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Incipit vita nova.
Dante
Die Erinnerung an die Gestalt und die Predigt Jesu hatte mit solch einziger Wucht in die Jahrhunderte hineingewirkt, daß die fortgebildete platonische Ideenlehre, die reifste Frucht griechischer Weisheit, ebenso wie der jüdische National-Monotheismus allmählich von ihr umgebildet und in einem Höheren aufgehoben worden waren. Ein Neues entstand, das ein neues Gefühl für Welt und Menschheit vorläufig unklar und tastend, aber immer deutlicher und einheitlicher zum Ausdruck brachte und endlich durchsetzte. Auf dem Stuhl der römischen Imperatoren saß ein Bischof, dessen Macht mit dem wachsenden Ausbau des neuen Kultursystems zunahm, der durch den endgültigen Sieg des neuen transzendenten Weltprinzipes zum Herrn der Welt geworden war. Die Aufrichtung des Neuen hatte ein Jahrtausend lang alle geistigen Kräfte in Anspruch genommen, jeder neue Gedanke und jedes neue Gefühl stand in seinem Dienst. Und die Mühe wurde in hohem Maße belohnt: denn zum erstenmal waren die Fragen des sinnenden Verstandes ganz beantwortet, die Ängste der gepeinigten Seele zum Schweigen gebracht; der Zweck der Welt, das Schicksal des Menschen waren erkannt und gedeutet, gut und böse für alle Zeit festgestellt. Und als dieses Jahrtausend um war, da hatte sich alles, was es in Europa an Geist und Kulturwerten gab, um die eine leitende Idee geordnet, sich ihr unterworfen; der höchste Wert dieser und jener Welt war mit der höchsten Macht in der Hand der Kirche vereinigt, sie hatte mit dem Imperium auch das geistige und ethische Erbe der alten zerfallenen Kultur angetreten. Außer ihr gab es nur noch urwüchsige Barbarei; und es war neben der Ausbildung des Systems der Welt die Aufgabe der Kirche, die neuen Völker zu lehren und zu bekehren, eine gleichmäßige christliche Kultur zu verbreiten.
Wie kommt es aber, daß die neuen Völker so schnell und willig eine Religion angenommen haben, die auf fremdem Boden und aus fremden seelischen Voraussetzungen erwachsen war, die ihnen also offenbar fremd und unzugänglich sein mußte? Leuchtet es doch auf den ersten Blick ein, daß germanisches Reckentum und christliche Askese entgegengesetzte Ideale sind, daß sie zueinander stehen wie die Position zur Negation. Oft genug hat sich dieses Verhältnis feindlich geäußert; man denke etwa an die Verachtung, die Hagen im Nibelungenlied dem Kaplan entgegenbringt. Gegenüber diesem zutage liegenden Phänomen möchte ich auf ein tiefer verstecktes hinweisen, ohne dessen Verständnis auch das Verständnis alles Späteren nicht vollständig wäre. Es ist nämlich von höchster Bedeutung, daß beiden Welten, der altkeltischen und -germanischen, sowie der christlichen, ein Letztes und Tiefstes gemeinsam ist, derart, daß die Religion Christi geradezu als die Religion des germanischen und des europäischen Menschen überhaupt angesehen werden muß. Das konnte allerdings nicht sogleich gefühlt werden und wirksam sein, hat aber späterhin seine Wahrheit bewiesen. Dieses letzte, das dem noch unkultivierten europäischen Geist und dem Christentum gemeinsam zugrunde liegt (und das weder für asiatische Barbaren noch für alttestamentliche Juden noch für Hellenen eine Bedeutung besessen hat), ist der Akzent, der für beide auf die Seele, auf die Persönlichkeit fällt. Durch das Christentum wird dieses neue Weltgefühl, dem die menschliche Seele der selbstverständlichste und höchste Wert ist, Mittelpunkt des Lebens und des Glaubens – eine Position, die auch Platon noch nicht erreicht hat (galt ihm doch die objektive metaphysische Idee als das wesentlichste); es ist das eigenste Erlebnis Jesu, und die neuen Völker haben es nach Jahrhunderten als ihr tiefstes Wertgefühl wieder entdeckt. Mit dieser Tatsache ist aber das Christentum als die natürliche Religion des europäischen Menschen und als der Kern seines sich neu bildenden Kultursystems legitimiert. Es steht im entschiedenen Gegensatze zu allem Asiatentum, auch zu Brahmanismus und Buddhismus, was man seit Schopenhauer gern übersieht. Für das Gefühl des Inders hat der Mensch keine einheitliche Seele, sein Bewußtsein ist eine Art Republik, es tritt aus verschiedenen geistigen Prinzipien und metaphysischen Kräften zusammen, die nicht einheitlich um einen Ich-Mittelpunkt organisiert sind, sondern unpersönlich, gegenständlich nebeneinander bestehen. Dies mag in seiner Art groß sein, dem europäischen Fühlen aber bleibt es fremd. Ihm ist das Ich, die Seele, die Persönlichkeit Mittelpunkt alles Seins. Die ganze Entwicklung des europäischen Weltgefühles geht in der Richtung, daß alle seelischen Inhalte selbständig ausgebildet werden und zu einer immer innigeren Einheit ineinander wachsen; immer reicher muß die Welt der Werte werden, aber immer intensiver will die vereinheitlichende Kraft der Seele inneres und äußeres Sein zusammenfassen und gliedern, die Persönlichkeit soll von sich aus die Welt nach ihren eigenen Zwecken umschaffen, das heißt das System der objektiven Kultur begründen. Die Unfähigkeit des Inders, eine allseitig ausgebildete Kultur hervorzubringen, erklärt sich aus seinem ganz einseitigen moralisch-spekulativen Denken. Die Welt ist ihm nichts als ein moralisches Phänomen, alle anderen Möglichkeiten sind ausgeschaltet, im Wissen um die Nichtigkeit des Daseins, nicht in der befreienden Tat und nicht in der inneren Wandlung ist ihm der eigentliche Sinn der Welt und die Möglichkeit ihrer Erlösung gelegen.
