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Zeit und Welt glitten dahin. Die beiden Jungen wurden von Franzosen-Petes rauher Stimme aus dem Schlaf geweckt.
»Auf ihr beiden!« grölte er. »He, Schoh, mach die Segelleinen los! Schnähl, 'opp, 'opp! Und du an den Klüver, Kid.«
Joe benahm sich ziemlich ungeschickt in der Dunkelheit, da ihm die Namen für die meisten Dinge noch nicht vertraut waren und er auch noch nicht wußte, wo er sie finden konnte. Aber er kam doch einigermaßen zurecht, und nachdem er die Segelleinen in den Ruderstand geworfen hatte, schickte man ihn nach vorne, wo er beim Setzen des Großsegels helfen sollte. Danach wurde der Anker gelichtet, der Klüver gesetzt und alle Falle aufgeschossen. Alles war an seinem Platz, bevor Joe und Frisco Kid wieder nach achtern zurückkehrten.
»Sährr gut, sährr gut!« lobte der Franzose, als Joe über die Brüstung in den Ruderstand sprang, »'errlick! Du wirrst werrden gute Seemann! Ick schwörre!«
Frisco Kid hob den Deckel von einer der Kisten im Ruderstand und sah Franzosen-Pete fragend an.
»Klar!« antwortete der Alte. »Positionslampen 'inaus!«
Frisco Kid ging mit der roten und der grünen Laterne in die Kajüte, um sie dort anzuzünden. Dann kletterte er mit Joe nach vorne, wo sie die Lampen in die Takelung hängten.
»Das Ding soll wohl doch nicht gedreht werden«, sagte Frisco Kid mit gedämpfter Stimme.
»Was?«
»Na, du weißt doch: das dicke Ding, von dem ich dir erzählt habe. Hier in der Gegend muß es sein. Aber ich glaube, es ist so dick, daß Franzosen-Pete keine Traute hat, mitzumischen. Der Rote Nelson, der würde 'rangehen, was hast du, was kannst du. Aber allein kennt er sich nicht aus. Er kann nichts machen, solange Pete nee sagt.«
»Wohin fahren wir denn jetzt?« fragte Joe.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich aber nach den Austernbänken. Der Kurs sieht danach aus.«
Nichts ereignete sich während der Fahrt. Eine Brise sprang genau von achtern aus der Nacht und hielt etwa eine Stunde an. Dann flaute sie ab, schlug um und wehte nun bald aus dieser, bald aus jener Richtung. Franzosen-Pete blieb am Ruder. Von Zeit zu Zeit lockerten oder fierten Joe oder Frisco Kid ein Schot.
Joe saß da und staunte nicht wenig, daß der Franzose ganz offenbar wußte, wo sie waren und wohin sie fuhren. Ihm selber schien es, als müßten sie sich in der undurchdringlichen Finsternis, die sie wie ein Leichentuch umschlang, unweigerlich verirren. Eine hochliegende Nebelbank war vom Pazifik her landwärts gekrochen. Zwar fuhr das Schiff unter ihr hindurch, aber der Nebel schob sich vor die Sterne und beraubte die drei daher auch dieser bescheidenen Lichtquelle.
Franzosen-Pete schien jedoch instinktiv zu wissen, welche Richtung er halten mußte, und als Joe ihn einmal daraufhin fragte, prahlte er mit seiner Fähigkeit, »nach dem Gefühl« zu steuern.
»Ick fühlen der Tide, der Wind, der Tempo«, erklärte er. »Ick sogarr fühlen der Land, ganß ßicker, bestimmt. Wie? Weiß niecht. Ick weiß nurr, daß ick fühlen der Land, als wenn meine Arm wirde wachsen langer und langer, meilenlang, und ick dann legen meine 'and auf der Land, und ick fühlen der Land und wissen, er ist da.«
Joe blickte ungläubig zu Frisco Kid hinüber.
»Er hat recht«, bekräftigte Frisco Kid. »Wenn man eine gute Weile auf See gewesen ist, kann man auf einmal das Land fühlen. Und wenn deine Nase was taugt, kannst du das Land meistens auch riechen.«
Etwa eine Stunde später bemerkte Joe dem Verhalten des Franzosen an, daß sie sich ihrem Ziel näherten. Franzosen-Pete schien noch wachsamer als zuvor und spähte ununterbrochen nach vorne in die Dunkelheit, als ob dort jeden Augenblick etwas auftauchen müßte. Joe strengte seine Augen an, sah aber nichts als schwarze Nacht.
»Die Stange!« befahl Franzosen-Pete. »Ick meine, wirr fast da!«
Frisco Kid schnallte eine lange, dünne Stange vom Kajütendach los und stieß sie, mittschiffs auf dem schmalen Deck stehend, senkrecht ins Wasser.
»Ungefähr fünfzehn Fuß!« sagte er.
»Wie ist die Boden?«
»Schlamm«, war die Antwort.
»Wart eine Moment, dann wir versucken noch mährr!«
Fünf Minuten darauf wurde die Stange wiederum an der Bordkante entlang abwärts gestoßen.
