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Saxon und Billy fuhren in einer altertümlichen Fähre ein kleines Stück oberhalb Rio Vistas über den Sacramento und befanden sich damit im Flußlande. Was Saxon von der Höhe des Deiches aus sah, war wie eine Offenbarung. Unter ihr, niedriger als der Fluß, dehnte sich, soweit das Auge reichte, ein breites, flaches Land aus. Nach allen Richtungen gingen Wege, und sie sah zahllose Bauernhöfe, von denen sie, als sie auf dem einsamen Fluß, wenige Fuß jenseits der Weidenhecke gefahren war, nichts geahnt hatte.

Sie verbrachten drei Wochen auf den reichen Inseln, wo beständig Deiche aufgeworfen wurden und Tag und Nacht gepumpt wurde. Es war ein einförmiges Land, überall mit demselben reichen Boden, und nur mit einem einzigen Kennzeichen – dem Mount Diablo, der sich im Azur des Mittags schlummernd, groß und mächtig mit seinen krausen Konturen vom Abendhimmel abhob oder wie ein Traum aus der silberschimmernden Morgendämmerung aufstieg. Zuweilen zu Fuß, häufiger aber mit Dampfbooten kamen sie den Fluß bis zu den Torfmooren am Mittelriver hinauf und San Joaquin bis nach Antioch hinab und den Georgina Slough hinauf bis Walnut Grove am Sacramento. Aber es war wie ein fremdes Land. Es wimmelte von Tausenden von Landarbeitern, und doch waren Billy und Saxon tagelang gegangen, ohne einen einzigen Menschen zu treffen, der Englisch sprach. Sie trafen zuweilen ganze Dörfer mit Chinesen, Japanern, Italienern, Portugiesen, Schweizern, Hindus, Koreanern, Norwegern, Dänen, Franzosen, Armeniern, Slaven – fast allen Nationen außer Amerikanern. Am unteren Lauf des Georgiana trafen sie einen Amerikaner, der sich seinen Lebensunterhalt verschaffte, indem er mit Reusen fischte. Ein anderer Amerikaner, der Tod und Verderben auf alles, was mit Politik zu tun hatte, herabschwor, war wandernder Bienenzüchter. In Walnut Grove, wo Leben und Geschäftigkeit herrschten, bestanden die wenigen Amerikaner aus dem Kaufmann, dem Gastwirt, dem Schlachter, dem Speicheraufseher und dem Fährmann. Und doch waren zwei aufblühende Städte in Walnut Grove, eine chinesische und eine japanische. Der größte Teil des Bodens gehörte Amerikanern, die anderswo lebten und ihn beständig an Ausländer verkauften.

In dem japanischen Stadtteil gab es eine Prügelei oder ein Fest – was von beidem, wußten sie nicht –, als Saxon und Billy auf der »Apache« mit dem Kurs nach Sacramento den Hafen verließen.

»Ja, auf der Treppe sitzen wir schon, das ist sicher«, sagte Billy gereizt. »Und bald werden sie uns auch da herunterschmeißen.«

»Im Mondtal gibt es keine«, sagte Saxon ermutigend. Aber er war untröstlich und bemerkte bitter:

»Und nicht einer von den verfluchten Ausländern kann mit Pferden umgehen wie ich.«

»Aber auf Landwirtschaft verstehen sie sich, darauf kannst du Gift nehmen«, fügte er hinzu.

Und Saxon sah sein verdrießliches Gesicht und mußte plötzlich an eine Lithographie denken, die sie in ihrer Kindheit gesehen hatte. Sie stellte einen Indianer auf der Prärie dar, der in Kriegsbemalung und Federschmuck zu Pferde saß und verwundert einen Eisenbahnzug anstarrte, der auf den kürzlich gelegten Schienen dahinbrauste. Der Indianer war von dem neuen Leben verdrängt worden, das mit der Eisenbahn über das Land gespült war. Und, dachte sie bei sich, waren Billy und seinesgleichen vielleicht verurteilt, von diesem neuen, erstaunlich fleißigen Leben verdrängt zu werden, das von Asien und Europa hereinströmte?

In Sacramento blieben sie zwei Wochen, Billy arbeitete bei einem Fuhrmann, um Geld für die Weiterreise zu bekommen. Das Leben in Oakland und Carmel, beide an der Salzküste gelegen, hatte es ihnen unmöglich gemacht, im Innern des Landes zu wohnen. Zu warm! lautete ihr Urteil über Sacramento, und sie folgten der Eisenbahn nach Westen, durch die sumpfige Gegend bis nach Davisville. Hier wurden sie vom geraden Wege fortgelockt, und sie zogen nach Norden in das schöne Woodland, wo Billy für einen Obstfarmer fuhr und Saxon, sehr gegen seinen Wunsch, die Erlaubnis von ihm erzwang, daß sie ein paar Tage in der Obsternte arbeiten dürfte. Wenn Billy sie fragte, was sie mit dem Geld, das sie verdiente, machen wollte, tat sie sehr geheimnisvoll, und er neckte sie dann solange damit, bis er die ganze Geschichte vergaß. Sie erzählte ihm auch weder von dem Brief, den sie an Bud Strother schickte, noch daß in dem Brief ein Scheck und ein blauer Schein lag.

