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De oll Linn schall dal, so gehts behende
Im ganzen Dorf von Mund zu Mund.
Es ist des Geredes bald kein Ende,
Jeder tuts schleunigst dem andern kund.
Am Abend vor allen Scheunen und Türen,
Gibts immer nur dies eine Wort.
Wenns stockt, gleich wirds der Nachbar spüren,
So läuft das Flämmchen fort und fort.
Die alte Linde erzählt ihr Leben:
Jahrhunderte zogen an mir vorbei,
Im Schloßhof steh ich, von Geistern umgeben,
Ich sah schon den Ritter, Gejaidzug, Turnei.
Im Mai summt die Biene in meinen Zweigen,
In der Sommernacht deck ich die Liebe zu,
Im Herbst umtanzt mich der Erntereigen,
In der Winternacht träum ich von ewiger Ruh.
Nun steht der Urahnenbaum zersplissen,
Was hilfts, daß ein Eisenring ihn umkrallt,
Er steht von den Blitzen zerkratzt, zerbissen,
Sein Stamm ist mürbe, hohl, ohne Halt.
Eine letzte Sage entrieselt dem Hünen,
Eine letzte Sage schwirrt um ihn her:
Vor siebzig Jahren, wer wird es sühnen,
Warf ein heimlicher Mörder hinein sein Gewehr.
Krischan Ohrt, als verdächtig, ward eingezogen,
Und lange saß er in der Vogtei;
Seine Feinde, als Zeugen, logen und trogen,
Es nützte nichts, kein Beweis – er ist frei.
Seit jener Zeit haßt Krischan Ohrt die Bauern,
Ist wortkarg, mürrisch und menschenscheu
Und läßt die Leute leiern und lauern,
Und tut seine Pflicht als Hofjäger treu.
Vor siebzig Jahren, in Pfingstjunitagen,
War Lärm im Krug und Galopp und Juchhei,
Das Dorf traf zusammen mit Sippen und Magen,
Und Krischan Ohrt war auch dabei.
Wer tanzt da mit der schmucken Blondine
Und flüstert ins Ohr ihr liebesschwer?
Das ist Hans Mewes mit Krischans Christine,
Und Krischan Ohrt holt sein Gewehr.
Am andern Morgen, im feuchten Grase,
Im Wald am Weg, am einsamen Ort,
Wer lag da für immer platt auf der Nase?
Hans Mewes war es! Herrgott, ein Mord!
Wenn Krischan der Mörder gewesen wäre?
Vielleicht verbarg er im Baum sein Rohr?
»Ich hab doch mehr Flinten! Was soll die Märe!
Man hats mir gestohlen!« gab er vor.
Krischan Ohrt ist in die Neunzig gekommen,
Sein Körper ist schwach, verwirrt sein Verstand.
Auch er hat die neuste Kunde vernommen,
Er reibt sich die Augen mit zittriger Hand:
»Sie wollen die alte Linde fällen?
Sie denken wohl an Recht und Gericht?
Ihre Äxte werden dran zerspellen,
Ihren Sägen und Seilen gelingt es nicht.«
Am nächsten Tag, um die Mittagstunde,
Da soll es geschehn, das Beil liegt bereit.
Um den Baum herum in enger Runde
Stehn der Schloßherr, die Bauern gereiht.
Jetzt wird es sich zeigen, nun wird sichs begründen,
Die Sage verschrumpft, die Wahrheit siegt,
Gleich wird es die Linde der Welt verkünden,
Wenn sie zerschmettert am Boden liegt.
Fertig! Wer kommt da hergekrochen?
Auf zwei athletische Enkel gestützt,
Hat Krischan Ohrt den Kreis durchbrochen,
Wie von zwei Erzengeln finster beschützt.
Willig weicht alles ihm zur Seite,
Als gält es für ihn den Ehrenplatz.
Da steht vorn die Gruppe in eherner Breite,
Eine Mumie zwischen zwei Goliaths.
Die alte Gestalt bebt unwillkürlich,
Er beugt sich gespannt nach der Linde vor,
Seine Augen weiten sich unnatürlich,
Wie zum Horchen hält er die Rechte ans Ohr.
Bald lächelt er blöde, als könnt ers nicht fassen,
Und murmelt und brummelt vor sich hin,
Dann wieder tut er ruhig, gelassen
Und schiebt herrisch vor sein Kinn.
Auf blitzt die Axt! Um die Krone geschlungen,
Reißt und ruckt an der Linde das Tau.
Wie hat die Riesin dagegen gerungen!
Steinhart im Erdreich wurzelt ihr Bau.
Da überläuft sie ein eiliges Zittern,
Sie schwankt, sie stürzt, hinschlägt sie dumpf
Und hat mit Ästen und Zweigen und Splittern
Den Greis erschlagen als letzten Trumpf.
Eine Wolke umhüllt die Menschen alle –
Eine Wolke von Blättern, Staub, Blumen und Kraut
Wirbelt auf, verzieht sich nach dem Falle,
Bis wieder klar der Himmel blaut.
Und aus dem Stumpf, dem zersprengten Zwinger,
Aus dem verwüsteten Bannkreis her
Ragt deutlich, steil, wie Gottes Finger,
Ragt ein altes, verrostetes Steinschloßgewehr. |