»Zwei Faden«, antwortete Frisco Kid, »Muscheln!«
Franzosen-Pete rieb sich zufrieden die Hände. »Sährr gut, sährr gut«, sagte er. »Ick immer finden die ricktige Stelle. Alte Mann ist nickt Blödmann, ganß bestimmt sicker!«
Frisco Kid hantierte weiter mit der Stange und verkündete die Ergebnisse – sehr zum Erstaunen Joes, der einfach nicht begriff, wie sie den Boden der Bucht so genau kennen konnten.
»Zehn Fuß – Muscheln«, fuhr Frisco Kid mit monotoner Stimme fort. »Elf Fuß – Muscheln. Vierzehn Fuß – weich. Sechzehn Fuß – Schlamm. Kein Grund.«
»Ah, die Fahrrinne!« merkte Franzosen-Pete an. Mehrere Minuten lang war es »Kein Grund«, dann rief Frisco Kid plötzlich: »Acht Fuß – hart!«
»'alt!« kommandierte Franzosen-Pete. »Los, nach vorn, Schoh, und 'runter mit der Klüver. Kid, mack das Anker klar!«
Joe fand das Klüverfall und warf es los. Hand über Hand holte er das flatternd herunterschießende Segel ein.
»Anker weg!« befahl der Kapitän. An kurzer Kette platschte der Anker ins Wasser. Frisco Kid warf reichlich Leine nach und machte fest. Darauf rollten sie gemeinsam die Segel zusammen, verstauten alles an seinem Platz und gingen in die Kojen.
Gegen sechs Uhr wachte Joe auf. Er kroch nach achtern in den Ruderstand und blickte sich um. Der Wind hatte aufgefrischt, und die See ging hoch. Die Blender rollte und bäumte sich auf und zerrte von Zeit zu Zeit mit grimmigem Ruck an seiner Ankerkette. Joe mußte sich an dem Mastbaum über seinem Kopf festhalten, um nicht hinzuschlagen. Es war ein grauer, bleierner Tag. Nichts sah man von der aufgehenden Sonne. Der Himmel war von gewaltigen Massen windbewegter Wolken bedeckt.
Joe hielt nach dem Land Ausschau. Es lag etwa eineinhalb Meilen entfernt – ein langer, flacher Sandstrand, gegen den eine schwere Brandung schäumend anlief. Dahinter konnte man ödes Marschland ausmachen, und in der Ferne türmten sich die Contra-Costa-Berge.
Als Joe sich nach der anderen Seite umdrehte, entdeckte er zu seiner Überraschung eine kleine Schaluppe, die, kaum hundert Meter entfernt, an ihrer Ankerkette tanzte. Sie lag fast genau in Luv. Als sie leicht herumschwang, konnte Joe den Namen an ihrem Heck lesen: Der Fliegende Holländer. Das war eins von den Booten, die er am Pier von Oakland liegen gesehen hatte. Etwas weiter links entdeckte er die Gespenst, und dahinter lag noch ein weiteres halbes Dutzend Schaluppen vor Anker.
»'aben ick nickt gesagt?«
Rasch sah sich Joe über seine Schulter um. Franzosen-Pete war vor die Kajüte getreten. Triumphierend genoß er den großartigen Anblick.
»'aben ick nickt gesackt? Alte Mann ist nickt Blödmann, 'aben ick gesackt, 'elle Sonne oder ßappenduster – ick finden ricktige Platz. Ick fühl der Platz!«
»Kriegen wir Sturm?« rief Frisco Kid aus der Kajüte, wo er gerade Feuer machte.
Prüfend betrachtete der Franzose einige Minuten lang Meer und Himmel.
»Vielleickt geht weck – vielleickt kommt wieder«, war sein unschlüssiges Urteil. »Beeil dick mit Friehstick. Wir wollen versuchen, Austern schrappen!«
Rauch stieg über den Kajüten der Schaluppen auf und zeigte an, daß man überall an die erste Mahlzeit des Tages ging. Auf der Blender war man schnell damit fertig, und schon bald hatten die beiden Jungen das Großsegel gerefft. Sie hielten sich bereit, den Anker zu lichten.
Joe wurde neugierig. Zweifellos lag das Boot nun über den Austernbänken. Aber wie in aller Welt sollten sie bei dieser groben See an die Austern herankommen? Es wurde ihm bald beigebracht. Franzosen-Pete klappte eine Planke im Boden des Ruderstandes hoch und brachte zwei dreieckige Stahlrahmen zum Vorschein. An der Spitze dieser Stahldreiecke saß ein Ring, an dem Franzosen-Pete je ein kräftiges Tau festzurrte. Die etwa zollstarken Stahlschenkel des Dreiecks standen fast im rechten Winkel zueinander und waren ungefähr eineinhalb Meter lang. Die dritte Seite des Dreiecks war das Bodenstück des Schleppkratzers – eine gut einen Meter lange Stahlplatte, in die eine Reihe starker langer Stahlzähne geschraubt war. Ein Netz aus sehr grobem Takelgarn war an der gezahnten Bodenplatte und an den beiden Seiten des Rahmens befestigt, und Joe vermutete richtig, daß mit ihm die vom Boden der Bucht losgekratzten Austern eingesammelt werden sollten.