Sie begannen unter der Hitze zu leiden. Billy erklärte, daß sie das Klima, wo man Decken brauchte, jetzt hinter sich gelassen hätten.

»Hier gibt es keine Riesentannen«, sagte Saxon. »Wir müssen nach Westen, in der Richtung der Küste gehen. Dort werden wir das Mondtal finden.«

Von Woodland zogen sie nach Westen und Süden auf den Hauptstraßen nach dem Obstparadies von Vacaville. Hier arbeitete Billy zuerst als Obstpflücker und dann als Kutscher, und hier bekam Saxon einen Brief und ein winziges Postpaket von Bud Strothers. Als Billy nach beendetem Tagewerk zu ihr kam, gebot sie ihm, zu schweigen und die Augen zu schließen. Ein paar Minuten nestelte sie an seinem baumwollenen Arbeitshemd herum. Einmal fühlte er einen kleinen Stich wie von einer Stecknadel, und begann zu grunzen, aber sie lachte und befahl ihm, die Augen weiter geschlossen zu halten.

»Jetzt mach die Augen auf und gib mir einen Kuß«, sang sie. »Dann will ich dir etwas zeigen.«

Sie küßte ihn, und als er nachsah, was sie an seinem Hemd befestigt hatte, erblickte er die goldene Medaille, die er an dem Tage, als sie im Kino gewesen waren und die Idee, aufs Land zurückzukehren, bekommen hatten, versetzt hatte.

»Du dummes Mädel!« rief er und preßte sie heftig an sich. »So, also dazu wolltest du dein Obstgeld gebrauchen? Und davon hab' ich nicht das geringste geahnt! – Aber ich will dich lehren!«

Und sie unterwarf sich wieder dem wonnigen Zwang, der von diesem starken Manne ausging, und er preßte sie an sich und tanzte mit ihr herum, bis die Kaffeekanne überkochte, und sie sich von ihm losriß, um so viel wie möglich zu retten.

»Ich bin immer ein klein wenig stolz darauf gewesen«, gestand er, als er sich nach dem Abendessen seine Zigarette drehte. »Sie erinnert mich an meine Knabentage, als ich Amateur war und mich schlug, daß es krachte. Ich war ein tüchtiger Bengel damals – das will ich dir nur sagen. Aber weißt du was – ich habe sie ganz ausgeschwitzt. Oakland ist für mich, als trennten tausend Jahre und zehntausend Meilen dich und mich davon.«

»Dann wird dies hier es dir vielleicht wieder mehr vor Augen führen«, sagte Saxon und öffnete Buds Brief und las ihn ihm vor.

Bud hatte es als gegeben angesehen, daß Billy wußte, wie der Streik zu Ende gegangen war, und deshalb beschränkte er sich auf Einzelheiten, wie zum Beispiel die, daß er wieder angestellt und wer ausgeschlossen worden war. Zu seinem eignen Erstaunen war er selbst wieder angenommen und fuhr jetzt Billys Pferde. Noch überraschender war, was er weiter zu berichten hatte. Der alte Vorarbeiter in den Ställen war gestorben, und seitdem hatten zwei andere Vorarbeiter nur Unordnung gemacht. Das Wichtigste war, daß der Chef am selben Tage mit Bud gesprochen und sich über Billys Verschwinden beklagt hatte.

»Versteh mich ja nicht falsch«, schrieb Bud. »Der Alte kennt ausgezeichnet all die Schlachten, die du geschlagen hast. Ich möchte wetten, er weiß den Namen jedes einzigen Streikbrechers, den du verprügelt hast. Und doch sagte er zu mir: ›Strothers, wenn Sie mir seine Adresse nicht geben dürfen, so schreiben sie ihm von mir, daß er wiederkommen und einen Versuch machen soll. Ich will ihm Hundertfünfundzwanzig monatlich und die Oberaufsicht in den Ställen geben.‹«

Saxon wartete mit gut verhehlter Angst, bis er mit dem Brief fertig war. Billy, der der Länge nach auf dem Boden lag und sich auf seinen Ellbogen stützte, blies nachdenklich den Rauch in Ringen von sich. Sein billiges Arbeitshemd – es sah ganz strahlend aus im Goldglanz der Medaille, die im Schein des Feuers funkelte – stand vorne offen, so daß die glatte Haut und die stolze Wölbung der Brust zu sehen war. Er sah sich um – sein Blick schweifte über die Decken, die im Schutz eines Schirmes von Grün und Blättern ausgebreitet lagen, auf das Feuer und die schwarze verbeulte Kaffeekanne, auf die abgenutzte Axt, die halb in einem Baumstamm vergraben war, und zuletzt auf Saxon. Sein Blick fiel auf sie mit einem bedächtig forschenden Ausdruck. Aber sie half ihm nicht im geringsten.