Der Mittelpunkt des reif gewordenen und verinnerlichten Christentums, das mit den deutschen Mystikern seinen Gipfelpunkt erreicht hat, ruht in der Seele des Menschen, die immer mehr alles Subjektive, Zufällige abstreifen will, um Seele überhaupt, höchste, göttliche Realität zu werden. Der große Vollender dieser europäischen Religion, Meister Eckehart, stellt den Menschen ausdrücklich (und im Widerspruch mit der dogmatischen Lehre seiner Zeit) über die »obersten Engel«, denen doch ein Ziel gesetzt sei; der Mensch aber ist »vermöge seiner Freiheit imstande, wer weiß wie weit über den Engel hinaus zu gelangen«. – Dem gegenüber liegt für die Upanischads der Mittelpunkt der Welt nicht in der einzelnen Seele, sondern in der Allseele, dem Brahman. Beständig wird wiederholt, daß es in Wirklichkeit nichts anderes gibt als ihn. »Die individuellen Seelen sind nur als Scheinbilder der höchsten Seele zu betrachten, vergleichbar den Sonnenbildern im Wasser.« Das Erlöschen des einzelnen Bewußtseins, sein Eingehen in Brahman, das Ende aller Leiden ist einziger Zweck; wenn das Subjekt des Fühlens aufhört zu sein, schließt der Inder, dann muß auch alle Qual ein Ende nehmen und die Welt erlöst sein. Ihm fehlt der Zentralbegriff der Liebe, an dessen Stelle die Erkenntnis tritt. Nach der Auffassung des frühen Christentumes ist der Zusammenhang des Körpers mit der Seele, gewissermaßen ihre Behaftung mit dem Körper, eine Versuchung, oder eine Strafe, ein Tragisches; nach dem Veda ist sie einfach ein Irrtum, dem der Weise nicht unterworfen ist. Denn er durchschaut den Trug und ist mit diesem Wissen auch schon erlöst. Ja, endlich ist ihm die Existenz der Welt ein bloßer Wahn, der Erfolg des Nichtwissens, dem sich der Weise zu entziehen vermag.– Für das europäische Fühlen und das Christentum aber ist das Leben und die Welt echte und tiefe Wirklichkeit, an der sich die Seele zu bewähren hat. Die Liebe ist der Schatz der Seele und der wahre Weg, den kein Wissen ersetzen kann.
Die so verbreitete und durch die metaphysische Grundrichtung entschuldigte Identifizierung der christlichen Mystiker mit dem Indertum beruht auf einem Schein; denn beide Anschauungen gehen aus einem von Grund aus verschiedenen Weltgefühl hervor; hier liegt der Mittelpunkt alles wahrhaften Seins in der Menschenseele und in der Liebe, dort im Brahman und in der Erkenntnis. Zuletzt aber, bei der Lösung des Weltprozesses, treffen beide doch zusammen, wenn auch wieder von verschiedenen Richtungen kommend: »Solange die Seele einen Gott hat, Gott erkennt, von Gott weiß, solange ist sie getrennt von Gott. Das ist Gottes Ziel: sich zunichte zu machen in der Seele, auf daß auch die Seele sich verliert. Denn daß Gott, ›Gott‹ heißt, das hat er von den Kreaturen.« (Eckehart.) – Das ist nun von höchster Bedeutung: die Seele schafft aus sich heraus Gott, wird ans Göttliche angeschlossen, wird selber Gott. – Dem Vedantisten ist die Menschenseele eine Ausstrahlung der Weltseele: »Gott ist zwar verschieden von der individuellen Seele, aber die individuelle Seele ist nicht verschieden von Gott.« Hier wird es nicht mehr ganz leicht, das Gefühl des Mystikers von dem des Brahmanen zu scheiden; ist ihre Wertung von Mensch, Welt und Leben verschieden, ja entgegengesetzt, so finden sie einander doch endlich in Gott. Im Vedanta heißt es: »Die Kraft, die alle Welt schafft und erhält, das ewige Prinzip alles Seins, wohnt ganz und ungeteilt in einem jeden unter uns. – Unser Selbst ist identisch mit der höchsten Gottheit und nur scheinbar von ihr verschieden. Wer dies erkannt hat, der weiß sich Eines mit allem Seienden; wer es nicht erkennt, dem stehen alle Wesen fremd und feindselig gegenüber.« –
Mit diesen Feststellungen sollte nicht etwa die indische Weisheit herabgesetzt, sondern nur ihre Wesensfremdheit gegen das abendländische Fühlen angedeutet werden; unsere Aufgabe, den Geist Europas in seinen entscheidenden Momenten zu ergreifen und bei seinem Werden zu belauschen, ist jedenfalls durch diese Abgrenzung gefördert worden. – Das religiöse Erlebnis Jesu, das auf dem Bewußtsein von der Gotthaftigkeit der Seele und ihres Weges zu Gott beruhte, hat das abendländische Grundgefühl festgelegt. Vom Mittelpunkt der einzelnen Seele aus wurde nun ein Weltsystem aufgebaut, das folgerichtig alles Bestehende, Himmel und Erde, Schöpfung und Weltuntergang, Heil und Verderben auf die Seele des Menschen bezog. Hierbei ist man mit einer naiven Metaphysik, die der Griechengeist geschaffen und barbarische Köpfe veräußerlicht hatten, zu Werk gegangen; diese Metaphysik zieht ihren ganzen Inhalt aus der einmal geschehenen Offenbarung und das Wesentliche wird vielfach durch Dialektik und Spekulation überdeckt. Man darf sagen, daß das erste Jahrtausend daran gearbeitet hat, das Urprinzip des Christentumes zwar nicht zu verdrängen, aber doch so hart durch Dogmen zu fesseln, daß es manchmal wie versunken scheint. Die neuen Barbarenvölker mußten erst durch eine lange Schulung in die Geisteswelt eingeführt werden, ehe sie das Übernommene völlig assimiliert hatten, ehe sie den innersten Kern ergriffen – und damit auch schon durch das eigene Fühlen verändert und neu gestaltet hatten. Dieser Prozeß der Erziehung war um das Jahr 1100 zu einem vorläufigen Abschluß gelangt; hier setzt das Neue, Schöpferische ein, die europäischen Völker waren der Vormundschaft der mit den Werkzeugen des antiken Geistes ausgestatteten Kirche langsam entwachsen, ein Neues beginnt sich zu bilden, die Kultur Europas, die in jeder Nation anders und doch immer dieselbe ist, weil sie aller Barbarei und allem Orientalismus gegenüber aus einem gemeinsamen Grunde stammt. Unmittelbares Gefühl für den Menschen, für die Natur und für die göttlichen Dinge, und zwar auf einer höheren Stufe, war wieder möglich geworden. –
