nicht reisen dürftest, – – wenn es sich nur um dein Vergnügen handelte.«

Er dachte eine Weile nach, ehe er fortfuhr:

»Aber siehst du, Karen Ragnhild, das war nun im Grunde nicht meine ausschließliche Absicht. Ich wollte dir dies eigentlich nicht so gerade heraus sagen. Das, was nur eine vage Vermutung, ein ganz unbestimmter Gedanke ist, erhält leicht einen zu schwerwiegenden, zu bestimmten Charakter, wenn man es in Worte kleidet, die in der Regel viel zu plump, viel zu präzise dazu sind. Du wirst verständig genug sein, um das, was ich jetzt sage, anzuhören, ohne mehr daraus zu machen, als es ist. Nicht wahr?«

Karen Ragnhild sah ihn verwundert an und nickte.

»Ich befinde mich nicht ganz wohl hierbei, mein Herz. Daß ich nämlich deine Schwester Bergliot nun doch nicht sehen soll. Mit meinen eigenen Augen. Daß ich sie nicht so sehen soll, wie das Leben und ihre jetzigen Verhältnisse sie in diesen fünf Jahren geformt haben. Das ist eine Entbehrung für mich – und eine gewisse Unruhe. Das wird meine liebe Karen Ragnhild wohl auch verstehen können, wenn du dir die Sache überlegst. Ich habe ja niemand weiter, – nichts weiter – als meine beiden kleinen Mädchen. Daß sie sich im Laufe der Zeit verheiraten, darin muß ich mich ja finden. Aber so ganz beiseite geschoben zu werden – das wird mir schwer! –

»Die einfachste Lösung,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »wäre ja nun, wenn ich selber zu Bergliot und Knut reiste. Das würde ich auch unter gewöhnlichen Umständen gethan haben. Aber siehst du, – die Umstände sind nun einmal keine ganz gewöhnlichen. Das heißt, an und für sich sind sie es wohl. Es liegt kein wirklicher Grund vor, etwas anderes zu glauben. Für mich sind sie es aber nicht. Nämlich dadurch, liebes Kind, daß ich in der letzten Zeit eine gewisse Unruhe empfunden habe, daß nicht alles so ist, wie es sein sollte. Namentlich infolge von Bergliots letztem Brief an dich. Aber auch schon früher. Und weil ich mich nicht ganz von diesem Gefühl befreien kann, so will oder kann ich nicht selber reisen. Dies sind nämlich – falls es überhaupt etwas ist – Dinge, in die ein Schwiegervater hineingeraten würde wie ein Hund in ein Spiel Kegel. Ohne zu nützen, würde er eine klägliche und lächerliche Figur spielen.

»Deswegen wollte ich denn dich, meine liebe Karen Ragnhild, bitten, für mich zu reisen. Und das, was mir du hier heute abend so offen und prächtig über dich selber anvertraut hast, freut mich gerade deswegen doppelt, und ist mir ein Beweis für deine Reife, deinen Ernst und dein waches Gewissen, so daß ich meine kleine Mission um so sicherer in deine Hände legen kann. Du sollst ja nicht zu deinem Schwager und deiner Schwester reisen, um irgend eine elende Spionage oder dergleichen zu betreiben. Du sollst nur mit meinen Augen sehen, für mich sehen. Ich brauche dir wohl keine weiteren Instruktionen zu geben. Aus dem, was ich bereits angedeutet habe, wirst du sicher ganz genau wissen, was ich von dir wünsche.«

»Ja, Vater, das glaube ich bestimmt.«

»Und nicht zum mindesten, vielleicht sogar in erster Linie, wünsche ich, daß dein Besuch Bergliot zur Freude gereichen soll, und, falls sie dessen bedarf, zur Erheiterung.

»So ist es denn keine eigentliche Vergnügungsreise, die ich dir hiermit biete. Es ist eine Aufgabe, die ich dir stelle, mein Herz, und wenn ich dich bitte, sie für mich zu übernehmen, da ich ja sonst niemand habe, der mir helfen könnte, so denke ich, daß deinem Bedürfnis nach uneigennütziger Beschäftigung hierdurch Genüge gethan werden könnte, was sagst du selber dazu, Karen Ragnhild?«

»Ja, Vater, natürlich –«

»Außerdem laufen dir deine Pläne hier zu Hause ja nicht weg. Wenn du einmal zurückkommst, kannst du sie ia immer wieder aufnehmen. Nicht wahr?«

»Ja, Vater!«

Er reichte ihr die Hand.

»Dann ist es also abgemacht, daß du dies für mich thust, Karen Ragnhild?«

Sie sah ihm warm und ernsthaft in die Augen:

»Ja, wenn du meinst, daß es richtig ist, Vater, dann –«

»Danke, mein Herz! Mein liebes, liebes Herz!«

Er küßte sie auf die Stirn.

