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Das Geschlechtsleben der Menschen ist bis in geschichtliche Zeiten hinauf ungeordnet und wahllos gewesen. Jede Frau – wahrscheinlich innerhalb eines Stammes – gehörte jedem Manne an. Herodot berichtet von Männer- und Weibergemeinschaft noch aus historischer Zeit, zumindest bei einigen weit voneinander lebenden Völkern, wie Massageten und Äthiopiern. Ob solche Zustände auf der ganzen Erde bestanden haben, ist zweifelhaft, es wird von neueren Ethnologen, besonders von Westermarck, bestritten. Über jeden Zweifel ist erhaben, daß geschlechtliche Vermischung in irgendwelchen, sei es auch eingeschränkten Formen, wie der Gruppenehe, dem Tauschen und Verleihen der Frauen oder sonstwie, bestanden hat.
Da die Verwandtschaft der Mutter mit ihren Kindern von Natur gegeben war, mußte die erste menschliche Familie um die Mutter geschart sein, die Mutter als das natürliche Oberhaupt anerkennen. Und auch später, als schon der ursächliche Zusammenhang der väterlichen Zeugung mit der Geburt erkannt war – er leuchtet ja nicht ohne weiteres ein –, ist es lange so geblieben. In allen Ländern der Mittelmeerkultur, besonders in Lykien, Kreta und Ägypten, ist die Vorherrschaft des Mütterlich-Weiblichen vor dem Männlichen in Familie und Staat gut bezeugt, sie hat ihre Abspiegelung in den orientalischen Naturreligionen sowohl bei Semiten als auch bei Indogermanen gefunden und ist in die griechische Götterlehre mit aufgenommen worden. Es ist das Verdienst Bachofens, dieses wichtige Stadium im Geschlechtsverhältnis der Menschen erkannt und nachgewiesen zu haben. »Ausgehend von dem gebärenden Muttertum, dargestellt durch ihr physisches Bild, steht die Gynäkokratie ganz unter dem Stoff und den Erscheinungen des Naturlebens, denen sie das Gesetz ihres inneren und äußeren Daseins entnimmt, fühlt sie lebendiger als spätere Geschlechter die Unität alles Lebens, die Harmonie des Alls, welcher sie noch nicht entwachsen ist ... In allem den Gesetzen des physischen Seins gehorsam, wendet sie ihren Blick vorzugsweise der Erde zu, stellt die chtonischen Mächte über die des uranischen Lichtes.« – Die Kinder sind der Mutter entsprossen wie die Pflanzen der Erde, und die mütterlichen Gottheiten, die Mächte der unerschöpflichen Fruchtbarkeit, Gäa, Demeter und Isis, werden verehrt. Diese Menschen fühlen sich noch durchaus als Teile der Natur, sie haben den Glauben, aus der Natur herauszutreten und selbständig etwas gegen sie zu erschaffen, noch nicht gefaßt, sie neigen sich gehorsam dem allgemeinen Kreislauf, denn sie empfinden sich selbst nicht als einzelne, ringsum abgeschlossene Individuen, sie sind Glieder des Stammes, vor dessen Leben das fragmentarische Leben des einzelnen nichts bedeutet, die Familie, die um die Mutter aufwächst, und der Stammesverband sind die eigentliche Einheit – wie der Bienenschwarm und nicht die einzelne Biene erst ein Ganzes ausmacht. Ihre Gemeinschaften stehen noch durchaus innerhalb der Natur, sie haben kein geistiges Leben und keine Geschichte; denn geistige Wertschöpfung und Kultur, die das historische Leben erst begründen, sind an die Überwindung des naturhaften Daseins geknüpft. Die Differenzierung der Menschen voneinander hat noch kaum eingesetzt, einer gleicht dem andern in seinem Aussehen, aber auch in seinem Fühlen und Tun (vergleichbar den heutigen zivilisierten Ostasiaten).
In den Mittelmeerländern (ebenso wie in Indien und Babylonien) findet das erste Stadium des sexuellen Verhaltens, die regellose, unpersönliche Vermischung, ihren durch die Religion geheiligten Ausdruck in den jährlich wiederkehrenden Frühlingsfesten des Adonis und Dionysos, der Mylitta, Astarte und Aphrodite. Die absolute geschlechtliche Zügellosigkeit, die sich wahllos ergießende Fruchtbarkeit wurde gefeiert. Jede Frau mußte sich jedem Manne hingeben, der Mensch beging die wiedererwachende Zeugungskraft der Erde als Geschöpf der Natur in hemmungsloser Brunst. Er wollte nichts anderes sein als die Pflanzen, die ihren Samen in die Winde streuen – wo neues Leben entstand, wurde nicht gefragt, durfte nicht gefragt werden. Je intensiver die allgemeine Vermischung stattfand, desto vollkommener wurde der Sinn dieser unpersönlichen Geschlechtlichkeit erfüllt. Die gestaltlosen Mächte der Lust und der wuchernden Vegetation hätten die Individualisierung des Triebes nimmer geduldet. Nicht das Verhältnis eines Mannes zu einer Frau, die an Individuen gebundene, von Individuen beherrschte Geschlechtlichkeit wird bei diesen Orgien begangen, sondern die möglichst vollständige Vereinigung des Männlichen und des Weiblichen, das sich im Menschen wie in der Natur offenbart. Und diese Entfesselung des Triebes wird nicht etwa symbolisch empfunden; dazu hätte der Mensch als geistiges Wesen der Natur gegenüber treten müssen und ihr Walten durch sein eigenes Tun bildlich und umformend widerspiegeln: er will vielmehr die Natur in sich selbst erfüllen. Vor der Majestät des Geschlechtes, das in den gestaltlosen Urmüttern Rhea, Demeter, Kybele und ihren menschlichen Sprößlingen, dem phallischen Dionysos und der hundertbrüstigen ephesischen Göttin angebetet wird, verschwindet der einzelne Mensch in seiner jämmerlichen, hinfälligen Begrenztheit – das Geschlecht ist unsterblich, das Geschlecht und der Urstoff, die ὕλη, die Aristoteles dem εἶδος, der Gestalt entgegensetzt. »Der Körper stammt vom Weiblichen her, die Seele vom Männlichen.