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Jeden grünen Weihnachtsbaum und seinen Lichterglanz begrüße ich als ein fröhliches Wahrzeichen, daß nach langem Siechthum unser Volk sich auch innerlich wieder gefestigt und gekräftigt hat. Bald nach der Schlacht von Leipzig fingen die Christbäume an, vom Norden sich nach dem Westen und Süden Deutschlands zu verbreiten, und jetzt schimmert ihr geschmücktes Grün am Nil und Bosporus, am Hudson und La Plata, wie im eisig schweren Dunkel der Polarnacht und fern über den leuchtenden Südmeeren, wo immer nur deutsche Forscher unsere Flagge entfalten. Soweit die Weihnachtsbäume blitzen, so weit leuchtet hell in allen Häusern, hell in allen Herzen wieder die nationale Erkenntniß, daß wir wieder ein festgefügtes starkes Volk sind, und so weit leuchten auch Muth und Hoffnung, daß wir den schweren Aufgaben gerecht werden, welche die Gegenwart stellt an ihr größtes Kulturvolk. Wahrlich, diese Aufgaben dehnen sich ins Unabsehbare, je mehr der rasch vordringende Verkehr uns allenthalben auf der Erdkugel Völker zeigt, die sich selbst nimmer erretten aus der Nacht ihres Elends und ihrer Unwissenheit.
Doch was hat das mit der Ueberschrift dieses Kapitels zu thun? Geduld, ich wollte nur an eine alte germanische Sitte, vielmehr nur an ein germanisches Naturgefühl erinnern. Unsere Vorfahren waren ein Waldvolk, und nirgends scheint ihnen wohler gewesen zu sein, als mitten im Walde, wo sie das geheimnißvolle Naturleben allüberall sprossen und grünen sahen. Von der Irmin-Säule, die wahrscheinlich in meiner Vaterstadt Paderborn auf derselben Stelle stand, wo Karl der Große das erste Kirchlein auf sächsischem Boden gründete, berichtet der sächsische Annalist: »Sie sei ein Baumstamm gewesen von gewaltiger Größe, hochaufragend unter freiem Himmel; die heidnischen Sachsen hätten sie als die Allsäule, gleichsam die Allestragende verehrt.« Ein schlichter Baumstamm, hochragend bis in die ziehenden Wolken hinein, umflossen von den stillen Schauern des Urwaldes, dies war den Sachsen das einfache Sinnbild der das Weltall tragenden Gottesgewalt, genügend zur religiösen Erbauung für kindliche Gemüter, die offen waren für die heilige allwaltende Gottesnähe. Geschichte des Kampfes (zwischen Bürgern und Jesuiten) um Paderborn 1597 bis 1604, von F. v. Löher. Berlin 1874. S. 1-2. Dessen mußte ich gedenken, als ich in Orotava stand vor der Ruine des riesigen Drachenbaums, der einst bei den Canariern heilig verehrt wurde. Ich sah ihn im Geiste seine gewaltigen Arme gegen Himmel ausstrecken, und in seinem Schatten sich in stiller Ehrfurcht vor dem göttlichen Allwesen ein Volk versammeln, vollbärtige Männer in Mänteln den Spieß in der Hand, und Frauen mit wallendem Flachshaar und langen Gewändern, und auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen, daß ich meinte, Germanen der Völkerwanderung zu erkennen.
Woher kam dies schöne und tapfere Volk auf die canarischen Inseln? Wessen Stammes und Landes waren seine Angehörigen? Diese Frage blieb ein historisches Räthsel mit wechselnder Auflösung.
Man redete von Iberern aus fabelhafter Zeit; vom heldenmüthigen Quintus Sertorius, der mit sechzig auserwählten Genossen herübergeschifft; von Numidiern, die von den Römern mit ausgeschnittenen Zungen aufs Meer geschickt seien. Als die christlichen Mönche nach den Inseln kamen, suchten sie selbstverständlich nach den zehn verlorenen Stämmen Israels. Andere aber meinten nun, daß die Canarier Nachkommen der flüchtigen Bewohner Kanaans seien, welche von den Juden aus dem gelobten Lande vertrieben wurden. Wieder Andere dachten an Phönizier oder an Galater aus Kleinasien.
