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Der Wind frischte auf, als sie das Land hinter sich ließen, und bald krängte die Blender so stark, daß sein Leedeck eintauchte und das Wasser bis an die Reling des Ruderstandes schäumte. Die Positionslichter waren gesetzt. Frisco Kid hielt die Ruderpinne, und neben ihm saß Joe und sann über die Ereignisse der Nacht nach.
Nun konnte er die Augen vor den Tatsachen nicht mehr verschließen. Ängstliche Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher. Wenn er etwas Unrechtes getan haben sollte (so versuchte er sich selber zu beruhigen), dann war es aus Unwissenheit geschehen. Und er schämte sich auch eigentlich nicht so sehr des Vergangenen, empfand aber dafür um so mehr Furcht vor der Zukunft. Seine Gefährten waren Diebe und Räuber. Sie gehörten zu den Buchtpiraten, über deren verwegene Taten er die wildesten Gerüchte vernommen hatte. Und nun saß er mit einem Mal mitten unter ihnen – und was er bisher von ihnen wußte, genügte bereits, sie ins Gefängnis zu bringen. Es war ihm klar, daß dieser Umstand sie zwingen würde, ihn scharf im Auge zu behalten, damit er ihnen so leicht nicht entwischen konnte. Aber er schwor sich, trotzdem zu fliehen, und zwar bei der allerersten Gelegenheit.
An diesem Punkt wurden seine Überlegungen von einem heftigen Windstoß gestört, der die Blender so hart auf die Seite drückte, daß die See über Deck schlug. Rasch drehte Frisco Kid die Schaluppe an den Wind. Gleichzeitig fierte er das Großsegel. Dann ging er ganz allein daran, die Segel zu reffen, da Franzosen-Pete unter Deck blieb und Joe mit müßigen Händen zuguckte.
Die Bö, die die Blender beinahe zum Kentern gebracht hätte, war nur von kurzer Dauer. Aber sie kündigte stärker auffrischenden Wind an, und schon wenig später stürzte Windstoß um Windstoß von Norden her heulend auf sie ein. Das Großsegel killte und schlug und schlackerte, bis es aussah, als ob es in Fetzen reißen werde. Die Schaluppe schlingerte wild in der groben See. Es war ein tolles Durcheinander, aber selbst Joes ungeübtes Auge bemerkte, daß in diesem Durcheinander Ordnung herrschte. Joe sah, daß Frisco Kid genau wußte, was er zu tun hatte und wie er es zu tun hatte. Während er ihn beobachtete, kam er zu einer Einsicht, deren Fehlen schon so viele Menschen scheitern ließ: nämlich wie wichtig es ist, seine eigenen Fähigkeiten zu kennen. Frisco Kid wußte, was er leisten konnte, und hatte darum Vertrauen zu sich selber. Er war kühl und beherrscht; er arbeitete flink und dennoch nicht nachlässig. Pfuschen kam nicht in Frage. Jedes Bändsel steckte er mit sicherem Griff herunter. Natürlich konnte alles mögliche passieren, aber die Reffknoten würden jedenfalls nicht losgerissen werden von der nächsten Bö – und auch nicht von den nächsten vierzig.
Frisco Kid rief Joe nach vorn, wo er beim Straffen des Großsegels helfen sollte. Auf das lange Bugspriet hinauszurutschen, um den Klüver einzureffen, war dann ein Kinderspiel verglichen mit dem, was sie bereits gemeistert hatten. Schon wenige Minuten später waren sie wieder am Ruder. Unter Anleitung seines Kameraden holte Joe das Klüverschot ein, und in der Kajüte senkte er das Mittelschwert um etwa einen Fuß. Die Aufregung und die Anstrengung hatten alle unangenehmen Gedanken aus seinem Kopf verscheucht. Dem Beispiel Frisco Kids folgend, hatte er die Ruhe bewahrt. Ohne unnötiges Zögern und doch ohne zappelig zu werden, hatte er die Befehle des anderen ausgeführt. Gemeinsam hatten sie ihre bescheidene Kraft gegen die ungestümen Gewalten der Natur eingesetzt, und gemeinsam hatten sie sie überlistet.
Joe ging zu seinem Kameraden zurück, der an der Ruderpinne stand und steuerte. Er war stolz auf ihn und stolz auf sich selber, und als er das unausgesprochene Lob in Friscos Augen las, wurde er rot wie ein kleines Mädchen, das sein erstes Kompliment erhält. Aber schon im nächsten Augenblick durchfuhr ihn der Gedanke, daß dieser Junge ein Dieb war, ein ganz gemeiner Dieb; und instinktiv schauderte er vor ihm zurück.