Ich werde in diesem Abschnitt die Grenzen meines Gegenstandes überschreiten, da ich die Keime darstellen will, aus denen im Zeitalter der Kreuzzüge nach der Dumpfheit des ersten christlichen Jahrtausends mit großer Schnelligkeit die neue Seele des europäischen Menschen entstanden ist, die in der Renaissance eine weitere, wenn auch nicht sonderlich in die Tiefe gehende Entfaltung gefunden hat, und deren Gehalt noch heute unser höheres geistiges Leben befruchtet und trägt. Hierbei hätte ich kürzer sein können; aber zwei Gründe mögen meine Ausführlichkeit rechtfertigen: einmal die hohe kulturhistorische Bedeutung des Gegenstandes, der, wie ich glaube, noch niemals in diesem Sinn aufgefaßt worden ist; noch viel mehr aber die innere Verwandtschaft mit meinem Hauptthema. Denn im absoluten Gegensatze zur Geschlechtlichkeit, die bisher das Verhältnis zwischen Mann und Frau ausschließlich beherrscht hat, tritt nun ein neues Gefühl in die Welt und erlangt schnell höchste Wirksamkeit, das Gefühl der seelischen Liebe, das in seinem weitesten Sinne (nicht nur auf die Frau, sondern auch auf die Natur und auf Gott gerichtet) das Zeitalter durchdringt und seine großen, in der Geschichte der Menschheit ganz neuen, Äußerungen verständlich macht: es ist dies vor allem die seelische Liebe zwischen Mann und Frau, die zur Vergöttlichung der Frau wird, dann die neue Religion der deutschen Mystiker, der erwachende Sinn für die Schönheit der Natur, die plötzlich zu hoher Vollendung gelangende neue Dichtkunst (die erste seit den Tagen der Antike), der spezifisch europäische und von der alten Kunst zum erstenmal unabhängige gotische Baustil. Alle diese neuen Schöpfungen gehen aus der merkwürdigen Sehnsucht hervor, die das Zeitalter beseelt, einer Sehnsucht nach Neuem, nach Unbekanntem und Abenteuerlichem, das Ideal des Rittertums entsteht und halb irdische, halb überirdische Vorstellungskreise werden erschaffen, wie das Heilige Grab und der Gral. Etwas noch nie von Menschen Gefühltes ist auf einmal da: die Liebe, die mit der bisher ausschließlich herrschenden Geschlechtlichkeit gar nichts zu schaffen hat und zu ihr in bewußt feindlichen Gegensatz tritt, die von einer Seele zur anderen geht und das Gefühl der Persönlichkeit voraussetzt. Wenn ich daher ausführlich geworden bin, so wird, wie ich hoffe, der Hauptgegenstand dieses Teiles, die seelische, ins Metaphysische hineinstrebende Liebe eines Mannes zu einer Frau, die unserem heutigen Fühlen nicht nahe liegt, um so verständlicher werden. –
Damit aber die neue Gestalt klar hervortreten könne, muß zuerst der Hintergrund angelegt werden. Die geistige Leistung des ersten Jahrtausends hatte darin bestanden, das christliche System der Welt aufzubauen; nun besaß die Kirche volle Einsicht in die Dinge des Himmels und der Erde – die ja nur Symbole der ewigen Dinge sein konnten –, ihre Weisheit kam fast der göttlichen gleich, waren ihr doch die Geheimnisse des Lebens und des Todes offenbart und übergeben worden. Was Chrysostomus im 4. Jahrhundert verkündet hatte: »Die Kirche ist Gott«, war nun in Erfüllung gegangen. In ihrer Hand lag die höchste Weisheit mit der höchsten Macht vereint, ein Ideal des höchsten Wertes war so verwirklicht worden, wie nie mehr früher oder später. Wie die Weisheit der Kirche unmittelbar von Gott gegeben war, so hatte ihre Macht göttlichen Ursprung und reichte über das Erdenleben hinaus ins Jenseits; die Kirche allein besaß den Schlüssel zur Seligkeit, ihr Fluch bedeutete ewige Verderbnis. Exkommunikation – das war Ausgestoßensein vom zeitlichen und vom ewigen Heil. Der Verfluchte war ärger daran als das Tier, er war den Teufeln der Hölle überantwortet und wußte selbst, daß er ihnen angehörte. Nur ein Mittel gab es, sich zu retten: Buße tun, sich der höchsten Gewalt demütig unterwerfen; und dieses Bewußtsein hat für alle Zeit sein sichtbares Symbol darin gefunden, daß der römischdeutsche Kaiser drei Tage lang im Schloßhof von Canossa stand, bis er wieder aufgenommen ward in das Reich Gottes. Denn das ist die Kirche gewesen; wer ihr als Jude oder Heide nicht angehörte, war ein natürliches Kind des Teufels, wer aber von ihr abfiel, wer als Ketzer einen Satz aus dem göttlichen System anzutasten wagte, oder auch nur selbständig, also im Widerspruch mit der Tradition, über natürliche Dinge nachzudenken unternahm, der wandte sich mit freiem Willen von Gott ab und begab sich sehend in das Reich des Teufels. Er war absolut böse und keine irdische Strafe hart genug für ihn. Schon Kaiser Theodosius (380) hatte jeden solchen »irrsinnig und wahnsinnig« genannt und als eine hohe unverdiente Gnade mußte es angesehen werden, wenn man seinen Leib verbrannte, damit seine Seele nicht ganz dem Bösen anheim falle, sondern vernichtet und zerstäubt werde. Mit jedem Scheiterhaufen war der Hölle ein Opfer geraubt, Jubelhymnen ertönten über diesen Sieg des Guten. Aber nicht nur lebendige Häretiker – tote wurden aus ihren Gräbern gezerrt und auf den Schindanger geworfen. Auf dem Begräbnisplatz eines deutschen Nonnenklosters ist ein Mann begraben worden, der in Exkommunikation gelebt hatte. Und der Erzbischof von Mainz befiehlt, daß der Leichnam ausgegraben werde, da er sonst den Gottesdienst im Kloster verbieten müßte. Aber die Äbtissin, die geistesgewaltige Seherin Hildegard von Bingen (1098 – 1179), wahrscheinlich die bedeutendste Frau des deutschen Mittelalters, widersetzt sich. Unmittelbare Kunde von Gott ist ihr geworden und sie schreibt dem Bischof: »Ich habe nach meiner Gewohnheit zum wahren Licht emporgeschaut und ich habe von Gott den Befehl erhalten, niemals meine Zustimmung zu geben, daß dieser Leichnam hinausgeschafft werde, da er selbst ihn aus dem Schoß der Kirche herausgenommen hat, um ihn in die Herrlichkeit der Erlösten einzuführen.« – Die Heilige hatte Einsicht in den Willen Gottes – und der Erzbischof ließ das aufgetauchte Gerücht, daß der Tote noch rechtzeitig absolviert worden sei, für wahr gelten und gab nach. Also nicht etwa der Gedanke wurde zugelassen, Gott könnte vielleicht einmal einen Exkommunizierten in geweihter Erde dulden, sondern nur ein Irrtum war durch Hildegards Vision richtig gestellt worden.