»Und nun – wie denkst du über unser Beefsteak? Ob das jetzt wohl fertig ist?«

»Ich will einmal nachsehen, Vater – mich darum bekümmern. Dies ist doch auch zu arg –.«

Sie lief vor ihm her, die Allee hinauf.

Der Drost sah ihr lächelnd nach, während er ihr langsam folgte. Dieser jugendliche, eifrige Rücken vor ihm – so anmutig, so herzensgut. –

Einen Augenblick fuhr es ihm wie ein Stich durch das Herz. Betrog er nicht im Grunde dies wunderbare kindliche Vertrauen?

Unsinn! Dies war ja das einzig Richtige!

Als das Beefsteak auf dem blendend weißen Tischtuch stand, prasselte es auf der Schüssel, mit frischen Butterkugeln und Petersilie garniert.

»Aha! Chateaubriand! Sieh, sieh! Das ist nicht Guros Machwerk! Ach, du, laß sie eine von den Kindtaufssflaschen holen!

»Prost, Fräulein K.R. Finne!«

»Prost, Vater! und tausend Millionen Bank für die reizenden Koffer!«

»Ja, sind die nicht flott! Die feinsten, die in Bergen zu haben waren. Ach, Kind! Es ist herrlich, wieder daheim zu sein!«

»Ach, Vater, daß du nun allein sein sollst!«

»Ich habe ja Guro! Und außerdem Bang!«

Karen Ragnhild mußte lachen. Dieser gräßliche Bang!

»Du lachst, Kind! Aber Bang ist nicht der schlimmste, wenn er sich auch nicht mit deinem ehemaligen Freund Svendsen messen kann!«

Karen Ragnhild wurde dunkelrot und sah ihn vorwurfsvoll an:

»Vater!«

»Ja, Vater! Vater! Dein Vater sticht sie schließlich doch noch alle miteinander aus. Prost, kleine Ragnhild! Und gräme dich Svendsens wegen nur nicht zu Tode. Er will sich zum Herbst mit Anders Bergs' reicher Witwe verheiraten!«

»Die mit den acht Kindern?«

»Das nennt man den Vogel abschießen mit acht lebenden Jungen obendrein! Ja, Svendsen, der sitzt auf einem grünen Zweig.«

»Ja, – aber – Vater – dies macht ia mich und mein Benehmen nicht besser!«

Der Drost fuhr sich listig mit der Serviette über den Mund:

»Ja, siehst du, Kind, eine solche Sache hat ihre unangenehme Seite. Im Grunde war es ja doch ein großes Glück, daß du nicht – Madame Svendsen geworden bist!

»Pfui, Vater!«

»Nicht d einetwegen! Wenn du ihn genommen hättest, so wäre er ja natürlich nach deinem Geschmack gewesen.«

»Aber –?«

»Ja, aber um des armen Svendsen willen! Denk doch, wenn du, nachdem du Madame Svendsen geworden wärest, Kandidat Hagen und diesem rauhen Krieger Wöldicke begegnet wärest! Das wäre eine ganz andere verteufelte Geschichte geworden! Ich kann mir so lebhaft ein Duell zwischen dem braven Svendsen und den beiden Gentlemen vorstellen, – so ein dreieckiges, du weißt, wie bei Marridat!«

Karen Ragnhild mußte lachen, obgleich sie es schändlich fand und es ihrem Vertrauen zu des Vaters Ernst gewissermaßen Abbruch that.

»Denn, weißt du, Kind, in solchen ernsten Sachen muß man mit den Realitäten rechnen.«

»Aber – Vater – es war doch abscheulich von mir, daß ich Svendsen so weit kommen ließ!«

»Wie weit?«

»So daß er sich gewissermaßen berechtigt glaubte –«

»Du, Karen Ragnhild –« fragte der Drost neckend – neugierig – »sage mir doch, – hat dich Svendsen eigentlich geküßt?«

»Pfui, Vater!«

»Nein, – nein! Ich frage ja nur, – das gehört ja mit zur Charakteristik!«

»Nur einmal. Auf das Handgelenk.«

Der Drost lehnte sich in den Stuhl zurück und lachte laut. Als er aber Karen Ragnhilds ernstlich Kränkung sah, hielt er plötzlich inne.