« – Entstehen und Wieder-Vergehen, ohne Sinn, ja ohne bestimmte Richtung, das ist der Inhalt dieser alten Kulte, unermüdliche Vereinigung der Geschlechter ihr Gottesdienst. Zwischen den Generationen aber gibt es nur das natürliche Band der Mutterschaft, das erste, das die Menschheit kennt und das sie nicht als konkrete Beziehung zwischen einzelnen Individuen, sondern als allgemeine mütterliche Naturkraft fühlt. Die Herrinnen dieses Kultes, das sind die Mütter im Faust, die grenzenlosen, formlosen, außer Zeit und Raum thronenden und daher unsterblichen Gebärerinnen und Hüterinnen alles Menschenseins. Vor ihrer schweigenden Größe wird der Wunsch des Mannes, seine Grenzen zu finden und zu wahren, Form und Individualität zu gewinnen, Frevel; sie gewähren Unsterblichkeit im Geschlecht – über das persönliche Eigenleben haben sie den Fluch des Todes verhängt.
Der Widerhall des Mutterrechtes ist in den Religionen Westasiens und Ägyptens nachweisbar. Die großen Göttinnen der Fruchtbarkeit hatten unendliches Leben, die zu ihnen gehörigen männlichen Gottheiten Adonis, Attis, Osiris starben Jahr für Jahr im Herbst und wurden im Frühling neu geboren – waren vergänglich. In Ägypten haben sich mutterrechtliche Verhältnisse bis in die Römerzeit erhalten, so daß noch ein später Schriftsteller wie Diodorus Siculus davon weiß. Die so merkwürdige und für uns anstößige Geschwisterehe, die nicht nur in der königlichen Familie, sondern durchwegs üblich gewesen ist, erklärt sich (nach J. Nietzold, Die Ehe in Ägypten zur ptolemäisch-römischen Zeit, und Frazer, Adonis, Attis, Osiris) dadurch, daß die Tochter Erbin war und der Sohn nur den Besitz wahren konnte, wenn er seine Schwester und mit ihr das Gut heiratete. »Solche Ehen sind die Regel und nicht die Ausnahme.« (Frazer.) Die Verbindung des Osiris mit seiner Schwester Isis erhebt dieses Verhältnis in die Götterwelt und entspricht der Geschwisterehe Zeus-Hera. (Auch die Inkas von Peru haben regelmäßig ihre Schwester geheiratet.)
Diesem Stadium der vaterlosen Naturzeugung entsprechen die philosophischen Lehren, die alles Geschaffene aus den Elementen aus Erde oder Wasser, hervorgehen lassen. Die spätere Zeit findet ein geistiges Prinzip, ein Werden oder ein unveränderliches Sein, endlich den Widerstreit zwischen Geist und Materie.
Jeder Versuch, die allgemeine Sexualität einzuschränken, mußte in diesem Stadium als verbrecherisch und irreligiös empfunden werden. Jungfräulichkeit wurde von den Göttern der Lust und der Zeugung nicht geduldet, ihr Opfer war – besonders bei den semitischen Völkern und den Indern – Pflicht, der Gott selbst nahm in Gestalt seines ehernen männlichen Bildnisses den Erstling der Mädchen in Empfang. Sein Amt wurde später von den Priestern übernommen und lange ausgeübt.
Gegen die Sexualität, die nicht auf dem Verhältnisse zwischen Mann und Frau, sondern auf der Vereinigung von Männlichkeit und Weiblichkeit beruhte, erhoben sich in dem Augenblick Widerstände, als es Menschen gab, die anfingen, sich als abgeschlossene Individuen zu fühlen. Solange die Ähnlichkeit zwischen den Stammesgenossen so groß war, daß sie alle individuellen Unterschiede bis zur Gleichförmigkeit überdeckte, lag kein Grund vor, beim Geschlechtsverkehr zu wählen. Jede Frau war jedem Manne recht, wobei eine gewisse, physiologisch begründete Auswahl wirksam gewesen sein wird, die gesunden, jugendlichen und kräftigen Individuen werden immer bevorzugt worden sein. Doch hiervon abgesehen muß der Instinkt, sich nicht mit jedem Partner zufrieden zu geben und unter mehreren auszuwählen, historisch mit der äußeren und dann mit der inneren Differenzierung der Menschen zusammengefallen sein. Erst wenn sich diese von jener merklich unterscheidet, kann das Gefühl entstehen: [Druckfehler: Zeile fehlt. Re] senden Differenzierung der Menschen ein, wenn auch in sehr bescheidenen Grenzen stehendes, auswählendes Moment ins Geschlechtsleben. Mit dieser allmählichen Bildung der Individualität ist aber auch schon das neue Motiv gegeben, das sich wie gegen die allgemeine sexuelle Vermischung, so auch gegen die Gynäkokratie überhaupt auflehnt. Männer kamen, die sich ihre Welt selber schaffen wollten; waren sie doch von der Unsterblichkeit des mütterlichen Lebens ausgeschlossen, als (relativ) Vereinzelte standen sie dem stofflichen Zusammenhang der in der Kette der Mütter lebenden Generationen gegenüber. Halbgöttern, Söhnen von Lichtgottheiten und irdischen Müttern, wird die Erhebung der Menschheit aus chaotischem, unpersönlichem Dasein zu der neuen Existenzform zugeschrieben, die nicht mehr auf dem Naturleben, sondern auf der gestaltenden Kraft des Menschen beruht. An Herakles, Theseus, Perseus hat der Mythos die Überwindung der alten Mächte geknüpft, sie haben die Tat des Menschen, die Kultur, gegründet und zuerst den Lichtgottheiten geopfert. »Sie werden dadurch für die ganze Menschheit Befreier von der ausschließlichen Stofflichkeit, der sie bisher verfallen war, Begründer einer geistigen Existenz, die höher ist als die körperliche, inkorruptibel wie die Sonne, aus der sie stammen, Heroen einer durch Milde und höheres Streben ausgezeichneten Gesittung, eines ganz neuen Rechtes.« (Bachofen.) Die Lehren des Pythagoras und des Platon von der Seelenunsterblichkeit und der Seelenwanderung sind die späte philosophische Vollendung dieses veränderten Grundgefühles, das den Mittelpunkt des Daseins in die Seele hineinverlegt und die Grundlage des europäischen Kulturgeistes werden sollte.