Wer es wagte, gegen die Geistlichkeit zu handeln oder nur zu reden, war schon der Hölle anheimgefallen, und solch eine Ankündigung wurde als Erfüllung hingenommen; höchstens, daß sich mancher um der irdischen Freuden willen über die sichere Verdammnis hinwegsetzte; ein reiches Legat in der Sterbestunde konnte ihn ja wieder retten. Und die Angst vor dem Teufel ging nicht selten in Gleichgültigkeit und sogar in Anbetung der Dämonen über. Ein einziger gottfremder Gedanke konnte ja den ewigen Tod zur Folge haben, und da mancher – besonders mancher Kleriker – fühlte, daß er doch nicht ununterbrochen in Gott leben konnte, so gab er sich gleich in seinem Herzen dem Gegengott hin, nicht aus Weltlust, sondern aus Verzweiflung. Der Teufelsdienst war keine Erfindung fanatischer Mönche – er bestand in Wirklichkeit und war oft letzter Trost derer, die sich von Gott verstoßen wähnten.
Die Hierarchie zögerte keinen Augenblick, die Macht, die ihr durch die Lage der Gemüter gegeben war, zu ihren letzten Konsequenzen zu führen. Nur ein vorübergehender sündhafter Zustand konnte es sein, wenn außer der geistlichen Herrschaft noch Könige und Fürsten bestanden, und die Zeit mußte nahen, da der Papst König der Erde und alle Großen seine Vasallen wären, von ihm eingesetzt, um den üblen Gang der Welt in Ordnung zu halten, von ihm absetzbar, wenn sie sich als unbrauchbar erwiesen, dem Teufel übergeben, wenn sie der Kirche den Gehorsam weigerten. Die Welt war eine Hierarchie, deren Spitze direkt in den Himmel reichte und die als Vertretung ihres unsichtbaren göttlichen Gipfels den Papst trug. Der stand, wie Innozenz III. sagte: »mitten zwischen Gott und den Menschen«. Und dieser selbe große Papst hat eine Schrift »Über die Verachtung der Welt« abgefaßt, worin die völlige Nichtigkeit alles Irdischen gelehrt und bewiesen wird. Man darf nicht glauben, daß in der Verbindung dieser unersättlichen Herrschsucht mit völliger Jenseitigkeit ein Widerspruch gelegen hätte: das Gottesreich, die Civitas Dei Augustins, sollte und mußte aufgerichtet werden, damit die Welt ihre Bestimmung erreiche. Jeder Papst hatte vor Gott Rechenschaft abzulegen, wie weit das eine, das einzige Werk durch ihn gefördert worden war; und je allmächtiger der Leiter dieser Welt über die Seelen war, desto zitternder mußte er sich, von ungeheurer Verantwortung beschwert, vor Gott beugen. »Die Weltflucht im Dienste der weltbeherrschenden Kirche, die Weltherrschaft im Dienste der Weltentsagung – das war das Problem und das Ideal des Mittelalters!« (Harnack.)
Aber nicht nur der Papst, jeder Priester als unmittelbares Glied des Gottesreiches war mehr als die Herrscher dieser Welt. Das hat z. B. der große Bernhard von Clairvaux ausdrücklich gelehrt, und Gregor VII., der wildeste Fanatiker des Gottesreiches, schrieb einem deutschen Bischof: »Wer also, der nur ein wenig Verstand und Wissen hat, kann Bedenken tragen, die Priester über die Könige zu setzen?« Ja schon Kaiser Konstantin, der doch noch ganz unter der Idee des Imperiums stand, hat die Bischöfe ausdrücklich als seine Herren anerkannt; die Legende erzählt, er hätte dem Bischof von Rom die Zeichen seiner eigenen Macht, Zepter, Diadem und Mantel übergeben und ihm den Zaum seines Pferdes gehalten.
Das theoretische Rückgrat dieser Denkweise war die Lehre der Kirchenväter und der ihnen nachfolgenden älteren Scholastik, die von der unbegrenzten Macht der menschlichen Erkenntnis durchdrungen war; die Welt war in ihren letzten Tiefen erkannt, ihr Sinn für alle Zeiten festgestellt, und daher konnte Philosophie als die ewige Frage nach dem Sinn der Welt und des Menschenlebens nicht existieren. Alle Wissenschaft hatte nur der einen Aufgabe zu dienen: die offenbarten Wahrheiten der Religion logisch zu beweisen. Der größte Denker dieser Richtung ist Anselm von Canterbury (1033–1109), der in seiner Schrift » Cur Deus homo« bewies, daß Gott selbst hatte Mensch werden müssen, um das Erlösungswerk zu vollenden.
Dieses System einer für alle Zeit erkannten Welt ist aber der entscheidende Grund für die Herrschaft des Klerikers. Er allein besaß die Wissenschaft, das heißt die Heilslehre. Hätte jemand gegen das System der Kirche eine eigene Meinung vertreten wollen, so wäre er selbst bald zu der Überzeugung gekommen, daß er vom Teufel zu falschen Beobachtungen oder zu falschen Schlüssen verlockt worden sei, und die Unterwerfung bedeutete vor seinem eigenen Gewissen, daß er über das Böse in sich Herr geworden war. Man mußte ein Diener Gottes sein oder des Widersachers, etwas Mittleres gab es nicht. Denn niemand wußte eigentlich, wie weit die Erkenntnis reichte; jeder, der gelehrte Kleriker wie der unwissende Laie glaubte, andere als er selbst wären im Besitz des Schlüssels zu höheren Geheimnissen und zu höherer Macht. Es kam darauf an, sich dieses Steines der Weisen zu bemächtigen; und so mußte der Glaube an Zauberei ebenso wie die Furcht vor gewissen ausgezeichneten, geweihten und daher mit magischen Kräften begabten Menschen, den Priestern, die notwendige Folge einer Weltanschauung sein, die von der Existenz der geoffenbarten und definitiven Wahrheit erfüllt ist. Der einzelne weiß wohl, daß sie ihm fehlt; so müssen sie denn andere, Bevorzugte besitzen, sie muß an geheimnisvolle Mittel gebunden sein und ist vielleicht für jeden, wenn auch unter schweren Opfern, erreichbar.