»Ach, Kind, du kannst deinen alten wunderlichen Vater ein klein wenig darüber lachen lassen. Es geschieht dadurch deinen Gefühlen kein Unrecht. Es wird so viel aus solchen kleinen – belanglosen Ereignissen, ganzen und halben Verhältnissen, Verlobungen und halben Verlobungen, Verpflichtungen und Anrechten gemacht. – – – So jung wie du bist, kannst du noch ein gut Teil mehr als unsern guten Svendsen auf dein Gewissen laden, ohne deswegen verloren zu sein. In Italien hatten sie zu meiner Zeit ein Sprichwort, daß der Wein sich selber reinige. Etwas ganz ähnliches ist es auch mit dem jungen Blut. Das reinigt sich selbst. Oft ist es nur die Angst und das, was daraus gemacht wird, was beschmutzt. Von Verliebtsein wird man wahrhaftig nicht beschmutzt. Die Sache an sich thut es nicht! Die Frage liegt ganz anders. Anders und tiefer. Selbstverständlich.«

Karen Ragnhild saß mit großen Augen, erwartungsvoll da. Dann fügte er mit seinem bestimmten Kopfnicken hinzu:

»Die Frage ist die: hat man sich so verliebt, daß man dem andern sein Leben hingiebt, da gilt es das Leben. Da muß man Gott um Beistand anstehen, daß man in seiner Liebe zu diesem Einen aushält. Da handelt es sich um Tod und Leben. Du verstehst mich – nicht um das Urteil der Welt und das Gerede der Leute soll man sich kümmern, sondern nur dafür sorgen, daß man vor seinem eigenen höchsten Gericht besteht.«

»Aber, Vater, – da stellt sich ja die Frage so, wenn – wenn die Verliebtheit derart ist, daß man das Leben hingiebt – –«

»Mein liebes Kind! Wenn man über das Stadium Svendsen hinweg gekommen ist, das – verzeih mir – zu den Kinderkrankheiten zu rechnen ist, dann ist jede Verliebtheit derartig – soweit ich mich erinnere!«

»Aber Vater, was soll man dann thun?«

Der Drost lächelte und summte eine alte Melodie:

Que faut – il faire,
Que faut – il faire,
Que faut – il entreprendre?
Prenez la poste,
Prenez la poste,
Et retournez à Flandre –!

»Was man thun soll, Karen Ragnhild? Wenn du einmal so alt bist, wie ich jetzt bin, und deine Tochter oder dem Sohn dich fragen, was man dann thun soll, – da wirst du da sitzen so wie ich jetzt und meinen, du habest gar mancherlei zu sagen – und trotzdem weißt du nicht, was du antworten sollst. Denn dann bist du alt geworden. Und dann bist du jung gewesen. Halte deine Seele stolz und frei, Kind. Dann wird sie stets wissen und mit gutem Recht wissen, was sie antworten soll. Mehr kann ein älterer Herr dir nicht sagen.«

Nach einer Weile sagte er wieder mit großem Ernst:

»Vergiß aber nie das eine: Vor deinem eigenen höchsten Gericht handelt es sich um Leben und Tod!« – – –


Bis tief in die Nacht hinein ging Drost Finne mit seiner Pfeife in seinem Zimmer auf und nieder.

Er dachte daran, daß er alt geworden war. Das Leben erschien ihm so voller Gefahren, voll von Teufelswerk und allerlei Bösem.

War nun das Teufelswerk bis zu Bergliot vorgedrungen? Zu seiner Bergliot! Denn irgend etwas war da nicht in Ordnung!

Und dann Karen Ragnhild! Wohinein sandte er die? War es nicht, als gäbe er ein edles Wild den Hunden preis?

Ein edles Wild! wie sie ihrer Mutter glich!

Opferte er die Kleine nun auf, – für Bergliot? hätte er selber reisen sollen? Oder das Ganze seinen Lauf gehen lassen? – –

Opfern! Es war ja das Leben, zu dem sie einging! Einmal mußte es ja doch geschehen! Und das Leben – –

Alte Erinnerungen wurden in ihm wach. Aus dem Leben – dem er jetzt ja so lange fern gestanden hatte! Junge Augen, braune, graue, die jetzt schon lange alte Augen waren, von denen viele sich auch für ewig geschlossen hatten. Stimmen – Gelächter – Flüstern – Weinen.

Das Leben! Ihm fiel ein Satz ein, den er kürzlich in einem Artikel in einer Zeitschrift gelesen hatte, – aus der Feder eines klugen, edlen Mannes:

»Das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch ist dasselbe durch die ganze Geschichte hindurch.« Und dann war wohl das Leben nicht gefährlicher, teuflischer geworden als früher – als er es selber lebte. Nur er selber war also alt geworden.

Ja. Und dann hatte er junge Mädchen so kennen gelernt, wie er es früher nicht geahnt hatte, – damals, als junge Mädchen sein Leben waren. Er war alle diese Jahre Bergliots und Karen Ragnhilds Vater gewesen.

Könnte er sie doch mit einem unsichtbaren Sicherheitspanzer – einem Siegeshemd bekleiden!

Oder sie begleiten, wohin sie ging, seinen Arm schützend um sie geschlungen.

Junge Mädchen!

Aber der Sieg des Lebens strahlte aus Karen Ragnhilds Augen.

Ja. Und auch die Gefahren des Lebens.


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