Heinrich Schurtz hat – nicht im Hinblick auf das Mutterrecht – gezeigt, daß sich frühzeitig und an sehr vielen Stellen der Erde nachweisbar, neben der Familie Bünde unverheirateter Männer bildeten, die gegenüber dem in der Mutterfamilie vertretenen Blutsverband einen freieren und leichter beweglichen Geselligkeitsverband darstellten. Da die Knaben, die der mütterlichen Pflege entwachsen waren, sich zu Spiel- und später zu Jagd- und Kriegszwecken zusammentun mußten, beruhte die Bildung solcher Männerverbände auf notwendigen Lebensbedingungen; und es ist ebenso einleuchtend, daß vom Männerhaus Neuerungen und Erfindungen aller Art gegenüber den stets konservativen Frauen ausgegangen sind, daß hier der Keim zu allen geistigen und kulturellen Entfaltungen gelegt werden mußte. Dieses Sichzusammentun der Männer; die Bildung von Verbänden, die nicht auf natürlicher, auf Blutsgemeinschaft beruhen, sondern auf dem Gefühl der Kameradschaft oder Freundschaft, sieht aus wie gegen das natürliche Gebundensein in der Familie gerichtet, vielleicht wie Feindschaft gegen die Frau, Verachtung der Frau; es dürfte sicherlich mit der so verbreiteten Männerliebe der alten Welt zusammenhängen.
Von Männerverbänden – sie mögen nun in alter Zeit so gewesen sein, wie sie Schurtz beschreibt, oder anders – ist der Kampf gegen die Mutterfamilie ausgegangen und hat endlich zum definitiven Sieg des männlichen Prinzipes geführt, zur Errichtung der väterlichen Familienhoheit, des antiken Männerstaates, in dem die Frauen rechtlos gewesen sind, und endlich zur Herrschaft des Geistigen, zum Sieg der Lichtgottheiten über die irdischen Mächte der Fruchtbarkeit. Diese Umwälzung ist eine überaus prinzipielle, vielleicht die prinzipiellste aller menschlichen Umwälzungen. Bevor jedoch die Einehe hergestellt war – neben der es immer noch eine freie Prostitution gegeben hat –, sind verschiedene Kompromißformen zwischen ihr und der regellosen Vermischung sanktioniert gewesen, Einschränkungen und Regeln, die alle die Absicht verfolgten, den von den Göttern geheiligten allgemeinen Geschlechtsverkehr eine Zeitlang frei zu geben und durch dieses Opfer die alte Sitte mit der neuen zu versöhnen. Hierher gehört vor allem die Tempelprostitution, die bei vielen Völkern Kleinasiens, der griechischen Inseln, Babyloniens und Indiens bezeugt ist. Sie bestand darin, daß sich an dem großen Frühlingsfest der Liebesgöttin jedes Mädchen im Tempel darbot und sich jedem Manne gegen ein Geldgeschenk hingeben mußte. Manche gewann auf diese Weise die Mitgift für ihre später streng gewahrte Ehe mit einem einzigen Manne. So war der religiösen Forderung Genüge getan, zuerst jedes Jahr aufs neue, später einmal für alle Male. »Die jährlich wiederholte Darbietung wich der einmaligen Leistung, auf den Hetärismus der Matronen folgte jener der Mädchen, auf die Ausübung während der Ehe die vor derselben, auf die wahllose Überlassung an alle die an gewisse Persönlichkeiten (Priester).« – »Dem Naturgesetz des Stoffes ist eheliche Verbindung fremd und geradezu feindlich. Die eheliche Ausschließlichkeit beeinträchtigt das Recht der Mutterliebe – darum muß das Weib, das in die Ehe tritt, durch eine Periode des freien Hetärismus die verletzte Naturmutter versöhnen und die Keuschheit des Matrimoniums durch vorgängige Unkeuschheit erkaufen. Der Hetärismus der Brautnacht beruht auf dieser Idee. Er ist ein Opfer an die stoffliche Naturmutter, um diese mit der späteren ehelichen Keuschheit zu versöhnen. Darum wird dem Bräutigam erst zuletzt die Ehre zuteil. Um das Weib dauernd zu besitzen, muß es der Mann erst anderen überlassen.« (Bachofen.) – Später wurden an Stelle aller Mädchen nur einige als Hierodulen geweiht und dadurch alle anderen vom Jungfrauenopfer losgekauft.