Je unwissender die Welt war, desto größer war ihre Angst vor Irrglauben. Kaum die Gelehrtesten kannten die Unterschiede zwischen dem wahren Glauben und den ketzerischen Meinungen – aber man wußte, daß sie vom Teufel eingegeben waren (und wiederholten sie auch nur Sätze der Evangelien). Allerorten lauerten die Dämonen, sich unter den Menschen Beute zu suchen. In der Natur, im Verkehr mit Menschen lagen die Fußangeln des Bösen verborgen, jedes Wort, das man vernahm, das man sprach, konnte eine Handhabe für die Diener der ewigen Verderbnis sein. Jedes Buch, außer der Bibel, war vielleicht vom Teufel hingelegt worden; besonders die lateinischen Dichter, deren Lektüre noch das beste Mittel gegen die allgemeine Barbarei gewesen wäre, galten als Versuchungen, die Götter der Antike wurden mit den Dämonen der Bibel identifiziert; und diesen Meinungen haben wir den Verlust vieler wertvoller Manuskripte zuzuschreiben. Der Lieblingsaufenthalt der Dämonen waren die Klöster, die ja als die eigentlichen Anstalten zum Kampf gegen sie gegründet worden waren und zum Teil in Aberglauben und Unwissenheit verkamen. Jeder Mönch hatte Visionen von Teufeln, die Welt ist voller Wunder, und die quälende Frage ist, ob sie von Gott gewirkt sind oder vom Bösen. Die Natur ist nichts für sich Bestehendes, sondern eine Menge geheimnisvoller Zeichen, Allegorien göttlicher Gegenstände – vielleicht aber auch teuflischer! –, deren Bedeutung man in der Heiligen Schrift finden konnte, wenn man sie recht zu lesen verstand. Denn darin war alles festgelegt, was jemals geschehen konnte, jedes Ding der Natur mußte seine eigene Erklärung in der Bibel haben. Es handelte sich darum, unter allen Worten das richtige zu finden und ihm den rechten Sinn zu geben, denn jedes war vieldeutig und allegorisch. Jedes Ereignis in der Natur – sei es nun eine Sonnenfinsternis, ein Komet oder auch nur eine Feuersbrunst – bedeutete eigentlich etwas anderes, es war ein Zeichen für irgend etwas Geistiges, das sich hinter dem Scheine barg. Und die allegorische Ausdeutung der Bibel wurde bis zur Abstrusität getrieben, da ja unbedingt jedes Wort einen unausdenkbar tiefen Sinn haben mußte. Als ein Beispiel sei angeführt, was sich einmal der poetisch so hoch begabte deutsche Mystiker Seuse (Suso) leistet: Unter der großen Zahl der Frauen Salomos gab es eine Mohrin, die war dem König die liebste von allen seinen Frauen. »Was meint nun der Heilige Geist damit? Die schwarze, anmutige Mohrin, die Gott vor allen andern wohlgefällig, ist ein in Gott leidender Mensch, den Gott mit unablässigen Leiden übt und mit Geduld begabt.« – Noch ärger treibt es Abälard mit dieser Mohrin; er meint nämlich, wenn sie auch außen schwarz ist, so seien doch ihre Knochen, das heißt ihr Inneres, weiß. – Eine ganz hervorragende Leistung an Geschmacklosigkeit, schon aus gebildeter Zeit, findet sich bei dem provenzalischen Mönch Matfre Ermengau, dem Verfasser des Breviari d'Amor (Handbüchlein der Liebe). Er schickt seiner Schwester zu Weihnachten Honigkuchen, Met und einen gebratenen Kapaun und schreibt dazu folgendes: Der Met bedeutet das Blut Christi, der Honigkuchen und der Kapaun seinen Leib, der für uns am Kreuz gebraten und durchstochen wurde. Der Heilige Geist hat den Kuchen im Leib der Jungfrau Maria gebacken, in dem sich der Zucker seiner Göttlichkeit mit dem Teig unserer Menschlichkeit verbunden hat. Im Leibe der Jungfrau hat der Heilige Geist auch den Met ausgewürzt und aus Wein zubereitet, das Gewürz ist die göttliche Tugend, der Wein das menschliche Blut. Er hat ferner aus dem Ei den heiligen Kapaun hervorgehen lassen. Das Dotter ist die Gottheit, das Weiße die Menschlichkeit, die Schale der Leib Marias usf. Der göttliche Kapaun wurde von den Juden gerupft usf.
Die Religion Jesu war verloren gegangen, von der eigenen Seele wußte man nichts mehr – himmlische Warnungen, Vorzeichen des Jüngsten Gerichts, Versuchungen der Dämonen sind um den Menschen herum, soweit er überhaupt für das, was über den Körper hinausgeht, Sinn hat. Wie eine Karikatur auf das Andenken der Antike klingt es, wenn der französische Chronist Radulf Glaber (um das Jahr 1000) vor den Dämonen warnt, die sich überall aufhalten, »besonders in Quellen und Bäumen«. Und von einem Gelehrten, der die alten Dichter studierte, schreibt er: »Dieser Mann, verwirrt durch die Zaubereien der Dämonen, lehrte ganz unverschämt Dinge, die dem heiligen Glauben zuwiderlaufen. Seiner Meinung nach mußte man alle Worte dieser Dichter glauben. Er wurde von Peter, dem Bischof der Stadt, als Ketzer verurteilt. Damals fanden sich in Italien viele Leute, die solch einen Irrglauben bekannten; sie wurden durch das Schwert oder durch das Feuer hingerichtet.« – Gerbert aber, der sich später als Papst Sylvester II. nannte, schrieb zur selben Zeit an alle Freunde, sie möchten für ihn nach Handschriften römischer Dichter und Philosophen suchen; er verfaßte Lehrbücher der Astronomie, der Geometrie und der Heilkunde und führte die arabischen Ziffern und das dekadische Zahlensystem in Europa ein. So wurde er denn auch der Magie und des Umgangs mit arabischen Heiden beschuldigt. Ein Chronist erzählt, er habe sich dem Teufel verschrieben und sei mit dessen Hilfe Papst geworden; als er zum Sterben kam, hätte er den Befehl gegeben, daß sein Leichnam zerschnitten werde, damit ihn der Teufel nicht mitnehme. –
Wir können uns heute nicht mehr ganz leicht in diesen Zustand des Geistes und der Seele hineinversetzen. Jeder Mensch der Gegenwart, der nur im entferntesten an geistigen Dingen Anteil hat, und sei es der orthodoxeste Kleriker, weiß immerhin, daß es urteilsfähige Menschen gibt, die anders denken, die nach neuen Erkenntnissen suchen; er weiß es, und gebärdete er sich auch, als wären das Verirrte und Gnadenlose. Und keiner kann seine Augen ganz den neuen, durch Menschengeist erschaffenen Werten verschließen. Das Mittelalter aber stand unter dem ungeheuren Erkenntnisdualismus, daß es einerseits an die grenzenlose Macht der menschlichen Erkenntnis glaubte, andererseits aber der geheiligten Überlieferung als einziger wahrhaftiger Instanz traute und das naive Zeugnis der Sinne und des Verstandes verwarf, wenn es mit der Lehre in Widerspruch geriet. Was uns die Sinne zutragen, kann ja auf verschiedene Weise gedeutet werden; damals mußte alles, was gelten wollte, eine womöglich allegorische Beziehung zum religiösen System finden; erst diese Beziehung war das Siegel auf die Richtigkeit des Erschauten. So war Wissenschaft ihrem Begriffe nach nicht, was sie uns heute ist und was sie dem Altertum gewesen ist, nämlich Erforschung der wahren Zusammenhänge in der Welt, sondern Anwendung der ein für allemal gegebenen Wahrheiten auf die Welt. Neues konnte nicht mehr gefunden werden, man glaubte, ein Erbe zu verwalten, und so befaßten sich wissenschaftliche Köpfe gern mit logischen und dialektischen Spekulationen, die uns heute sinnlos und kindisch anmuten, ihrem Scharfsinn aber doch ein wenig Befriedigung bieten mochten.
