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Immer noch wütend ging Joe wenige Minuten später zum Abendessen. Er aß schweigend, obwohl seine Eltern und Bessie sich angeregt unterhielten. Da sitzt sie, die Schwester – beklagte er sich grimmig bei seinem Teller –, eben noch geheult und jetzt schon wieder nichts als Lächeln und Ausgelassenheit! Das war nun seine Art überhaupt nicht. Wenn er einmal einen hinreichend wichtigen Grund zum Heulen hatte, konnte man sich darauf verlassen, daß er mehrere Tage brauchte, um darüber hinwegzukommen. Mädchen waren Heuchler, mehr gab's da nicht zu sagen. Sie fühlten nicht einmal ein Hundertstel von dem, was sie bei ihrer Heulerei quasselten. Das war sonnenklar. Sie stellten sich bestimmt nur so an, weil es ihnen Spaß machte. Rein zum Vergnügen verdarben sie anderen Leuten, besonders Jungens, die Laune. Darum mischten sie sich in alles ein.
Bei diesen weisen Betrachtungen hielt Joe den Blick auf seinen Teller gerichtet und ließ dem Essen Gerechtigkeit angedeihen. Man kann nicht mit dem Rad von Cliff-House durch den Park nach Western Addition rasen, ohne einen sehr gesunden Appetit mitzubringen.
Ab und zu warf sein Vater ihm einen leicht besorgten Blick zu. Joe sah diese Blicke nicht, aber Bessie sah sie, jeden einzelnen. Mr. Bronson war ein Mann in mittleren Jahren, gut gebaut und von kräftiger Figur, aber durchaus nicht dick. Er hatte ein gefurchtes Gesicht mit kantigem Kinn und strengen Zügen, aber seine Augen blickten freundlich, und um seinen Mund lagen Falten, die eher Fröhlichkeit als Strenge verrieten. Schon bei flüchtigem Hinsehen entdeckte man die Ähnlichkeit zwischen ihm und Joe. Beide hatten die gleiche breite Stirn und die gleichen starken Kinnladen, auch die Augen sahen sich, wenn man den Altersunterschied mit in Betracht zog, so ähnlich wie Erbsen aus derselben Schote.
»Wie sieht's in der Schule aus, Joe?« fragte Mr. Bronson schließlich. Das Abendessen war beendet, und sie wollten eben vom Tisch aufstehen.
»Weiß nicht«, antwortete Joe gleichgültig. Dann fügte er hinzu: »Morgen sind die Prüfungen, dann wird's ja 'rauskommen.«
»Wohin willst du?« fragte seine Mutter, als er sich anschickte, den Raum zu verlassen. Sie war eine schlanke, anmutige Frau, von der Bessie ihre braunen Augen und ihr sanftes Wesen hatte.
»Auf mein Zimmer«, erwiderte Joe. Und er setzte hinzu: »Arbeiten!« Sie fuhr ihm liebevoll durch das Haar, beugte sich zu ihm hinab und küßte ihn. Mr. Bronson lächelte ihm anerkennend zu, als er hinausging, und Joe eilte die Treppe hinauf, fest entschlossen, tüchtig zu schuften und die Prüfungen des kommenden Tages zu bestehen. Er ging in sein Zimmer, verriegelte die Tür und nahm an seinem Pult Platz, das zum Schulaufgabenmachen außerordentlich bequem hergerichtet war. Er ließ seinen Blick über seine Schulbücher wandern. Mit Geschichte sollten die Prüfungen am nächsten Morgen beginnen, darum wollte er sich zuerst an die Geschichtslektion machen. Er öffnete das Buch an der Stelle, an der er ein Eselsohr gemacht hatte, und begann zu lesen:
Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus um den Besitz der Insel Salamis, auf die beide Städte Anspruch erhoben.