Nachdem an jedem der beiden Kratzer eine Leine festgezurrt war, wurden sie – der eine an Steuerbord, der andere an Backbord – ins Wasser gelassen. Die Schaluppe verlangsamte spürbar ihre Fahrt, als die beiden Rahmen den Boden erreicht hatten und die Leinen sich strafften. Joe berührte eine der Leinen mit der Hand. Deutlich konnte er das Rucken, Scharren und Stoßen spüren, wenn der Rahmen über den Grund schrappte.
»Einholen!« schrie Franzosen-Pete.
Die beiden Jungen packten die Leine und hievten den Kratzer an Bord, Das Netz war mit Schlamm und Schleim und kleinen Austern gefüllt, und ein paar größere waren auch darunter. Den ganzen Matsch entleerten sie auf das Deck und durchsuchten ihn, während der Rahmen von neuem die Bank abharkte. Sie warfen die großen Austern in den Ruderstand und schaufelten den Rest über Bord. An Ausruhen war nicht zu denken. Schon mußte das andere Netz entleert werden. Und nachdem sie das erledigt und die Austern verlesen hatten, ließ Franzosen-Pete beide Rahmen einziehen, damit er die Blender über den Stag wenden konnte.
Die ganze Flotte baggerte nun auf ähnliche Art auf und ab. Manchmal kam eins der Boote ziemlich nahe heran. Dann grüßten sie hinüber, wechselten ein paar Worte miteinander oder riefen sich derbe Witze zu. Aber gleich mußten sie wieder hart anpacken. Schon nach einer Stunde tat Joe der Rücken weh von der ungewohnten Anstrengung, und da er noch sehr ungeschickt mit den Austern umging, schnitt er sich die Finger an ihren scharfrandigen Schalen blutig.
»Ricktig«, sagte Franzosen-Pete trotzdem anerkennend. »Du lernen schnähl. Särr bald du bist särr gut!«
Joe verzog sein Gesicht zu einem kläglichen Lächeln. Wenn doch nur bald Mittag wäre, wünschte er im stillen. Hin und wieder, wenn ein Netz nur geringe Beute hergab, konnten die beiden Jungen einen Augenblick Luft schöpfen und sich unterhalten.
»Das ist die Spargelinsel!« sagte Frisco Kid und zeigte zum Ufer hinüber. »Den Namen haben ihr die Fischer und Küstenfahrer gegeben. Die Einwohner selber nennen die Insel Bay Farm.« Er zeigte weiter nach rechts. »Und in dieser Richtung liegt San Leandro. Sehen kannst du es nicht – aber es ist da!«
»Bist du schon mal da gewesen?« fragte Joe.
Frisco Kid nickte. Gleichzeitig gab er Joe zu verstehen, daß er ihm beim Einholen des Steuerbordnetzes helfen möge.
»Hier die Austernbänke werden die ›wilden Bänke‹ genannt«, begann Frisco Kid dann von neuem. »Sie gehören niemand. Darum kommen die Austernräuber hierher und tun so, als ob sie die Bänke ausbeuteten.«
»Warum ›tun sie so‹? Wie soll ich das verstehen?«
»Weil sie Räuber sind – darum. Und weil viel mehr dabei 'rauskommt, wenn man die privaten Bänke plündert.«
Mit einer weitausholenden Bewegung zeigte er nach Osten und Südosten. »Die privaten Austernbänke liegen dort drüben. Wenn wir keinen Sturm kriegen, fällt die ganze Flotte heute Nacht über sie her.«
»Und wenn es Sturm gibt?« fragte Joe.
»Dann plündern wir sie nicht, und Pete kriegt die Wut. Er kriegt immer die Wut, wenn das Wetter ihm quer kommt. Sieht nicht so aus, als ob es abflauen würde, und bei Südwest ist das hier eine ganz üble Ecke. Vielleicht versucht Pete auszuhalten. Aber es ist schon besser, wir hauen ab, bevor es richtig losgeht.«
Eine Weile sah es so aus, als ob das Wetter besser werden wollte. Der steife Südwestwind ließ merklich nach, und als sie um die Mittagszeit zum Essen Anker warfen, brach die Sonne sogar hin und wieder durch die Wolkendecke.
»Sieht ja ganz hübsch aus«, unkte Frisco Kid. »Aber ich bin schließlich nicht umsonst so lange in der Bucht gefahren. Die macht sich jetzt fertig, um uns ganz gewaltig eins auszuwischen!«
»Mack sein, du hast reckt, Kid«, pflichtete Franzosen-Pete ihm bei. »Aber die Blender bleiben hier – trotzdem. Letzte Mal er mackten weck – und was war? 'errliche Wetter war in die Nackt, 'eute er mackt nickt weck, klar. Särr gut!«