Bis tief in die Renaissance hinein war die Naturkunde ein höchst seltsames Gemenge von antiken Traditionen, orientalischen Fabeln und unzulänglichen Beobachtungen. Tieren, die man täglich um sich sah, werden die sonderbarsten Eigenschaften angedichtet; Mögliches und Unmögliches, Erfahrenes und Märchenhaftes geht wahllos durcheinander. Ein provenzalisches Tierbuch z. B. erzählt: »Die Grille liebt ihren Gesang so sehr und freut sich so sehr an ihm, daß sie zu essen vergißt und singend stirbt.« – »Wenn die Schlange einen nackten Menschen sieht, wagt sie vor Furcht nicht, ihn anzusehen; erblickt sie ihn aber bekleidet, so kommt er ihr schwach vor und sie springt auf ihn los.« – »Wenn die Tigerin Junge hat und die Jäger verfolgen sie, um ihr die Jungen zu rauben, so legen sie Spiegel auf ihren Weg und nehmen dann die Jungen fort. Und wenn die Tigerin ihre Jungen verloren hat, wird sie ganz verrückt und folgt der Spur der Jäger, findet aber die Spiegel und besieht sich darin und freut sich so sehr über ihr Bild, daß aller Schmerz vergeht und sie ihre Jungen vergißt.« – »Das Einhorn ist die bösartigste Bestie, die es gibt, mit dem Horn auf seinem Kopfe stellt es sich jedem entgegen. Es findet aber so viel Geschmack am Dufte von Mädchen und Jungfräulichkeit, daß die Jäger eine Jungfrau auf den Weg setzen. Und wenn das Einhorn sie erblickt, schläft es auf ihrem Schoße ein, worauf es gefangen werden kann.« – Vom Magneten erfahren wir unter anderem folgendes: »Er stellt den Frieden zwischen Mann und Frau her und macht die Menschen freundlich, heilt auch die Wassersucht usf. Wenn man sein Pulver in die vier Ecken eines Hauses auf Kohle streut, glauben die Anwesenden zu fallen, so daß sie sich fürchten und fliehen; das machen sich die Diebe zunutze. Legt man es unter den Kopf einer schlafenden Frau, so muß sie im Schlafe ihren Mann umarmen, wenn sie tugendhaft ist; andernfalls aber fällt sie vor Schreck aus dem Bett.«
Alle diese Dinge waren Gemeingut der Zeit, ein geschmackvoller Troubadour (Richard von Berbezilh) sagt z. B., er sei dem Löwenjungen gleich, das tot geboren werde und erst durch das Gebrüll des Alten zum Leben aufwache; so erwecke ihn erst seine Dame zum Leben (ob durch ihr Gebrüll, wird nicht mitgeteilt). – Ein anderer, Bartolome Zorgi, meint, seine Dame gleiche einer Schlange, aber nicht in dem Sinn, den dieser Vergleich heutzutage hat, sondern weil sie den nackten Dichter flieht und nur vor dem bekleideten Mut habe.
So war die Naturkunde; ein Beispiel von der Geographie mögen die Kenntnisse geben, die eine provenzalische Enzyklopädie über Deutschland verbreitet: »Alemania ist eine edle und berühmte Gegend in Europa, die ihren Namen von dem Fluß Aleman führt, in dessen Nähe jenes Volk seinen Ursprung hatte. Das Land heißt auch Germania, denn es ist fruchtbar ( germinoza) an Volk.« Dann wird der Name der Sachsen (der durch eine Fürstin in der Provence bekannt war) von » saxum«, Fels, abgeleitet, weil sie gleich einem Fels gegen ihre Feinde stehen. – Diese Methode, leicht erfahrbare Dinge nach fabelhaftem Hörensagen zu lehren, mutet uns heute sonderbar an, stimmt aber gut zu der Zeit, die nur nach Merkwürdigem und Unwahrscheinlichem gierig war. Die Kirche stand der Erforschung der Natur überhaupt nicht freundlich gegenüber, war doch als einziges Problem die Rettung des Menschen vom Bösen anerkannt; mehrere Kirchenväter, nicht nur Tertullian mit seinem oft wiederholten Wort, haben auch die Erforschung der Natur als unnötig und sogar widersinnig und gottlos angesehen. Lactantius sagte: »Welche Seligkeit werde ich denn gewinnen, wenn ich weiß, wo der Nil entspringt oder was die Physiker vom Himmel faseln?« Und: »Würde man uns nicht für verrückt halten, wollten wir uns Kenntnisse über eine Sache anmaßen, von der wir nichts wissen können? Wieviel mehr sind diejenigen als wahnwitzig und rasend zu betrachten, welche die Natur zu kennen vermeinen, von der doch der Mensch nichts wissen kann.« – Man darf hierbei an eine Bemerkung des »Weisesten der Griechen« (im Phädros) erinnern, der die Stadt nicht verlassen mochte, denn was könnte Sokrates, der ebenso wie die Kirchenväter nur der Seele des Menschen zugewendet war, wohl von Bäumen und Gras lernen? Und Julius Cäsar hat während des Alpenüberganges seine Kriegserinnerungen aufgezeichnet, um sich die Langeweile zu vertreiben.