Sein ganzes bisheriges Leben war gegen alles Harte und Häßliche abgeschirmt gewesen. Er hatte immer nur die besten Bücher gelesen, und in diesen Büchern waren Aufrichtigkeit und Anständigkeit die vornehmsten Tugenden. Er hatte gelernt, Verbrecher mit Abscheu zu betrachten. Daher rückte er ein wenig von Frisco Kid ab und schwieg. Aber Frisco Kid hatte alle Hände voll zu tun mit dem Manövrieren der Schaluppe und keine Zeit, den plötzlichen Gefühlsumschlag bei seinem Gefährten zu bemerken.
Über eins jedoch staunte Joe: der Gedanke, daß Frisco Kid ein Dieb war, stieß ihn ab, nicht aber der Junge selber. Anstatt den aufrichtigen Wunsch zu verspüren, ihm fernzubleiben, fühlte Joe sich zu ihm hingezogen. Er mußte ihn einfach gernhaben, obgleich er nicht wußte, warum. Wäre er etwas älter gewesen, dann hätte er erkannt, daß es die guten Eigenschaften des Jungen waren, die ihm Eindruck machten – seine kühle Ruhe und sein Selbstvertrauen, sein mannhafter Mut und ein gewisser freundlicher, sympathischer Zug in seinem Wesen. Da ihm diese Einsicht jedoch fehlte, glaubte er, daß er selber von Natur schlecht sei und daher Frisco Kid einfach nicht verabscheuen könne. Aber selbst während er sich seiner vermeintlichen eigenen Schwäche schämte, gelang es ihm nicht, die in ihm aufkeimende Zuneigung zu diesem einen Buchtpiraten zu ersticken.
»Zwei, drei Fuß von der Fangleine einholen!« befahl Frisco Kid, der seine Augen überall hatte, und zeigte auf das Beiboot. Das Boot hing an einer zu langen Leine und benahm sich wie toll. Immer wieder hielt es zurück, bis das Schleppseil straff gespannt war, und machte dann einen Satz nach vorne, so daß die Leine sich wieder lockerte und die Nase des Bootes in einem der Wellenschlünde unterzutauchen drohte, die die Schaluppe von allen Seiten hungrig anbrüllten. Joe kletterte über die Reling des Ruderstandes auf das schlüpfrige Achterdeck und kroch zu der Beting zurück, an der das Beiboot festgezurrt war.
»Aufpassen!« warnte Frisco Kid, als ein heftiger Windstoß die Blender erwischte und ihn gefährlich überlegte. »Schlag eine Windung um die Beting und hol ein, wenn die Leine schlapp hängt!«
Für einen Grünschnabel war das eine verflucht kitzlige Sache. Joe warf Windung um Windung bis auf die letzte ab. Das nur noch einmal um die Beting geschlagene Tau hielt er dann mit der einen Hand fest, während er es mit der anderen anzuholen versuchte. Aber genau in diesem Moment schoß das Boot in den Kamm einer gewaltigen Welle, und die Fangleine straffte sich mit einem furchtbaren Ruck. Das Tau glitt aus seinen Händen und sauste ihm über das Heck davon. Verzweifelt packte er zu. Er wurde über das abschüssige Deck gezerrt.
»Loslassen!« schrie Frisco Kid. »Laß los!«
Joe ließ los. Eine Sekunde später wäre er über Bord gegangen. Das Boot verschwand rasch achteraus. Joe blickte kleinlaut zu seinem Gefährten hinüber. Er rechnete damit, daß Frisco Kid ihn wegen seiner Ungeschicklichkeit zusammenstauchen würde. Aber der lächelte gutmütig.
»Laß gut sein«, sagte er. »Alle Knochen sind heil, und keiner ist über Bord gegangen. Ich sage immer, besser ein Boot verlieren als einen Mann. Und außerdem hätte ich dich nicht da hinausschicken sollen. Aber eigentlich ist überhaupt nichts passiert. Das Boot kriegen wir schon wieder. Geh und laß das Schwert noch ein paar Fuß tiefer fallen, und dann komm wieder 'raus, und wir werden weitersehen. Aber immer mit der Ruhe, nur nicht nervös werden, hörst du?«
Joe ließ das Schwert tiefer und kam dann zurück. Frisco Kid stellte ihn an das Klüverschot.