»Ja«, sagte er schließlich, »du brauchst nur Bud Strothers zu schreiben, daß ich den Alten nebst seinem verfluchten Angebot gehenkt sehen will! Und da wir gerade mal dabei sind, so glaube ich, ich will ihm das Geld schicken, um meine Uhr auszulösen. Du kannst ausrechnen, wieviel es mit Zinsen usw. wird. Der Überzieher kann meinetwegen verfaulen.«

Aber die Hitze im Innern des Landes war nicht recht gesund für sie. Sie verloren an Gewicht. Sowohl geistig wie körperlich verloren sie ihre Spannkraft. Wie Billy sich ausdrückte – ihre Seide begann an den Rändern auszufasern. So luden sie sich denn ihre Bündel auf den Rücken und lenkten ihre Schritte westwärts über die kahlen Berge. Im Berryessatal bekamen sie direkt Augen- und Kopfschmerzen von den flimmernden Hitzewogen und wanderten deshalb nur in der frühen Morgenstunde und spät am Nachmittag. Sie gingen immer weiter nach Westen, über mehrere Berge, bis zu dem schönen Nappatal. Das nächste Tal von hier war das Sonomatal, wo Hastings seinen Hof hatte, und wo sie ihn besuchen sollten. Und sie würden auch seiner Aufforderung gefolgt sein, hätte Billy nicht zufällig in einer Zeitung eine Notiz gefunden, daß der Schriftsteller verreist war, um irgendeine Revolution zu studieren, die irgendwo in Mexiko ausgebrochen war.

»Wir können ihn ja später besuchen«, sagte Billy, als sie nach Nordwesten durch die Weinberge und Obstgärten des Nappatals abbogen. Wir sind wie der Millionär, von dem Bert immer sang, nur daß es Zeit ist, wovon wir so viel haben, daß wir nicht wissen, was damit tun. Eine Richtung kann ebensogut wie die andere sein – aber Westen ist nun doch am besten.«

Dreimal wurde Billy im Nappatal Arbeit angeboten, und dreimal lehnte er sie ab. Andererseits sah Saxon mit Freuden, daß in den kleinen Canyons, die die westliche Mauer des Tals durchschnitten, Riesentannen wuchsen. In Calistoga, wo die Eisenbahn endete, sahen sie die Post mit sechs Pferden nach Middletown und dem Lower Lake fahren. Sie berieten, welche Route sie wählen sollten. Der Weg führte nach dem Seedistrikt und nicht an die Küste, so daß Billy und Saxon weiter ostwärts durch die Berge nach dem Tal von Healdsburg wanderten, wo der Russian River entspringt. Sie gingen eine Zeitlang durch die reichen Hopfenfelder, wo Billy sich jedoch weigerte, mit Indianern und Chinesen zusammenzuarbeiten.

»Ich könnte nicht eine Stunde neben einem von ihnen arbeiten – ohne ihnen den Kopf einzuschlagen«, erklärte er. »Außerdem sieht der Fluß sehr hübsch aus. Komm, wir wollen hier Halt machen und schwimmen.«

Und so schlenderten sie denn durch das reiche, fruchtbare Tal nach Norden, und in ihrem Glück vergaßen sie ganz, daß die Arbeit eine Notwendigkeit war, während das Mondtal wie ein goldener, ferner Traum lockte, der eines Tages sicher in Erfüllung gehen mußte. In Cloverdale hatte Billy das Glück, Arbeit zu finden. Teils wegen Krankheit, teils wegen einiger Unfälle wurden Kutscher im Poststall gesucht. Täglich brachte der Zug ganze Wagenladungen von Passagieren zu den warmen Quellen, und Billy lenkte ein Gespann von sechs Pferden über die Berge, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan. Auf der zweiten Fahrt saß Saxon neben ihm auf dem hohen Kutschbock. Nach vierzehn Tagen kam der Kutscher, den er vertreten hatte, zurück. Billy wurde feste Arbeit im Stall angeboten, aber er lehnte ab, nahm seinen Lohn und wanderte in nördlicher Richtung weiter.

Saxon hatte einen jungen Foxterrier adoptiert und nannte ihn Possum, nach dem Hund, von dem Frau Hastinge ihnen erzählt hatte. Er war so jung, daß er bald wunde Füße bekam, und sie trug ihn selbst, bis Billy ihn oben auf sein Bündel band und darüber murrte, daß Possum an seinem Nackenhaar nagte, bis es ganz zerfasert war.

Sie kamen gegen Ende der Weinlese durch die Weinberge von Asti und erreichten, bis auf die Haut vom ersten Winterregen durchnäßt, Ukiah.

»Weißt du noch, wie der ›Wanderer‹ dahinflog«, fragte Billy. »Nun, ebenso geht es mit diesem Sommer – er ist direkt weggeflogen. Und jetzt müssen wir uns einen Platz zum Überwintern suchen. Ukiah scheint eine wirklich nette Stadt zu sein. Wir wollen sehen, für heute abend ein Zimmer zu finden, um unser Zeug zu trocknen. Und morgen will ich zu dem größten Fuhrmann gehen, und wenn ich Arbeit kriege, mieten wir uns hier eine Bude und können den ganzen Winter überlegen, wo wir nächstes Jahr hinwandern wollen.«

 

Dieser Winter wurde weit weniger interessant als der in Carmel verbrachte, und hatte Saxon die Bande in Carmel schon immer gern gehabt, so hatte sie sie jetzt noch lieber. In Ukiah machten sie nur ganz oberflächliche Bekanntschaften. Hier gehörten die Leute mehr der arbeitenden Klasse an wie die, welche sie in Oakland kannten, oder es waren reiche Leute und Automobilbesitzer, die nur miteinander verkehrten. Es gab keine demokratische Künstlerkolonie, die ohne Rücksicht auf Stand und Reichtum gute Kameraden abgab.