Nicht auf erotischem Gebiet, sondern auf politischem und sozialem liegen die eigentlichen Gründe für die Einführung und Sanktionierung der Monogamie, der Voraussetzung des griechischen Staates. Das Bedürfnis des Mannes, sicher bezeugte Kinder zu haben, damit er ihnen sein Gut hinterlassen könne, war das entscheidendste; die Erbfolge von Vater zu Sohn entstand, die im römischen Recht ihre klassische Vollendung gefunden hat. Das andere Motiv, daß jeder Mann einen Sohn wünschte, war in der religiösen Vorstellung begründet, daß der Schatten nach dem Tode des Körpers Opfernahrung braucht, die ihm von den leiblichen Nachkommen gespendet werden muß. (Ebenso bei den Indern und Ostasiaten.) In mehreren griechischen Staaten ist die Ehe gesetzlicher Zwang gewesen, Ehelose verfielen der Strafe. Irgendeine innere oder äußere Gebundenheit war damit für den Mann nicht gegeben, er konnte bei den gebildeten Hetären geistige Anregung finden (wenn er nicht Männerfreundschaft vorzog), bei den Sklavinnen sinnlichen Genuß; die Frau aber war als Hüterin des Herdfeuers und der Nachkommenschaft geehrt, wenn auch nicht frei. Für die Ehescheidung gab es nur einen gesetzlichen Grund: Unfruchtbarkeit, weil ja so der einzige Zweck der Ehe verfehlt worden wäre. Von ehelicher Liebe in unserem Sinn war nicht die Rede. – Alles das hat sich bis zum Ausgang der Antike nicht geändert, nur die religiösen Vorstellungen büßten im späteren Rom ihre Macht ein. Hierüber sagt Otto Seeck: »Die Frau erfüllte also wirklich gar keinen anderen Zweck, als dem Haus ebenbürtige Nachkommen zu verschaffen; und dabei stellte sie Prätensionen und machte dem Manne mit Eifersucht und böser Laune das Leben sauer, oder sie brachte ihn gar durch Untreue in der Leute Mäuler. Daß man da die Ehe nur als eine Pflicht gegen den Staat betrachtete, der man sich seufzend unterzog, ist wohl begreiflich; und begreiflicher, daß so viele nicht patriotisch genug waren, um diese Last auf sich zu nehmen.« Daneben gab es »eine Prostitution von größter Verbreitung und unglaublicher Wohlfeilheit«.
So folgt der unpersönlichen, allgemeinen geschlechtlichen Vermischung durch den Sieg des männlichen Geistprinzipes über das naturhafte weibliche das zweite Stadium, das den Geschlechtstrieb auf einzelne Individuen einschränkt (was mit »Liebe« nichts zu schaffen hat). Die Vermischung wird, wenigstens prinzipiell und als Desiderat, durch die Einehe ersetzt. Die mächtigste der auf uns gekommenen griechischen Tragödien, die Orestie des Äschylos, birgt als tiefen mythischen Kern den Sieg der neuen Gottheiten des Lichtes über die alten mütterlichen Mächte. Orest hat sich gegen das alte Recht vergangen und durch Muttermord den Mord am Vater zu sühnen gewagt. Um das Recht dieser Tat entbrennt der Kampf zwischen den Erinnyen, den Vertreterinnen des alten mütterlichen Rechtes, und dem Sonnengott Apollon. Den namenlosen nächtigen Erinnyen gilt als schwerstes aller Verbrechen der Muttermord, weil das Kind mit der Mutter am innigsten verwandt sei. Apollon aber hat Orest die Tat geboten, damit der Mord am Vater nicht ungerächt bleibe. Er verkündet:
»Nicht ist die Mutter ihres Kindes Zeugerin,
Sie hegt und trägt das auferweckte Leben nur;
Der Vater zeugt, sie aber wahrt ihm nur das Pfand.«
Und die Erinnyen klagen:
»So stürzest du die Götter alter Zeit hinab!«
Athene aber, die jungfräuliche Göttin, tritt als Versöhnerin zwischen die Parteien, sie, die mutterlos aus dem Haupte des Zeus Geborene, entscheidet zugunsten der neuen Ordnung, die den Vater über die Mutter stellt. Orest geht frei aus, seine Tat ist gut nach dem neuen Recht. (Bachofen.) – Mit dieser Tragödie ist der Sieg des männlichen Prinzipes in Griechenland symbolisch verewigt. In Athene aber verkörpert sich das neue hermaphroditische Ideal der Griechen, das mit ihrer Homosexualität zusammenhängt (und das uns noch beschäftigen wird). –
Es ist ein Gesetz des Seelenlebens: was jemals im Gefühl der Menschheit lebendig gewesen ist, kann nicht ganz verloren gehen. Aller zunehmende Reichtum der Seele beruht auf dieser Wahrheit. Neues wird erschaffen, aber das Alte bleibt bestehen; es wird meistens in eine niedrigere Sphäre des Wertes verwiesen, sinkt in tiefere soziale Schichten, aber es lebt fort und geht mannigfache Verbindungen mit dem Neuen ein. Für das Verhältnis der Geschlechter gilt dieses Gesetz ausnahmslos, es wird uns noch mehr als einmal begegnen. In der zweiten Periode, welche durch die dem Altertum fremde seelische Liebe charakterisiert ist, lebt die bloße Geschlechtlichkeit als ungebrochene Macht weiter fort; aber sie hat ihre maßgebende Stellung verloren und wird nicht nur als unedel und niedrig entwertet, sondern auch als sündhaft und dämonisch stigmatisiert, weil die Zeit von einem Neuen bewegt ist.