Dagegen erhob sich die Ansicht: die Inseln müßten von den Berbern bevölkert sein, da sie ihnen am nächsten liegen. Dieser Meinung war auch Espinosa, der zuerst unter den Canariern, und zwar zu Anfang des sechszehnten Jahrhunderts, über die Sitten und Gebräuche der Wandschen schrieb. Sein um ihre Geschichte hochverdienter Nachfolger, Galindo, um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts dachte an arabische Verwandtschaft. Viera aber, der beste und fleißigste Forscher auf den Inseln, zu Ende des letzten Jahrhunderts versicherte feierlich: »Die alten Canarier, ein Urvolk von einfachen Sitten, wie die Heroen und Patriarchen, stammten vom Volke der Atlantiden, diese aber seien eine Colonie der Aegypter, der Abkömmlinge Neptuns.« Das waren die Ansichten der Canarier selbst. Von den Europäern aber erklärten Champollion und seine Schule die Wandschen für unzweifelhafte alte Aegypter. Humboldt Reise in die Aequinoctialgegenden des neuen Continents, bearbeitet von Hauff, I, 163. sagte spottend darüber: »Gelehrte, die überall wo es Mumien Hieroglyphen und Pyramiden gibt, Aegypter sehen, sind vielleicht der Ansicht: das Geschlecht Typhons und die Wandschen stehen im Zusammenhange mittelst der Berbern, ächter Atlanten, zu denen die Tibbos und Tuarycks der Wüste gehören. Es genügt hier aber die Bemerkung, daß eine solche Annahme durch keinerlei Aehnlichkeit zwischen der Berbernsprache und dem Koptischen, das mit Recht für ein Ueberbleibsel des alten Aegyptens gilt, unterstützt wird.«
Der Schotte Glas, welcher zuerst die Sprache der Wandschen untersuchte, entschied sich dahin: daß sie auf Teneriffa peruanisch und auf den anderen canarischen Inseln berberisch sprächen. Ein deutscher Forscher, Vater, hatte sogar gefunden, daß in der Wandschensprache sich Aehnlichkeiten mit der Mundart der Huronen Peruaner und Mandingo-Neger zugleich fänden. Unser großer Geograph Ritter hielt die Wandschen für Berbern, und der französische Consul Berthelot, der von den Neueren am meisten über die Canarischen Inseln und ihre Bevölkerung geschrieben, bewies in langer Ausführung: auf den canarischen Inseln sei »ganz zweifellos« der Berbernsprache heimisch gewesen, und zwar die Schillahmundart. Seitdem, und da besonders Ritter es war, welcher die berberische Herkunft der Wandschen hinstellte, ging sie in alle Lehrbücher der Länder- und Völkerkunde über. Nichts schien ja natürlicher, als daß die canarischen Inseln dieselbe Bevölkerung hatten, wie das benachbarte Festland, und es fehlte den Verfassern jener Bücher an Anregung wie Hülfsmitteln, eigene Studien zu machen.
Ich kann diese Ansicht nicht theilen. Mich blickte, als ich von der Teneriffaküste ins Innere und unter die Dorfleute kam, öfter ein so unverfälscht sächsisches Gesicht an, als je eines auf westfälischen Haiden über seinen Hofzaun ausschaute. Es wehte mich etwas Verwandtes an, ähnlich wie früher unter französisch redenden Burgundern, englisch redenden Pennsylvaniern, magyarisch redenden Zipsern in Ungarn. Ich war dann auf Bergpfaden unter die ärmsten und abgelegensten Canarier gekommen, hatte in ihren Hütten und Grotten verkehrt, und beständig hatte sich jene erste Ahnung erneuert und verstärkt. Je mehr ich aber mit Geschichte und Schicksalen des merkwürdigen Volkes mich beschäftigte, je mehr, was ich von seinem häuslichen religiösen und bürgerlichen Wesen kennen lernte, mich anmuthete, als läse ich in den alten Volksgesetzen der Bayern oder Sachsen oder in Grimms deutschen Rechtsalterthümern, um so mehr verstärkte sich meine Ahnung von der Verwandtschaft der Wandschen mit Germanen.
Wie sind aber Germanen nach den canarischen Inseln gekommen? Sollte ein Wykingerzug hier gestrandet sein? Warum baute er dann nicht neue Schiffe, oder warum sandte er niemals Nachricht in die Heimath?
Näher liegt der Gedanke: Vandalen aus Afrika oder Westgothen aus Spanien seien hiehergekommen. In geographischer Beziehung stände dem nichts Wesentliches entgegen.
Bei den Westgothen ergab sich der Weg von selbst. Leicht läßt sich denken, daß ein Theil dieses Volkes bei der Eroberung Spaniens durch die Araber in See ging, um in der Ferne eine neue Heimath zu gründen. Die Westgothen, die eine starke Kriegsflotte unterhielten, wußten sicher auf den Meeren in Spaniens Nähe wohl Bescheid, und hatten gewiß auch von Mauren erfahren, daß sich die westafrikanische Küste noch weit, weit hinab gegen Süden strecke. Sie brauchten nur diese Küste entlang zu fahren, so mußten sie die canarischen Inseln entdecken.