Und doch war es ein schöner Winter, schöner als je einer, den sie in Oakland verbracht hatten. Billy hatte keine feste Arbeit finden können, so daß er viel zu Hause war, und sie lebten glücklich von der Hand in den Mund in dem winzigen Häuschen, das sie gemietet hatten. Als Aushilfe bei dem größten Fuhrmann hatte Billy so viel freie Zeit, daß er ganz von selber auf den Pferdehandel kam. Das war riskant, und er befand sich nicht selten in Geldverlegenheit, aber deshalb standen auf ihrem Tisch doch immer das beste Ochsenfleisch und der beste Kaffee, und sie sparten nicht übertrieben an ihrer Kleidung.

»Die verfluchten Bauern. – Ich kann nicht mit ihnen fertig werden!« lachte er, als er eines Tages beim Pferdehandel tüchtig übers Ohr gehauen war. »Im Sommer nehmen sie Pensionäre, und im Winter verdienen sie dicke, indem sie sich gegenseitig mit Pferden betrügen. Und ich will dir nur sagen, Saxon, sie haben mich manches hübsche Ding gelehrt. Ich bin ihnen tüchtig nachgekommen, und sie sollen nicht lange mehr Türen mit mir einrennen – darauf kannst du Gift nehmen. Und es ist ein neues Handwerk, das ich gelernt habe. Ich kann mir jetzt überall mein Brot mit Pferdehandel verdienen.«

Billy nahm Saxon oft auf einem überflüssigen Reitpferd aus dem Stall mit, und sein Pferdehandel ließ ihn viel im Land umherschweifen. Sie begleitete ihn auch oft, wenn er mit Pferden fuhr, die ihm zum kommissionsweisen Verkauf übergeben waren. Und beide begannen, unabhängig voneinander, um eine neue Frage bezüglich ihrer Pilgerfahrt zu kreisen. Billy war es, der sie zuerst aufs Tapet brachte.

»Ich bin neulich über einen Wagen gestolpert – er steht irgendwo in der Stadt, und ich habe seither darüber nachgedacht. Es hat keinen Zweck, daß ich dich raten lasse, denn das kannst du nicht. Aber hör zu. Es ist ein richtiger Reisewagen und so fein, wie ich nie einen gesehen habe. Wahrhaftig, er ist so stark wie ein Haus. Er ist am Puget Sound gemacht und ist den ganzen Weg hierher gefahren. Alles kann man ihm zumuten, und er kann alles transportieren. Der arme Kerl, der ihn sich bauen ließ, hatte Schwindsucht. Er hatte einen Arzt und einen Koch mit auf der Reise, aber hier in Ukiah ging er um die Ecke, und das ist zwei Jahre her. Wenn du ihn doch nur sehen könntest! Er hat alle möglichen Bequemlichkeiten – und Platz für alles mögliche – ja, es ist ein ganzes Haus auf Rädern. Wenn wir ihn bekämen und ein paar Mähren dazu, dann könnten wir wie die Könige reisen und auf das Wetter pfeifen.«

»Ach Billy, davon habe ich den ganzen Winter geträumt. Das wäre herrlich! Und – nun ja, manchmal, wenn wir auf der Wanderung sind, weiß ich nicht recht, ob du nicht vergißt, was für ein nettes Frauchen du hast. Aber wenn wir einen solchen Wagen hätten, dann könnte ich doch alles mögliche Hübsche mitnehmen.«

In Billys Augen trat ein warmer Schimmer, der sich wie eine Wolkendecke über das tiefe Blau zog, und sie waren brennend wie eine Liebkosung, als er ruhig antwortete:

»Daran habe ich auch schon gedacht.«

»Und du könntest deine Büchse und eine Schrotflinte und Angelruten und alles mögliche mitnehmen«, fuhr sie schnell fort. »Und eine richtige Axt statt des kleinen Dinges, über das du immer klagst. Und Possum kann sich immer ausruhen. Und – aber wenn du ihn nun nicht kaufen kannst? Wieviel verlangen sie?«

»Hundertundfünfzig blanke Dollar«, antwortete er, »aber das ist für den Wagen gar nichts. Dafür ist er direkt geschenkt. Ich sage dir, er hat wenigstens vierhundert gekostet, und ich kann schon sehen, ob solch ein Wagen gut gearbeitet ist – ja, im Dunkeln sogar. Ich könnte jetzt das Geschäft mit Caswells sechs Pferden machen – ja, du merkst doch, daß ich gerade heute mit dem Pferdeaufkäufer zusammengekommen bin. Wenn er sie kauft, wo, glaubst du, schickt er sie dann hin? An den Alten in Oakland. Du sollst ihm einen Brief schreiben. Ich kann schon hin und wieder Pferde billig kriegen, und wenn der Alte darauf eingeht, verdiene ich die übliche Händlerprovision. Aber er muß mir natürlich eine ganze Menge Geld anvertrauen, und das wird er nicht tun, wenn er an all die Streikbrecher denkt, die ich verprügelt habe.«

»Wenn er dir die Aufsicht über seinen Stall geben will, wird er wohl auch keine Angst haben, dir Geld anzuvertrauen«, sagte Saxon.

Billy zuckte die Achseln, als verböte seine Bescheidenheit ihm, ihr zu glauben.