Ein ähnliches, wenn auch nicht so schroffes Verhalten – entsprechend der geringeren Schroffheit der Gegensätze – bestand im klassischen Griechentum. Das höhere, bewußte Geistesleben hatte sich von der chaotischen Geschlechtlichkeit abgewendet, es hatte den Trieb in geregelte Bahnen gelenkt und im platonischen Eros – der gleich zu besprechen sein wird – sogar eine neue Erotik geschaffen. Aber unter dieser Schichte bestand die naturhaft wuchernde Sexualität weiter fort, und es entsprach durchaus der Weisheit des Griechengeistes, daß sie nicht übersehen und hysterisch versteckt wurde, sondern ihre Stelle innerhalb des neuen Systems erhielt. Die unpersönliche Sexualität wurde in das Dunkel der Mysterien zurückgedrängt, wo sie, dem Auge der neuen Lichtgottheiten entzogen, ihren unlöschbaren Durst zu büßen suchte. Die Mysterien waren der Tribut, den das apollinisch gewordene Griechentum dem chaotischen Asien Jahr für Jahr darbrachte, um sich für seine höheren geistig-seelischen Zwecke loszukaufen. Die Lichtkultur Athens ruht auf dem Nachtkult der sexuellen Mysterien. An den Festen des doppelgeschlechtigen Dionysos und der Demeter, die als Fortsetzungen des Adonis- und Mylittakultes zu betrachten sind, wurde das unpersönliche zeugende Element, der Phallus, und der blind empfangende Schoß verehrt. Hier, unter der Oberfläche des nach männlichen Werten geordneten Griechenstaates, dessen Ideal Platon aufgestellt hatte und der den Geschlechtstrieb im Dienst einer geregelten Fortpflanzung einzudämmen bestrebt war – hier lebte wie ein wilder Protest der orgiastische Kult der alten asiatischen Gottheiten fort, die dem Sterblichen in der brünstigen Lust der Zeugung und Empfängnis etwas vom Urgeheimnis alles Lebens übergeben hatten. Frauen hatten den Kult der nicht über sich hinaus wollenden Lust bewahrt, Bacchantinnen, Männer in Weiberkleidern und Kastratenpriester opferten den wahllos spendenden gnädigen Göttern. Soll doch Dionysos selbst die Amazonen, die wilden Feindinnen der Männer, bezwungen und zu seinem Dienst bekehrt haben. Am Anfang der Euripideischen »Bakchen«, die den Kampf zwischen der wilden Naturgeschlechtlichkeit und der neuen Ordnung zum Gegenstand haben, schildert Dionysos, wie er über ganz Asien hingezogen und endlich nach Griechenland gekommen ist, von einem wilden Frauenschwarm gefolgt. Sein Kult war aber nicht nur ein Kult der Sinnlichkeit und des Rausches, sondern auch ein milder Naturdienst, der die Schranken zwischen Mensch und Tier aufhob – die für den Kulturgeist unüberschreitbar sind –, der alles Lebendige liebevoll einschloß. In den »Bakchen« heißt es, daß die Frauen, die aus der Stadt entflohen sind, um dem bezaubernden Fremdling Dionysos zu folgen, nun auf Bergen hausen, sie haben sich zahme Nattern ins Haar geflochten, tragen die Brut der Wölfe und Rehe in den Armen und nähren sie an der eigenen Brust, Wein und Milch fließt, wenn sie mit dem Thyrsos an die Erde schlagen usf. – Dionysos warnt den Pentheus, den Vertreter der hellenischen Männerordnung, sich in männlicher Kleidung unter die Mänaden zu wagen.
»Du wirst ermordet, wenn du dort als Mann erscheinst!«
Und der Gott weiß das Geheimnis der männlichen und der weiblichen Art:
»Erst verrücke
Ein leichter Wahnsinn sein Gemüt; denn ist er sein
Bewußt, so legt er's nimmer an, das Frauenkleid;
Doch ist er wirr im Geiste, legt er's sicher an.«
Pentheus erkennt in Dionysos, dem »weibischen Fremdling«, der die Frauen zur Raserei hinreißt, den Feind der höheren Gesetzlichkeit – und er wird von den Schwärmen der Bakchen, zuerst von seiner eigenen Mutter Agave in Stücke gerissen und dem »Stiergott« Dionysos als Opfer dargebracht. Am Schluß dieser merkwürdigen und tiefen Dichtung weicht der Wahn von Agave, sie verflucht alles, was sie in ihrer Besessenheit getan hat – das Weib unterwirft sich der neuen geistigen Ordnung der Dinge. – Wir verstehen nun auch, warum Hera, die Schützerin der neugeordneten Einehe, den Dionysos haßt und schon ungeboren zu töten trachtet. –
Die schöne Sage von Orpheus hat das Verhältnis zwischen dem primitiven unpersönlichen Geschlechtstrieb und seiner Individualisierung auf einen einzigen Menschen zum Gegenstand. Orpheus klagt sieben Monate lang um den Tod der Eurydike und wendet sich feindlich von allen anderen Geschöpfen der Erde. Diese Treue beleidigt und empört die thrakischen Weiber, sie sehen hier etwas Neues, dem naturhaften Dasein Verderbliches, und bei einer nächtigen Dionysosfeier stürzen sie sich auf den Sänger – den Vertreter höherer hellenisch-musischer Werte – und reißen ihn in Stücke. Aber noch sein totes Haupt schwimmt die Fluten hinab und spricht: Eurydike! – Es ist gewiß, daß zu jener mythischen Zeit solch eine Liebe nicht bestanden hat. Aber der griechische Genius hat vorahnend die Liebe zu einer einzigen Frau gegen die allgemeine Geschlechtervermischung gestellt.