Wahrscheinlich wäre das System der Kirche gar nicht in solch einer bisher niemals auf Erden dagewesenen abgeschlossenen und starren Form aufgeführt worden, hätte es sich nicht vorwiegend um kulturfremde unwissende Völker gehandelt. Unter Griechen, auch unter Griechen der Dekadenz, ja unter Ägyptern und Asiaten wäre der Mythos sicherlich nicht ganz ausgestorben. Wie hoch dünkten sich doch die Griechen der Blütezeit über allem Barbarentum, und doch respektierten sie die fremden Götter, weil sie selbst ihren lebendig fortwachsenden Mythos besaßen und das Leben auch anderswo, selbst in geringeren Formen achteten. Aber Kelten und Germanen gegenüber war eine fertige und unbezweifelbare Dogmatik mit ihrer Folge, der hierarchischen Unduldsamkeit, das einzig Mögliche. Alle Traditionen dieser Völker sind ja dem Christentum viel zu fremd gewesen, als daß in ihrem Erdreich christliche Keime hätten lebendig fortblühen können. Und die neuen Völker haben wirklich in der Jugendzeit ihres Christentums nichts Produktives geleistet, sie haben übernommen, was ihnen von Rom gebracht worden ist. Das Resultat dieses verhängnisvollen Jahrtausends läßt sich so formulieren: Die westeuropäische Kulturwelt war unter der Herrschaft der römischen Kirche geeint, alle Völker wußten gleichmäßig, in den gleichen Wortverbindungen und in den gleichen Bildern, daß sie in einer der Sünde verfallenen Welt lebten; sie wußten, wann diese Welt erschaffen worden, wann ihr Erlöser gekommen war, und daß ihr Ende eintreten würde mit der leiblichen Auferstehung der Toten und dem schrecklichen Gericht; daß die Dämonen es abgesehen hatten, die Menschen auf ewig zu verderben, und daß Rettung einzig bei der Kirche lag. Alles dies stand fest wie der Wechsel der Jahreszeiten und war ebenso unabwendbar. –
Die Grundkräfte der Antike waren Sinnlichkeit und ästhetische Anschauung gewesen, die Elemente des frühen Mittelalters abstraktes Denken und historischer Glaube. Nun sollte das Gefühl Hauptfaktor werden; es tauchte in den Seelen auf, bemächtigte sich aller Gebiete des Menschlichen und beherrschte bald das ganze Dasein.
Ein kleines Land ist es gewesen, wo die Quelle wieder lebendig zu sprudeln begann, die seit den ersten Tagen des Christentums fast versiegt schien: die menschliche Seele, die selber Werte schafft und sie nicht von einer historisch überkommenen Lehre empfangen will. Wieder war das kulturschaffende Zentrum nach Westen gewandert, wie einst von Asien nach Griechenland und von Griechenland nach Rom. Griechenland und Kleinasien hatten sich im Laufe des ersten Jahrtausends von Europa abgesondert, sie bildeten einen eigenen, den byzantinischen Kulturkreis, der für Europa nicht mehr in Betracht kommt. Und auch nicht auf dem alten Kulturboden Italiens ist das Neue entstanden; vielleicht ist hier die Überlieferung antiker, vorchristlicher Zeit noch zu mächtig gewesen: auf jungfräulichem Gebiete, in der Provence, in einem Lande, das durch römische Waffen von Kelten und Germanen erobert und von römischem Geist umgepflügt worden war, das in einigen Küstenstädten, besonders in Marsilia, noch reiche Reste griechischer Ansiedelungen bewahrte, das maurische Volks- und Sprachelemente aufgenommen hatte und all dies zu einer glücklichen Einheit hatte verschmelzen können. Warum sich gerade hier dieses wichtige Geisteszentrum gebildet hat, ist weiter nicht zu entscheiden. Geschehenes später vorauszusagen ist ja nicht schwer – genug, es ist so gewesen.
Hier ist dem fertigen System der kirchlichen Werte zum ersten Mal etwas Neues entgegengetreten, das nicht Barbarei war (wie das urgermanische Reckentum), und das man als das System der weltlich-höfischen Werte bezeichnen kann. Dies Neue beruht nicht auf einer Autorität, die gläubig übernommen wird, sondern geht unmittelbar aus der lebendigen Sehnsucht der Menschen hervor. Wieder einmal entdeckt sich der Mensch selber und wird sich seiner persönlichen Schöpferkraft bewußt. Hiermit war aber etwas sehr Großes getan: Die Pflanze war aufgebrochen, deren Same tausend Jahre hatte in der Erde liegen müssen, um stark genug zu sein, damit die neue europäische Kultur daraus entspringen könne. In schweigender, ihr selbst nicht ganz bewußter, aber doch entschiedener Feindschaft zum System der herrschenden kirchlichen Werte bildete sich zuerst in der Provence das neue Ideal von pretz e valor e beutatz, Wert und Tugend und Schönheit, von calvaria e cortezia, Ritterlichkeit und Höfischkeit. Ja den geistlichen Kardinaltugenden wurden vier weltliche gegenübergestellt: Weisheit, höfische Art, Maß, gerader Sinn. Die Fürstenhöfe werden Zentren des neuen Lebens und der neuen Kunst, die Frauen, die bis dahin von der Geselligkeit der Männer ausgeschlossen gewesen sind, stehen mit einem Mal im Mittelpunkt der Welt, ihnen zuliebe dämmen die Männer ihre Roheit ein und suchen durch gute Sitten, durch Geschmack und Kunst zu gefallen. War früher jedes Fest ein Freß- und Saufgelage gewesen, so wandelte die neue geistig-ästhetische Auffassung alle Vorstellungen von Fest und Lust. Man diente um die Frauen, man liebte und verehrte sie, und die von der Kirche nicht genug herabgesetzt werden konnten, denen auf dem Konzil zu Mâcon (im 6. Jahrhundert) die Seele streitig gemacht worden war – sie wurden nun eigentliches Gefäß der Seele, der Mann stellte sie über sich selbst, er beugte sein Knie vor der neu erschaffenen Erdengöttin. Ein völlig neues, weltumwälzendes Gefühl war mit einemmal in den Herzen lebendig, das Verhältnis von Mann und Frau erhielt eine neue Grundlage. Die Sklavin und schweigende Ehefrau war Herrin und Göttin geworden. – Doch davon später.