»Nun ja, wenn ich, wie gesagt, Caswells sechs Pferde verkaufen kann, dann können wir alle Rechnungen für diesen Monat hinausschieben und den Wagen kaufen.«

»Aber Pferde?« fragte Saxon besorgt.

»Die kommen – hinterher – und wenn ich für zwei oder drei Monate feste Arbeit übernehmen soll. Das einzige dumme ist, daß es ziemlich spät im Sommer wird, ehe wir weiterreisen können. Aber komm jetzt mit zur Stadt – dann zeige ich dir den Wagen und die Wagenausrüstung.«

Saxon sah den Wagen und war so begeistert, daß sie in Erwartung und Spannung eine schlaflose Nacht verbrachte. Dann wurden Caswells sechs Pferde verkauft, die Rechnungen einen Monat hinausgeschoben, und der Wagen gehörte ihnen. An einem Regenmorgen, zwei Wochen später, begab Billy sich für den ganzen Tag aufs Land, um sich nach Pferden umzusehen, aber er hatte sich kaum verabschiedet, als er auch schon wiederkam.

»Komm!« rief er Saxon von der Straße aus zu. »Zieh dich an und komm. Ich möchte dir gern etwas zeigen.«

Er fuhr mit ihr zu einem Stall am andern Ende der Stadt und zeigte ihr einen großen eingehegten, überdachten Raum hinter dem Hause. Hier führte er sie zu zwei starken, flammenden, kastanienbraunen Pferden mit weißgelben Mähnen und Schweifen.

»Ach, wie schön die sind! Wie schön die sind!« rief Saxon und drückte ihre Wange an das sammetweiche Maul des einen, während das andere sie schelmisch mit dem Kopf anstieß, um auch sein Teil zu bekommen.

»Ja, nicht wahr?« sagte Billy begeistert und ließ sie vor ihrem bewundernden Blick traben. »Dreizehnhundertundfünfzig jedes – aber sie wirken gar nicht so schwer, so fein sind sie gebaut. Ich wollte es gar nicht glauben, ehe ich sie auf der Wage hatte. Zweitausendsiebenhundertundsieben Pfund alle beide. Ich habe sie vor zwei Tagen auf dem Lande probiert. Gute Pferde, fehlerlos, sie ziehen gut und sind Autos und alles andere gewohnt. Ich möcht' wetten, daß sie besser ziehen als irgendein Gespann, das ich je gesehen habe. – Sag, wie, meinst du, würden sie sich vor unserm Wagen ausnehmen?«

Saxon sah es im Geiste und schüttelte langsam bedauernd den Kopf, als ihr aufging, wie unmöglich das war.

»Sie sind für dreihundert bar zu haben«, fuhr Billy fort, »und es ist ein verflucht guter Kauf. Der Besitzer braucht das Geld so notwendig, daß er ganz versessen darauf ist. Er ist gezwungen, sie zu verkaufen – und das sofort, und Saxon, bei Gott, man könnte auf einer Auktion in der Stadt fünfhundert dafür kriegen. Sie sind beide Stuten, Schwestern, fünf und sechs Jahre alt, Abkommen eines registrierten Belgiers und einer schweren Rassestute, die ich gut kenne. Sie sind für dreihundert zu haben, und ich habe sie drei Tage an der Hand.«

Jetzt wurde Saxons Bedauern von ehrlichem Zorn abgelöst.

»Aber warum zeigst du sie mir denn? Wir haben doch keine dreihundert, und das weißt du gut. Alles, was ich im Hause habe, sind sechs Dollar, und du hast nicht einmal so viel.«

»Du meinst vielleicht, daß ich dich nur deshalb hergebracht habe«, antwortete er geheimnisvoll. »Aber so ist es doch nicht.«

Er hielt inne, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und trat verlegen von einem Fuß auf den andern.

»Hör jetzt zu, bis ich dir alles erzählt habe – ehe du etwas sagst. Verstanden?«

Sie nickte.

»Und du öffnest nicht den Mund?«

Diesmal schüttelte sie nur gehorsam den Kopf.

»Es hängt nämlich so zusammen«, begann er zögernd. »Da ist ein junger Bursche, der von San Franzisko hergekommen ist – sie nennen ihn den ›jungen Sandow‹ – und den ›Stolz von Telegraph Hill‹. Er ist ein glänzender Schwergewichtsboxer, und er sollte Sonnabend mit Montana Red kämpfen, aber da hat Montana Red sich gestern beim Training den Arm gebrochen. Die Leute, die den Kampf arrangieren, haben nichts davon gesagt, und sie schlagen jetzt folgendes vor: Es sind viele Billets verkauft, und das Haus wird Sonnabend ausverkauft sein. Um die Leute nicht anzuführen, wollen sie mich im letzten Augenblick Montanas Platz einnehmen lassen. Ich bin hier ganz unbekannt. Nicht einmal der junge Sandow kennt mich. Er ist erst nach meiner Zeit aufgetaucht. Ich werde als Bauernboxer auftreten und kann mich ja den Pferderoberts nennen.

Nun warte einen Augenblick! Der Gewinner bekommt dreihundert richtige Menschendollar. Ja, warte nur, jetzt kommt es. Es ist die reine Leichenfledderei. Sandow ist ein mutiger Kerl – einer von denen, die auslangen und gut festhalten. Ich habe seine Karriere in den Zeitungen verfolgt. Aber er ist nicht gerissen. Ich bin langsam, das stimmt schon, aber ich bin gerissen, und ich kenne Sandow und weiß, wie ich mit ihm fertig werden soll.