Wir haben bisher einen allgemeinen, nicht auf eine bestimmte Person gerichteten Geschlechtstrieb vorgefunden, gegen den sich die Tendenz zur Individualisierung, wenigstens in eingeschränktem Maße, durchzusetzen trachtet. Aber auch bei dieser Individualisierung handelt es sich nur um den Geschlechtstrieb und nicht etwa um »Liebe«. Sie ist in der alten Welt noch nicht vorhanden, und wenn auch die Mythe von Orpheus ein Gefühl birgt, das an die moderne Liebe anklingt, so bleibt dieser Fall meines Wissens im griechischen Altertum vereinzelt – und mag immerhin als Vorahnung von etwas Neuem angesehen werden, wie sich ja auch deutliche Antezipationen des Christentums bei Platon finden. Solche Erscheinungen – deren Existenz ich auf meinem Gebiete dahingestellt sein lasse, aber im ganzen doch für unwahrscheinlich halte – begegnen, wie man weiß, im Lauf der Geschichte nicht selten, bleiben aber kulturhistorisch betrachtet wirkungslos, Vorausahnungen der Zukunft, die in ihrer Zeit nicht verstanden und vielleicht als Kuriositäten aufbewahrt werden.
Wenn auch das Altertum die seelische Liebe des Mannes zur Frau noch nicht kennt, so wird doch bei Platon mit vollem Bewußtsein der Sexualität, dem »niedrigen und gemeinen Eros«, ein »himmlischer Eros«, eine seelische Liebe entgegengestellt. Pausanias sagt im »Gastmahl«: »Die gemein Liebenden lieben Weiber nicht weniger als Knaben. Ferner sind sie mehr verliebt in die Leiber als in die Seelen ... Sie streben nur, das Ziel ihres Verlangens zu erreichen, ohne Sorge, ob es schön sei oder nicht. Ihr Eros ist ein Gespiele jener jüngeren Göttin, deren das weibliche und das männliche Geschlecht teilhaft war. Der andere Eros aber ist der himmlischen Göttin (Aphrodite Urania) Genoß; sie ist nicht aus der Vermischung des Männlichen mit dem Weiblichen, sondern aus dem Männlichen allein entstanden, sie ist die Ältere und nicht mit Wollust Befleckte ... Schlecht ist jener gemeine Liebhaber, welcher den Leib mehr als die Seele liebt. Auch hat seine Liebe sehr wenig Bestand, wie der Gegenstand seiner Liebe. Dieser Eros, der himmlischen Göttin Genoß, ist es, welcher dem Liebenden und dem Geliebten das Streben nach Tugend mit Gewalt ans Herz legt. Jener Eros ist der anderen Göttin der gemeinen Aphrodite, Gespiel.« – Und ein anderer Teilnehmer am Gastmahl, Aristophanes: »Dieses Sehnen scheint nicht ein Verlangen nach sinnlicher Lust zu sein, als ob darum der eine sich des Umgangs mit dem andern so inbrünstig erfreute; nein, es ist offenbar, daß jede dieser beiden Seelen etwas will, was sie nicht aussprechen, sondern nur ahnen und andeuten kann.« – Und die geheimnisvolle Diotima hat den Sokrates das gelehrt, was über den gewöhnlichen Sinnentrieb hinausführt und zu etwas Seelischem, Göttlichem durch die Liebe hinleitet – ein ganz neues Element im erotischen Leben. »Die nun fruchtbar am Leibe sind, gehen vorzüglich den Weibern nach; die aber in der Seele lieben und unsterblich werden wollen durch Weisheit und Tugend, die suchen eine schöne, edle und reiche Seele, sich ihr ganz hinzugeben.« – Die edle Seele aber war nach der Auffassung des klassischen Griechentums nur den Männern eigen. Die Frau gehörte den niedrigen animalischen Kreisen an und war zur Wollust und zur Fortpflanzung bestimmt. Bedeutet doch die platonische Ideenlehre den philosophischen Sieg des männlich-geistigen Prinzipes über die Natur, die Materie und ihre Hüterin, die Frau (vielleicht sogar die Rache des Griechengeistes an der ursprünglichen naturhaften Gebundenheit des Menschen). »Daher hat sie (die Männerliebe) einen engeren Bund als die Gemeinschaft der Kinder geben kann, und festere Freundschaft, weil sie an schöneren und unsterblichen Kindern gemeinsamen Anteil hat,« fährt die Seherin fort. Und sie lehrt den Sokrates weiter, daß die herrlichsten Erzeugnisse des Geistes aus solcher hohen Liebe entstehen wie aus der niedrigen Liebe Kinder. Man muß zuerst einen einzigen Leib recht lieben, bis man gewahr wird, »daß jedes Leibes Schönheit mit der Schönheit jedes anderen Leibes verschwistert ist. Denn woferne man der Schönheit im allgemeinen nachjagen will, ist es eine große Albernheit, die Schönheit aller Leiber nicht für eine und dieselbe zu halten. Hat er dies einmal wahrgenommen, so muß er Liebhaber aller schönen Leiber werden und in der heftigen Anhänglichkeit an einen einzigen nachlassen, das einzelne verschmähend und für klein achtend.«