»Hart Lee!« schrie Frisco Kid. Er warf die Pinne herum, indem er sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen stemmte. »Loslassen! Prima! Und jetzt 'ran ans Großsegel!« Griff um Griff gingen sie gemeinsam das gereffte Großsegel an. Joe begann es warm zu werden bei der Arbeit. Wie ein Rennpferd warf sich die Blender auf der Hinterhand herum und ging mit knatternden Segeln an den Wind. Die Schote prasselten wie ein Hagelschauer.
»Hol das Klüverschot ein!«
Joe führte das Kommando aus. Das Großsegel fing wieder den Wind und zwang das Boot in die Gegenrichtung. Durch dieses Manöver kam Franzosen-Petes Koje von Lee nach Luv. Er rollte auf den Kajütenboden und blieb mit seinem besoffenen Kopf halb bewußtlos liegen. Frisco Kid, der mit dem Rücken gegen die Pinne die Schaluppe auf ihrem Kurs zu halten versuchte, betrachtete ihn angeekelt. »Der Hund!« knurrte er. »Wir könnten hier absaufen. Ihm wär' alles egal!«
Zweimal wendeten sie und versuchten, dieselbe Strecke zurückzusegeln. Dann entdeckte Joe das Beiboot, das an der Windseite in der sternklaren Nacht auf und ab tanzte. »Wir haben Zeit – Zeit genug!« stellte Frisco Kid fest. Er brachte die Blender an den Wind und verminderte allmählich die Fahrt.
»Jetzt!«
Joe lehnte sich über Bord, griff nach der Fangleine und machte sie an der Beting fest. Dann wendeten sie noch einmal und gingen wieder auf ihren alten Kurs. Joe schämte sich immer noch, weil sie seinetwegen so viel Umstände machen mußten. Aber Frisco Kid beruhigte ihn.
»Macht überhaupt nichts«, sagte er. »So was passiert jedem, der anfängt. Später vergessen die meisten ihre eigenen Dummheiten und regen sich auf, wenn ein Neuer einen Fehler macht. Ich reg' mich nie auf, weil ich mich eben erinnere, wie das war, als ich …«
Und dann erzählte er Joe von all dem Pech, das ihm widerfuhr, damals, als er ganz jung zur See ging. Und er erzählte auch von den harten Strafen, die er für sein Pech über sich ergehen lassen mußte. Er hatte einen Schlag einer Talje um den Hals der Ruderpinne geschlungen, und während sie sich unterhielten, saßen sie eng beieinander im schützenden Ruderstand.
»Was ist das da drüben?« fragte Joe, als sie an einem Leuchtturm vorbeisegelten, der von einem Vorgebirge zu ihnen herüberblinkte.
»Die Ziegeninsel. Auf der anderen Seite ist eine Übungsstation für Schiffsjungen und daneben ein Torpedobunker. Außerdem kann man da verdammt gut fischen, Kabeljau. Wir fahren in Lee vorbei, steuern dann quer hinüber und gehen im Schutz der Engelsinsel vor Anker. Auf der Engelsinsel ist eine Quarantäne-Station. Wenn Franzosen-Pete wieder nüchtern ist, werden wir erfahren, wohin er will. Hau dich jetzt in die Koje und schlaf. Ich komm' schon zurecht.«
Joe schüttelte den Kopf. Alles war viel zu aufregend für ihn, als daß er nun Lust zum Schlafen verspürt hätte. Er wollte nicht an Schlafen denken, solange die Blender tanzte und sprang und mit seinem Bug das tosende Meer in Wolken von Gischt zerschlug. Sein Zeug war schon wieder halb trocken, und es machte ihm Spaß, an Deck zu bleiben. Die Lichter von Oakland waren immer winziger geworden, bis man nur noch ihren blassen Widerschein am Himmel wahrnahm. Aber im Süden kletterten die Lichter von San Franzisko Meile um Meile bergauf und bergab. Von dem großen Fährgebäude ausgehend mit Telegraph-Hill als weiterem Orientierungspunkt konnte Joe bald alle wichtigen Bauten der Stadt erkennen. Irgendwo dort drüben, in dem Gewirr von Licht und Schatten, lag das Haus seines Vaters. Vielleicht dachten sie nun gerade an ihn, sorgten sich um ihn. Und Bessie schlief dort drüben in ihrem warmen Bett, und morgen früh würde sie aufstehen und sich darüber wundern, daß ihr Bruder Joe nicht zum Frühstück erschien.
Ihn fror. Es war schon fast Morgen. Langsam sank sein Kopf gegen Frisco Kids Schulter, und er schlief fest ein.