Sieh, jetzt mußt du entscheiden. Wenn du ja sagst, gehören die beiden Pferde uns. Wenn du nein sagst, dann wird nichts aus dem Boxkampf, und dann arbeite ich als Stallknecht, bis ich mir ein Paar Mähren verdient habe. Aber vergiß nicht, es werden nur Mähren! Sieh mich nicht an, während du deinen Entschluß faßt. Guck die Pferde an.«

Saxon sah die schönen Tiere an und wußte weder ein noch aus.

»Sie heißen Hazel und Hattie«, warf Billy pfiffig ein. »Wenn wir sie kriegen, könnten wir sie die beiden H's nennen.«

Aber Saxon vergaß das Gespann und sah nur Billys furchtbar zerschlagenen Körper vor sich, wie er an dem Abend nach dem Boxkampf mit dem »Schrecken von Chikago« ausgesehen hatte. Sie wollte gerade etwas sagen, als Billy, dessen Blick nicht von ihren Lippen gewichen war, einfiel:

»Spann sie nur einmal in Gedanken vor unsern Wagen, wie das aussieht. Es gibt nicht viele, die sie ausstechen können.«

»Aber du bist doch gar nicht im Training«, sagte sie plötzlich, ohne daß sie es hatte sagen wollen.

»Hm?« sagte er höhnisch. »Das ganze letzte Jahr bin ich doch wohl halb im Training gewesen. Meine Beine sind wie Eisen. Sie halten mich, solange ich auch nur die geringsten Kräfte in meinen Armen habe, und die habe ich stets. Außerdem lasse ich ihn nicht sehr lange schlagen. Er ist ein Draufgänger, und Draufgänger sind gerade etwas für mich. Die fresse ich lebendig. Gerissene Burschen mit Rückgrat und Ausdauer sind es, mit denen ich nicht fertig werde. Aber dieser junge Sandow ist gerade etwas für mich. Ich werde in der dritten oder vierten Runde mit ihm fertig – verstehst du, ich nehme ihn aufs Korn, fahre auf ihn los und erledige ihn. Das ist so sicher wie etwas, sage ich dir. Weiß Gott, Saxon, es ist beinahe eine Schande, das Geld zu nehmen.«

»Aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß du so furchtbar mißhandelt werden sollst«, sagte sie, wie um Zeit zu gewinnen. »Wenn ich dich nicht so heiß liebte, wäre es vielleicht etwas anderes. Aber du könntest doch Schaden nehmen.«

Billy lachte, stolz und übermütig im Bewußtsein seiner Jugend und seiner Muskeln.

»Du wirst gar nicht wissen, daß ich überhaupt gekämpft habe, nur dadurch, daß wir dann Hazel und Hattie besitzen. Und im übrigen, Saxon, muß ich einmal irgend jemand meine Faust ins Gesicht stecken. Du weißt, daß ich monatelang fromm und sanft wie ein Lamm sein kann, dann aber beginnen mir plötzlich die Fäuste zu jucken. Und sieh, da ist es doch viel vernünftiger, den jungen Sandow zu verprügeln und Dreihundert dafür zu kriegen, als irgendeinen Bauernlümmel zu vermöbeln, vor Gericht geschleppt und zu einer Strafe verknackt zu werden. Guck dir noch einmal Hazel und Hattie an. Sie sind ein prächtiges Inventar für einen Bauernhof und werden großartig ins Mondtal passen. Sie sind auch schwer genug, daß man sie vor den Pflug spannen kann.«

An dem Abend, als der Kampf stattfinden sollte, trennten Saxon und Billy sich um viertel nach acht. Um viertel nach neun, als sie mit warmem Wasser, Eis und allem andern bereit saß, ihn zu empfangen, hörte sie die Pforte zuschlagen und Billys Schritte auf der Treppe. Sie hatte gegen ihre Überzeugung die Einwilligung zum Kampf gegeben und es jede Minute, die sie hier wartete, bereut, und als sie die Tür öffnete, war sie auf alles mögliche vorbereitet. Aber der Billy, den sie sah, war genau wie der Billy, der sich von ihr verabschiedet hatte.

»Aber gab es denn keinen Kampf?« rief sie, so offensichtlich enttäuscht, daß er laut lachte.

»Sie heulten alle: »Schiebung! Schiebung!«, als ich ging und wollten ihr Geld wieder haben.«

»Nun, ich habe doch jedenfalls dich«, lachte sie, ihn in die Stube ziehend, aber im geheimen sagte sie mit einem Seufzer Hazel und Hattie Lebewohl.

»Aber ich habe unterwegs etwas für dich gekauft, was du dir lange gewünscht hast«, sagte Billy gleichgültig. Mach die Hand auf und die Augen zu, und wenn du sie aufmachst, sollst du etwas Großartiges sehen.«

Etwas sehr Schweres und sehr Kaltes wurde in ihre Hand gelegt, und als sie die Augen öffnete, sah sie, daß es ein Stapel Zwanzig-Dollar-Stücke war.