Das war leicht. Aber was waren die drakonischen Reformen? Die mußte er nachschlagen. Er kam sich außerordentlich wissensdurstig vor, als er die vorhergehenden Seiten durchflog – bis er zufällig seine Augen über die obere Kante des Buches erhob und auf einem Stuhl eine Baseballmaske und einen Fanghandschuh erblickte. – Das Spiel am vergangenen Sonnabend hätten sie nicht verlieren dürfen, dachte er. Und sie hätten es auch nicht verloren, wenn Fred nicht mitgespielt hätte. Wenn Fred doch endlich aufhören würde, Bälle zu verpatzen. Er konnte hundert schwierige Bälle hintereinander schnappen, aber wenn es dann einmal kritisch wurde, ließ er den leichtesten fahren. Er würde ihn ins Feld hinausstellen und Jones dafür ins erste Mal zurückbringen müssen. Jones war allerdings ziemlich zappelig. Er konnte jeden Ball halten, ganz gleich, wie kritisch die Lage war, aber man war nie sicher, was er hinterher mit dem Ball anstellen würde. – Mit einem Ruck wachte Joe aus seinen Träumen auf. Das war ja eine nette Art, Geschichte zu ochsen! Er vergrub sich wieder in sein Buch und las:
Kurz nach den drakonischen Reformen …
Er las den Satz dreimal, und dann fiel ihm ein, daß er die drakonischen Reformen nicht nachgeschlagen hatte.
Ein Klopfen an der Tür. Unter lautem Rascheln blätterte Joe die Seiten um, antwortete aber nicht.
Das Klopfen wiederholte sich, und Bessies »Joe, hör doch!« drang an sein Ohr.
»Was willst du?« fragte er. Aber bevor sie antworten konnte, setzte er eilig hinzu: »Eintritt verboten! Ich habe zu tun.«
»Ich wollte nur sehen, ob ich dir vielleicht helfen kann«, schmollte sie. »Ich bin fertig, und ich dachte …«
»Selbstverständlich bist du fertig!« rief er. »Du bist immer fertig!« Er klemmte seinen Kopf zwischen beide Hände, so daß sein Blick auf das Buch gerichtet blieb. Aber die Baseballmaske plagte ihn. Je mehr er versuchte, seine Gedanken auf Geschichte zu konzentrieren, desto lebhafter sah er vor seinem inneren Auge die Maske auf dem Stuhl und all die Spiele, an denen sie teilgenommen hatte. So konnte es einfach nicht weitergehen. Behutsam legte er das Buch mit dem Gesicht nach unten auf das Pult und ging zu dem Stuhl hinüber. Mit raschem Schwung schleuderte er Maske und Handschuh unter das Bett, und zwar mit solcher Kraft, daß die Maske von der Wand zurücksprang.
Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus …
Die Maske war an der Wand abgeprallt. Ob sie wohl so weit zurückgerollt war, daß er sie sehen konnte? Nein, er wollte nicht hinsehen. War es nicht ganz gleichgültig, ob sie zurückgerollt war? Das hatte nichts mit Geschichte zu tun. Ob sie wohl …?
Er spähte über den Rand des Buches hinweg, und da lag die Maske und blinzelte ihn unter dem Bett hervor an. Das war zuviel! Es hatte einfach keinen Zweck, sich mit den Schulaufgaben abzuquälen, solange die Maske in der Nähe war.
Er ging hinüber und fischte sie auf, durchquerte den Raum zum Wandschrank hin, knallte sie hinein und verschloß die Tür. Gott sei Dank, das war erledigt. Jetzt konnte er sich an die Arbeit machen.
Wieder setzte er sich an das Pult.
Kurz nach den drakonischen Reformen brach zwischen Athen und Megara ein Krieg aus um den Besitz der Insel Salamis, auf die beide Städte Anspruch erhoben.
Schön und gut. Wenn er nur gewußt hätte, was die drakonischen Reformen waren! Ein sanftes Glühen legte sich über den Raum, und plötzlich bemerkte es auch Joe. Wo konnte es herrühren? Er sah zum Fenster hinaus. Die untergehende Sonne warf ihre langen Strahlen schräg gegen die tiefhängenden sommerlichen Wolkenknäuel und verfärbte sie zu einem warmen Scharlach und Rosenrot. Und von ihnen wurde das weiche, rötlich glühende Licht auf die Erde zurückgeworfen.