Die Vandalen aber sind doch gewiß, als Belisar ihre Herrschaft in Nordafrika zertrümmerte, nicht sammt und sonders getödtet worden oder über's Meer davon geführt. So leicht läßt sich ein ganzes Volk weder ausrotten, noch auf Schiffe packen und von dannen bringen. Auch sie, die über Nordafrika herrschten, kannten die Wege, und es weisen bestimmte Nachrichten bei ihrem Zeitgenossen und Geschichtsschreiber Prokop, und bei dem Ravennater Geographen, der etwa hundert Jahre nach Untergang ihres Reiches lebte, darauf hin, daß ein Theil des Vandalenvolks sich nach Marokko wandte und dort verschwunden ist. Leo Africanus aber, der im sechszehnten Jahrhundert aus arabischen Geschichtsschreibern seine afrikanischen Nachrichten zog, erzählt: daß noch bei dem Vordringen der Araber Mahomeds Gothen – und die Vandalen waren ja gothisch nach Sprache und Herkunft – in Menge bei Karthago gewohnt und auch ein Fürstenthum bei Ceuta gehabt. Vielleicht sind nun flüchtige Vandalen schon zu Belisars Zeit von den unduldsamen Mauren weiter und weiter getrieben. Möglicher Weise haben sie sich in Nordafrika gehalten, bis die Araber anstürmten und alle berberischen Völker in fluthende Bewegung geriethen. Mochten nun die Vandalen auf der nördlichen oder südlichen Seite des Atlasgebirges fortziehen, immer führte sie diese lange Kette, da auf der einen Seite das Meer, auf der andern die Wüste ihnen jede Seitenwanderung abschnitt, bis an die Küste in die Gegend des Kap Nun und Kap Ger, wo weiter südlich die nackte unwirthbare Wüste sich dehnte, gegenüber aber in achtzehn Stunden Entfernung die kanarischen Inselberge emporragten.
Nun entdeckte auch Gerhard Rohlfs, der kühne Forschungsreisende, in Marokko südlich von Ceuta in der Landschaft el Gharbie germanische Grabhügel, die ganz ähnlich den Hünengräbern in Norddeutschland. Gegenüber den canarischen Inseln fand er in der Landschaft Haha, wo der herrliche grüne Arganwald sich weit und breit erstreckt, Hügel und Berge gekrönt von Burgen und Wartthürmen und gezackten Mauern, dabei tiefe ausgemauerte Cisternen, die oben überwölbt waren. All diese Bauten trugen das Gepräge hohen Alters. Nur von Germanen, die in einer unbestimmten Zeit hier wohnten, können diese Burgen und Cisternen herrühren.
Minder feste Anhaltspunkte ergeben sich in den Sagen. In Spanien glaubte man noch zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts: bei der Eroberung des Landes durch die Mauren hätten sich sieben Bischöfe mit ihren Gemeinden auf's Meer geflüchtet und auf den Inseln »der sieben Städte« ein christliches Reich gegründet. Bei den Wandschen aber hatte sich eine Sage erhalten: sie seien von Afrika verbannt, und zwar durch die Römer, weil sie deren Gottheiten beschimpft hätten. Römer aber hießen auch die Byzantiner. Erinnert diese Sage an den Haß zwischen Arianern, zu welchen die Vandalen gehörten, und Katholischen, so läßt sich Manches in den religiösen Gebräuchen und Anschauungen der Wandschen kaum anders erklären, als durch die Annahme, es seien verwirrte Reste vom Christenthum.
Doch dies führt bereits in die Untersuchung hinein, die allein Licht in diese Frage bringen kann. Man muß die Sprachreste der Wandschen, ihre Zustände und Einrichtungen, ihre Sitten und Meinungen, ihre körperliche Bildung wie ihren Charakter, insbesondere auch ihr Religions-, Staats- und Rechtswesen mit der Sprache und allem Uebrigen vergleichen, was zu den nationalen Eigenthümlichkeiten der Germanen und Berbern gehörte. Mich hatte dies alte historische Räthsel einmal gefaßt, es begleitete mich fortan durch die Inseln, und ließ mich nicht wieder los, bis ich das Meinige zur Lösung beigetragen. Wer Zeit und Lust und Befähigung hat, möge den Vergleich auf Aegypter und Phönizier, Iberer und Celten, Mexikaner Peruaner und Karaiben ausdehnen.