»Ich sagte dir ja, daß es die reine Leichenfledderei wäre«, sagte er triumphierend, als er lachend aus dem Wirbelwind von Puffen und Stößen und Umarmungen auftauchte, in den sie ihn hineingerissen hatte. »Es gab gar keinen Kampf. Willst du wissen, wie lange es dauerte? Nur siebenundzwanzig Sekunden – weniger als eine halbe Minute. Und wieviel Stöße ausgeteilt wurden? Nur einer! Und ich war es, der die Ohrfeige gab. Komm, jetzt will ich es dir zeigen. Es war nur so – ja, es war einfach zum Lachen!«

Billy stand, etwas vorgebeugt, mitten in der Stube, das Kinn gegen die schützende linke Schulter gedrückt, mit geballten Fäusten, die Ellbogen eingezogen, um die linke Seite des Unterleibs zu schützen, und die Unterarme dicht an den Körper gepreßt.

»Es ist die erste Runde«, erklärte er. »Die Glocke läutet, und wir haben uns die Pfoten gedrückt. Selbstverständlich haben wir keine Eile, da es ein langer Kampf ist und wir einander nie in Tätigkeit gesehen haben. Wir fühlen uns gegenseitig vor, und gehen so um einander herum. Das dauert siebzehn Sekunden, ohne daß ein einziger Schlag fällt – nicht einer. Und da auf einmal ist es aus mit dem großen Schweden. Ich brauche einige Zeit, um es zu erzählen, aber es geschah alles im Handumdrehen, in weniger als einer Zehntelsekunde. Ich hatte es selbst nicht erwartet. Wir waren schrecklich dicht aneinander. Sein linker Handschuh ist nicht einen Fuß von meinem Kinn entfernt, und mein linker Handschuh nicht einen Fuß von seinem. Er tut, als wolle er mit der Rechten auslangen, und ich weiß, daß er nur so tut, mache die linke Schulter ein bißchen krumm und fahre mit meiner rechten Hand vor. Dabei kommt er ungefähr einen Zoll aus der Verteidigungsstellung heraus, und ich nehme die Gelegenheit wahr. Meine Linke ist nicht einen Fuß von ihm entfernt, und ich halte sie nicht zurück. Ich setze sie von dort aus, wo sie sich befindet, in Gang, drehe sie wie einen Korkenzieher um seine rechte Verteidigungsstellung und schwinge mich in der Hüfte, um das Schultergewicht in den Schlag zu kriegen. Und es stimmt! Gerade auf die Spitze vom Kinn. Er fällt um wie ein Lamm. Ich gehe wieder in meine Ecke, und weiß Gott, Saxon, ich muß doch bei mir grinsen, es war so einfach. Der Richter bleibt stehen und zählt, er verzieht nicht eine Miene. Die Zuschauer wissen nicht, was sie glauben sollen und sitzen wie gelähmt da. Seine Sekundanten tragen ihn in seine Ecke und setzen ihn auf den Stuhl. Aber sie müssen ihn festhalten, damit er nicht fällt. Fünf Minuten darauf schlägt er die Augen auf – aber er sieht nichts. Sie sind wie gebrochen. Noch fünf Minuten, und er steht aufrecht. Sie müssen ihn halten, und seine Beine knicken wie Würste unter ihm zusammen. Und die Sekundanten müssen ihm aus dem Seil heraushelfen, und sie gehen durch den Mittelgang bis zu seiner Kabine, und immer noch müssen sie ihn stützen. Da beginnt der ganze Chor zu rufen, es sei Schiebung, und sie wollen ihr Geld wiederhaben. Siebenundzwanzig Sekunden – ein Schlag – und ein feines Gespann für die beste Frau, die Billy Roberts je in seinem Leben gehabt hat.«

Die Freude, die Saxon schon immer an dem Körper ihres Mannes empfunden hatte, erwachte in diesem Augenblick zu neuem, vielfältigen Leben. Er war in Wahrheit ein Held, würdig der Schar, die mit ihren Flügelhelmen aus den spitzschnäbligen Booten auf den blutigen englischen Strand sprang.

Am nächsten Morgen wurde er durch einen Kuß geweckt, den sie auf seine linke Hand drückte.

»Ha! Was tust du?« fragte er.

»Ich gebe Hazel und Hattie einen Guten-Morgen-Kuß«, antwortete sie mit ehrbar niedergeschlagenen Augen. »Und jetzt will ich auch dich zum Guten Morgen küssen. – Und wo hat der Schlag getroffen? – Zeig' es mir.«

Billy tat, wie sie wünschte, und berührte die Spitze ihres Kinns mit seinen Knöcheln. Mit beiden Händen schob sie seine Hand zurück und versuchte sie dann vorwärts zu reißen, so daß es ein Stoß wurde. Aber Billy leistete Widerstand.

»Wart einen Augenblick!« sagte er. »Du willst doch nicht, daß ich dir das Kinn ganz zerschlage. Ich will es dir zeigen. Ich kann es mit einem viertel Zoll tun.«

Und aus einer Entfernung von einem viertel Zoll traf er ihr Kinn mit einem winzigen Stoß.

Im selben Augenblick kam ein weißer Funke; es war, als spränge etwas in ihrem Hirn, während ihr ganzer Körper erschlaffte, gefühllos, schwach und willenlos wurde und ihre Augen sich verschleierten und ihre Sehkraft verloren. Im nächsten Augenblick aber kam sie wieder zu sich, und ein entsetzter, verständnisvoller Ausdruck war in ihren Augen.