Wir sehen, wie durch die griechische Knabenliebe ein neues, der ursprünglichen und natürlichen zweigeschlechtigen Sinnlichkeit vollkommen fremdes und sogar feindliches Moment ins erotische Leben der Menschheit tritt; es hat in den platonischen Dialogen »Gastmahl« und »Phädros« seine klassische Darstellung und Deutung gefunden. In bewußter Gegnerschaft zu aller Sexualität wendet sich die platonische Liebe – was gewöhnlich so genannt wird, beruht ja nur auf einem hartnäckigen Mißverständnis – einem Reingeistigen zu, nämlich den Ideen des Schönen, Wahren und Guten, sie begehrt Überirdisches und erkennt sich als den Weg zu ihm. In der Liebe der edlen Seelen zueinander liegt der Keim alles Höheren, der Weg zu den Lichtgottheiten, die hier philosophisch als Ideen, aber doch immerhin hellenisch als anschaubare Ideen, Urbilder und Gipfelpunkte alles Menschlichen, gedacht werden. Zum Verständnis dieser platonischen Liebe ist es außerordentlich wichtig, daß sie nicht (wie die seelische Frauenliebe des Mittelalters) auf einen Menschen gerichtet ist, von ihm ausgeht und in ihm endet; die Liebe zum einzelnen Persönlichen ist vielmehr echt platonisch nur ein Anfangsstadium, der Weg zu der Liebe, die sich auf das »Schöne überhaupt«, auf die ewigen Ideen bezieht. Diese metaphysische Erotik Platons, die erste, die es gegeben hat, besteht also in der Liebe zu etwas Allgemeinem, nicht in der Liebe zu einem Menschen, letztere wird uns später als das eigentliche Charakteristikum der wahren – oder sagen wir bescheidener, der spezifisch europäischen – Liebe erscheinen. Die platonische Liebe ist schließlich Erkenntnis des Vollkommenen, das sokratische Wissen, sie ist nicht wie die Liebe des Mystikers und des wahren Erotikers im Elan und in der Dynamik des Liebens selbst, in der eigenen Fülle und Wesenheit beschlossen. Sie hat ein fremdes Ziel, nämlich Erkenntnis, allerdings Erkenntnis der himmlischen Dinge, was in der späteren christianisierten Platonik als Anschauung der göttlichen Geheimnisse aufgefaßt wird. Für Platon, den Höhepunkt und Extrakt aller antiken und vorchristlichen Kultur, darf alles einzelne, auch der Geliebte, nur Vorbereitung, Mittel für die höchste Erkenntnis des Urschönen sein. Aus der höchsten Einsicht entspringt die wahre Tugend, sie macht die Menschen den Göttern gleich. Diese Sehnsucht, durch die Liebe zu einem einzelnen Menschen gut und vollkommen zu werden, wird uns wieder in der reinseelischen Frauenliebe begegnen. Es sei festgehalten, daß sie schon im platonischen Eros vollkommen ausgeprägt ist und mit Bewußtsein angestrebt wird. –
In der Nachterotik der Mysterien war die Schönheit des menschlichen Leibes bedeutungslos, Wollust und Taumel herrschten. Denn wie hätte in den asiatischen Geschlechtskulten Schönheit, ein Moment der Auswahl des einen vor dem andern, eine Stelle finden sollen? Die Griechen haben als erste die menschliche Schönheit bewußt entdeckt. Ihre Tageserotik ist eine Erotik des wohlgestalteten menschlichen Leibes, die Schönheit weckte ihre Liebe, sie war das Prinzip, wonach sie erotisch werteten. Ein Schöner an Leib und Seele, ein Kalokagathos, das ist ihr Ideal gewesen. Noch viel schroffer als im »Gastmahl« stellt Sokrates im »Phädros« dem, »der gleich den Tieren lüstern nach sinnlichem Genuß ist«, den andern gegenüber, der Vollkommenheit und Schönheit erringen will. »Ihm ist das Antlitz des Geliebten das treue Nachbild des Urschönen.« Ja, er mochte dem Geliebten opfern, wie den unsterblichen Göttern. Denn für Platon löste sich von allen schönen Leibern mehr und mehr die Idee der formalen Schönheit ab, der wieder die Idee der Seelenschönheit übergeordnet ist. Sie leitet zur metaphysischen Schönheit, zur ewigen und unvergänglichen Idee des Menschen hin. Sokrates durfte die Schönheit des einzelnen Leibes sogar verachten, weil er in ihr doch nur ein mangelhaftes Abbild der vollendeten Idee der Schönheit erkannt hatte. Und so ist im tiefsten Sinn der platonische Eros unpersönlich, er ist nicht wahre Seelenliebe zu einem Menschen, sondern eine besondere Art des griechischen Schönheitskultes. Dieses Motiv der Schönheitsanbetung wird uns in der echten metaphysischen Liebe, in der Verehrung der Frau wieder begegnen, es ist durch Platon dem höchsten Schatz des menschlichen Gefühles für immer einverleibt worden, und auch das Streben über alles einzelne hinaus findet später seine Wiederbelebung. Aber den Mittelpunkt bildet dort immer die Liebe zu der einen Geliebten, das modern-europäische Grundmotiv gegenüber dem antik-platonischen Ideenkult. So ist auch noch Platon ein Bürger der alten Welt: an ihrem Anfang steht die allgemeine sexuelle Vermischung, die kein Individuelles duldet, die keine einzelnen Menschen kennt, sondern nur den wild wuchernden Trieb; ihr Ende wird durch die wieder völlig unpersönlich gewordenen Ideen bezeichnet. Und die alte Zeit hat den Weg alles Menschenseins in einem großen Kreis durchmessen: Vom unbewußten Leben der Natur durch den persönlich gewordenen Menschen zur höchsten geistigen Unpersönlichkeit der Ideenwelt. –