Sein Blick senkte sich von den Wolken auf die darunterliegende Bucht. Nun, gegen Abend, legte sich die Seebrise, und beim Fort Point kroch ein Fischerboot mit dem letzten bißchen Wind in den Hafen. Weiter draußen paffte ein Schlepper, der einen dreimastigen Schoner in die See hinausschleppte, eine quirlende Rauchsäule in die Luft. Joes Blick wanderte zur Küste von Marin County hinüber. Die Linie, an der Land und Wasser sich trafen, war bereits in Dunkelheit getaucht, und lange Schatten krochen die Berge hinauf zum Gipfel des Tamalpais, der scharfumrissen gegen den westlichen Himmel stand. Wenn er, Joe Bronson, doch nur auf diesem Fischerboot wäre und mit einem Hochseefang den Hafen anliefe! Oder noch lieber auf dem Schoner, der jetzt in den Sonnenuntergang hineinsegelte und hinaus in die Welt. Das war Leben, das hieß leben! Etwas fertigbringen in der Welt und etwas darstellen in der Welt. Statt dessen saß er da in ein enges Zimmer gesperrt und zerbrach sich den Kopf über Leute, die schon Tausende von Jahren vor seiner Geburt nicht mehr lebten.
Er riß sich mit einem Ruck vom Fenster los, wo ihn eine unsichtbare Gewalt zurückhalten wollte, und trug seinen Stuhl und sein Geschichtsbuch entschlossen in den hintersten Winkel des Zimmers. Dort setzte er sich mit dem Rücken zum Fenster hin.
Einen Augenblick später, so erschien es ihm wenigstens, sah er sich wieder am Fenster stehen und träumend hinausschauen. Wie er dort hingekommen war, wußte er nicht. Seine letzte Erinnerung war das Auffinden einer Überschrift auf einer Seite rechts im Buch, die »Das Gesetz und die Verfassung Drakons« lautete. Und dann war er, offenbar wie ein Schlafwandler, zum Fenster gegangen. Wie lange er wohl da gestanden hatte? Das Fischerboot, das er auf der Höhe von Fort Point entdeckt hatte, näherte sich nun dem Meigg-Kai. Das bedeutete, daß fast eine Stunde vergangen sein mußte. Die Sonne war längst untergegangen, ein feierliches Grau hing schwer über dem Wasser, und die ersten blassen Sterne blinkten über dem Gipfel des Mount Tamalpais.
Mit einem Seufzer drehte er sich um und wollte in seine Ecke zurückgehen, als eine langer, durchdringender Pfiff schrill an sein Ohr klang. Das war Fred. Joe seufzte erneut. Das Pfeifen wiederholte sich. Dann fiel ein zweiter Pfiff ein. Das war Charlie. Sie warteten an der Ecke, die Glückspilze! Nun, heute abend würden sie ihn nicht zu sehen bekommen. Beide Pfiffe vereinigten sich zu einem Duett. Joe wandt sich auf seinem Stuhl und stöhnte. Nein, heute brauchten sie nicht mit ihm zu rechnen, wiederholte er im stillen, stand aber gleichzeitig auf. Es war ihm völlig unmöglich, mit den beiden zu gehen, solange er keine Ahnung hatte von den drakonischen Reformen. Dieselbe Macht, die ihn an das Fenster gefesselt hatte, schien ihn nun quer durch das Zimmer an das Pult zu zerren. Sie zwang ihn, das Geschichtsbuch oben auf die anderen Schulbücher zu legen, und bevor es ihm selber klar wurde, hatte er die Tür aufgeschlossen und die Halle zur Hälfte durchschritten. Er wollte umkehren, aber da kam ihm der Gedanke, daß er ja eine kleine Weile nach draußen gehen und dann zurückkommen und seine Aufgaben machen konnte.
Eine sehr kleine Weile, versprach er sich selber, als er die Treppe hinunterging. Schneller und schneller stieg er hinab, bis er am Fuß der Treppe schließlich drei Stufen auf einmal nahm. Er stülpte seine Mütze über den Kopf und verließ das Haus hastig durch den Seiteneingang. Als er an der Ecke ankam, lagen die Reformen des Drakon so weit hinter ihm in der Vergangenheit wie Drakon selber, während die Prüfungen des kommenden Tages nicht weniger weit vor ihm in der Zukunft lagen.