»Du trafst ihn aus einer Entfernung von einem Fuß«, murmelte sie mit Andacht in der Stimme.

»Ja, und mit meinem ganzen Schultergewicht obendrein«, lachte Billy. »Ach, das ist gar nichts! – Jetzt will ich dir etwas anderes zeigen.«

Er suchte und fand ihren Solar Plexus, den er leicht mit dem Mittelfinger antippte. Dieses Mal war es, als würde sie am ganzen Körper gelähmt, und ihr Atem stockte, wohingegen ihr Gehirn und ihre Sehkraft vollkommen klar blieben. Und ungefähr im selben Augenblick waren auch diese ungewohnten Gefühle schon verschwunden.

»Ja«, meinte Billy, »jetzt kannst du dir vielleicht denken, wie es ist, wenn der andere von den Knien aus stößt, das war der Stoß, der Bob Fitzsimmons seine Weltmeisterschaft verschaffte.«

Saxon schauderte, ließ es sich aber doch gefallen, daß Billy scherzend alle Schwächen der menschlichen Anatomie an ihr selbst demonstrierte. Er preßte die Spitze eines Fingers an eine Stelle mitten an ihrem Unterarm, und sie fühlte einen wahnsinnigen Schmerz. Zu beiden Seiten des Halses, unterhalb der Stelle, wo er begann, drückte er ganz leicht mit seinem Daumen, und sie fühlte ihr Bewußtsein schwinden.

»Das ist einer von den Todesgriffen der Japaner«, sagte er und fuhr fort, wobei er die verschiedenen Griffe und Stöße andauernd mit Kommentaren begleitete. »Dies ist der Zehenstoß, mit dem Gotch Hackenschmidt erledigte. Den habe ich von Farmer Burns gelernt. Und dies ist ein halber Nelson, ja, und denk dir jetzt, du machst Skandal in einem Ballsaal, und ich bin Festleiter und soll dich hinauswerfen.«

Mit der einen Hand griff er um ihr Handgelenk, und mit der andern um ihren Unterarm, worauf er wieder sein eigenes Handgelenk packte. Bei dem geringsten Druck hatte sie das Gefühl, daß ihr Arm ein Pfeifenrohr war, das zerbrechen wollte.

»Das nennt man: ›Komm mit!‹ und hier ist der ›starke Arm‹. Ein Junge kann mit diesem Griff einen Mann werfen. – Und wenn jemand sich mit einem andern prügelt, und seine Nase gerät ihm zwischen die Zähne, und man will ja nicht gern seine Nase verlieren, nicht wahr? Ja, dann macht man das hier, so schnell wie der Blitz.«

Sie schloß unwillkürlich die Augen, als Billy die Daumenspitzen darauf drückte. Sie konnten den fliegenden Schmerz fühlen, der einer dumpfen, furchtbaren Qual vorausging.

»Und wenn er dann noch nicht losläßt, dann preßt man hart zu, und seine Augen fallen ihm aus dem Kopf, und er wird stockblind für den ganzen Rest seines Lebens. Ach, er soll schon loslassen.«

Er ließ sie los, und sie lehnte sich lachend zurück.

»Wie fühlst du dich?« fragte er. »Das sind zwar keine richtigen Boxertricks, aber sie kommen einem sehr zu statten, wenn man mal in eine Schlägerei gerät.«

»Ich fühle, daß ich mich rächen muß«, sagte sie und versuchte, den ›Komm-mit‹-Griff an seinem Arm anzuwenden.

Als sie aber zudrücken wollte, schrie sie laut vor Schmerz, denn sie tat sich nur selber weh. Billy grinste über ihre fruchtlosen Anstrengungen. Sie grub ihre Daumen in seinen Hals, um einen japanischen Todesgriff auszuführen, und sah mit tiefstem Bedauern ihre gebogenen Nägel. Sie klopfte ihn hart auf die Spitze des Kinns und schrie wieder laut, dieses Mal, weil sie sich ihre Knöchel geschlagen hatte.

»Das kann mir aber jedenfalls nicht weh tun«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen, und schlug mit der geballten Faust auf seinen Solar Plexus.

Billy brüllte direkt vor Lachen. Unter dem Überzug von Muskeln, der wie ein eiserner Panzer wirkte, war das verhängnisvolle Nervenzentrum vollkommen unzugänglich.

»Nur weiter, nur immer weiter!« spornte er sie an, als sie, vor Anstrengung stöhnend, den Kampf aufgab. »Es ist ein so komisches Gefühl, als ob du mich mit einer Feder kitzeltest.«

»Na ja, Verehrtester!« sagte sie drohend. »Du kannst, so viel du willst, von deinen Griffen, Totschlägen usw. reden, aber das tun die Männer alle. Ich weiß etwas, das mehr ist als alles andere, und das einen starken Mann so hilflos wie ein Kind macht. Warte nur einen Augenblick. So! Mach die Augen zu. Fertig? Es dauert nur einen Augenblick.«

Er wartete mit geschlossenen Augen, und so weich wie Rosenblätter, die zu Boden fallen, berührten ihre Lippen seinen Mund.

»Ich gebe mich besiegt«, sagte er ernst und begeistert und schloß sie in seine Arme.

* * *

 


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