Was ist aber der Grund, daß die Schönheit fast durchweg nur im männlichen Körper gefühlt wird? Man muß hier an den eigentümlichen Hermaphroditismus der antiken Plastik denken, der uns trotz aller Begeisterung für diese Kunst doch innerlich fremd ist. Sowohl Dionysos als auch Apollon sind Wesen zwischen Mann und Weib, die Frauengestalten dagegen erscheinen in den Proportionen des Körpers, wie auch im Schnitt des Gesichtes dem Männlichen angenähert. Und die Griechen haben gern das Mannweib, den Hermaphroditen, gebildet, ein Wesen, das ihrem Ideal des mittleren Menschen am nächsten gekommen ist. Dieses Ideal tritt aber stets – auch in der Renaissance und in der Gegenwart – mit Knabenliebe zusammen auf. Denn nur der heranwachsende Knabe vereinigt in seinem Körper männliche und weibliche Linien, und die Durchdringung beider zu einem einzigen Geschlecht ist der Traum des klassischen Griechenland gewesen. Alles Extreme war diesen Menschen verhaßt und galt ihnen, nicht nur auf geschlechtlichem und körperlichem Gebiete, als barbarisch, die μεσότης, das edle Maß, wurde einzig gewertet. Und hierzu ist die reichere geistige Veranlagung der Knaben gekommen, die ein vernünftiges Gespräch, das Ideal der Athener, möglich machte, wo man mit Mädchen nur hätte scherzen können. Die Griechen klassischer Zeit verachteten die Frau, sie verbanden mit ihr den Gedanken der niedrigen Sinnlichkeit, die zur Fortpflanzung führt, auch wo diese unerwünscht ist; aber in ihrer Geringschätzung der Frauen lag wohl auch ein Gefühl des Grauenhaften, die Zeiten der Mutterherrschaft waren noch allzu nahe, sie lebten in vielen Nationalsagen und wohl auch in der Seele der Männer fort, die Nachtseite des Erotischen ist für sie in der Frau verkörpert gewesen – und es war nur die konsequente Vollendung dieser Gefühlsweise, wenn später die Frau als Werkzeug des Teufels angesehen worden ist. Der Keim hierzu hat sicherlich schon in den Griechen der platonischen Zeit gelegen, sie ahnten in der Frau das dumpf naturhafte Dasein, dem sie selber unter Kämpfen entwachsen waren, und sie flüchteten nicht nur gesellig, sondern auch erotisch zu den vertrauteren Geschlechtsgenossen. Mußte die Liebe zu Männern nicht vom Niedrigsinnlichen losreißen und seelisch machen, ja zu den Göttern hinaufführen? In diesem Sinne wird Zeus im Phädros φίλιος, der Freundschaftstifter, genannt. Platon hat es gelehrt und er hat damit die entschiedenste Konsequenz des neuen, scheinbar männlichen, aber im tiefsten doch hermaphroditischen Kulturideales gezogen, das im Heroenzeitalter angebahnt worden war und von den Griechen der klassischen Zeit vollendet wurde. Die Knabenliebe der Griechen ist ein Sieg des geistig-seelischen Prinzipes über gestaltlose Sexualität und erdenhafte Fortpflanzung, und ganz im Geiste des Griechentumes wurde sie wieder auf den Körper zurückbezogen. Ich glaube, daß diese beiden Momente – angeborenes hermaphroditisches Fühlen und kulturelle Verachtung der Frauen – die wichtigsten Ursachen der so auffallenden griechischen Homosexualität sind; sie entstammt jedenfalls einer ganz anderen Gefühlssphäre als die weit verbreitete der Orientalen und die vereinzelte moderne. Die Knabenliebe der platonischen Griechen entspricht so ihrer Idee nach vollkommen der rein seelischen Frauenanbetung des späten Mittelalters – beide sind ein Weg aus dem dumpfen Sinnenleben in die Freiheit des Seelischen. –
Weil die Alten keine individuelle Liebe kannten, sondern nur den ewig unveränderlichen Trieb, darum haben sie ihre Sarkophage mit Symbolen des ekstatisch flammenden Lebens, mit Mänaden und Faunen in Tanz und Umarmung geziert. Die Generationen vergehen, aber neue sind da und umfangen und zeugen – das Leben ist unsterblich. Im Taumel der Namenlosen ist der Tod wahrhaft überwunden, denn nicht in der einzelnen Seele, sondern in der Gattung liegt der eigentliche, der wahre Sinn. Der Mittelpunkt und höchste Wert mußte erst in die Seele versetzt werden, damit der Tod des einzelnen eine tiefe und entscheidende Bedeutung gewinne. Ein Mensch ist dahin für immer, keine Zeugung kann ihn wiederbringen. Der Tod wird das Endgültige und Schreckliche, weil er das Höchste fällt, den in sich selbst ruhenden Menschen. Aber auch die Liebe wird etwas anderes: nicht mehr Sinnlichkeit, die am Leibe hängt und mit ihm vergeht, sondern Sehnsucht der Seele, ihrer selbst gewiß und über die Erde hinausgreifend. Eine neue Tragik kommt in die Welt, aber auch eine neue Versöhnung. –