Zugleich mit der neuen höfischen Gesittung entstand die neue Dichtkunst der Troubadours. Und kaum geschaffen, hatte sie auch schon ihre höchste Vollendung erreicht. Der erste Troubadour, von dem wir wissen, ist ein Herzog von Aquitanien, Wilhelm von Poitiers (um 1100); Herren und Grafen setzten ihren höchsten Ruhm darein, in dieser neuen Kunst zu glänzen. Und an jedem Hofe lebten Dichter, die gastfrei aufgenommen und beschenkt wurden; das Mäzenatentum der Fürsten, das in der Renaissance eine solche Ausdehnung gewonnen hat, findet sich zum ersten Mal in großem Stil. Jeder bedeutende Dichter besoldete Spielleute, Joglars (Jongleurs), die von Hof zu Hof zogen und neue Lieder brachten. Andere wieder, die Comtaires, wußten Geschichten und Abenteuer – sie kamen vorzüglich aus dem Norden Frankreichs – und sammelten um sich eine lauschende Runde von Herren und Damen. Der feine Ton, die vornehme Gesinnung war schnell anerkanntes Ideal geworden, als verächtlich galt, wer sich fortan an sinnlichen Genüssen genug sein ließ, die Vilania war der ärgste Vorwurf; im Yvain des französischen Epikers Chrestien de Troyes wird diese allgemeine Stimmung so formuliert:
Ein Hofmann gilt, sei er selbst tot,
Mehr als ein Rüpel, dick und rot.
Und was für den äußerlichen Chrestien ein cortois, ein Hofmann mit guten Sitten ist, das hat sich bei den besten Troubadours und im Freundeskreis Dantes in das cor gentil gewandelt, das edle Herz, das mehr ist als Rang und Besitz und Macht. »Wo Tugend ist, da ist auch Adel, wo Adel, muß nicht Tugend sein,« sagt Dante.
Zum erstenmal konnte man jetzt persönlichen Wert gewinnen, gleichgültig woher man kam. Adeliger oder Bürger, Gelehrter oder Laie. Allerdings wurde der Arme und Bürgerliche niemals dem Höheren gleichgeachtet, schon darum, weil er auf die largueza, auf die milte, die Freigebigkeit der Großen angewiesen war und sich daher stets in Abhängigkeit befand. Noch Dante hat am Hofe von Fürsten leben müssen, und erst in der Renaissance hat es Schriftsteller gegeben, die sich durch ihre böse Zunge so gefürchtet machten, daß sie unabhängig wurden. Gegenüber dem bisher herrschenden Ideal des beschaulichen Klosterlebens entstand das neue des höfischen Lebens, das ganz im Diesseits verankert war, gegen die kirchliche Heiligkeit wurde die ritterliche Ehre erhoben. Die Schönheit, die seit den Tagen der Antike in Verruf geraten war und im Verdacht unheiligen und sogar höllischen Wesens stand, wurde wieder in ihr ewiges Recht eingesetzt. Vor allem die Schönheit der Frauen war es, die wieder, und in ihrer neuen seelischen Betonung sogar neu entdeckt wurde; ihr weihten die Besten ihre Glut und ihre Liebe. Freude und Gesittung war nach einem Jahrtausend Düsternis und Roheit das Ideal dieser neuen Welt geworden. – Aber auch mit dem altgermanischen Heldenideal steht das ritterliche nur in entferntem Zusammenhang. Das ältere hatte ganz auf der Höchstschätzung körperlicher Stärke beruht; das Rittertum aber war Träger der höchsten geistigen Kultur, ihm gegenüber ist die kirchliche Bildung, die bisher das geistige Leben verwaltet hatte, rückständig. » Mezura«, » masze« (die μεσοτης) der platonischen Griechen) war die neue Richtschnur gegenüber der Maßlosigkeit alles Barbarischen – »barbarisch«, wie es Goethe in der Iphigenie meint; mezura wurde von den Troubadours als Kennzeichen höherer Gesittung und als Prinzip des Wertes gepriesen.
Ich will das höfische Leben, das damals in der Provence entstanden ist, nicht weiter schildern. Die Kunde von ihm ging nach dem Norden und weckte überall Sehnsucht und Nachahmung. Denn das Bedürfnis nach Erneuerung des Lebens war mächtig geworden, alles Fühlen und Tun wurde von ihm bewegt. Man dürstete nach Unmittelbarkeit und Schönheit, nach heißem Leben, das aber doch wieder unerhört und märchenhaft sein sollte; besonders im Norden, in Frankreich und Deutschland, vor allem aber bei den überaus reich und phantastisch begabten Kelten von Wales und Nordfrankreich, bemächtigte sich dieser Trieb zu Fernem und Neuem der Seelen. Hier war das Leben schwerer, ärmer und barbarischer, der feinere Geist litt mehr unter der rohen Umgebung als in dem gleichmäßig kultivierten Süden. Und hier zuerst sind die großen Sagenkreise des Mittelalters, welche die Sehnsucht der Zeit so deutlich aussprechen, zu Dichtungen geformt worden. Auch im frühen Mittelalter hatte es Epen gegeben, deren Stoffe zum Teil der Bibel entnommen waren, wie die deutsche Evangelienharmonie des Mönches Otfrit (aus dem 9. Jahrhundert), zum Teil die Taten volkstümlicher Helden besangen, wie das deutsche Hildebrandslied und die französischen Chansons de geste, die sich um die sagenhaft gewordene Gestalt Karls des Großen und seines Neffen Roland rankten. Die eigentliche Kunstepik aber entstand im 11. Jahrhundert in Nordfrankreich aus den reichen und poetischen Stoffen der keltischen Überlieferung und erlangte sogleich außerordentliche Fülle. Die Nationalhelden des zur Machtlosigkeit verurteilten träumerischen keltischen Volkes, König Artur und der Zauberer Merlin, die Ritter der Tafelrunde und der Heilige Gral – sie sind über Frankreich zum Gemeingut des europäischen Kulturkreises und zum Gegenstand der Sehnsucht und der Phantasie geworden. In den Romanen des Chrestien de Troyes werden Rittertaten und Frauendienst gefeiert, das ältere Heldentum hat hier mit dem neuen Ideal der höfischen Gesittung und der Liebe einen Bund geschlossen und gebiert den Abenteuerroman. Diese Romane haben den deutschen höfischen Epen als Vorlage gedient; sie wirkten nicht minder auf unsere Heldenepen ein, der uralte mythische Nibelungenstoff wurde ins Höfische gewendet und erhielt die Form, die wir heute besitzen. Der Abenteuerroman hat Jahrhunderte lang die Welt beherrscht, und es ist ein Märchen, daß ihm Don Quichotte ein Ende gemacht habe; noch heute begeistert sich das Volk an den kühnen Taten der Ritter, an der Schönheit der Frauen und ihrer standhaften, ewigen Liebe.
Neben diesen großen heroischen Gegenständen waren es andere kleine und intime, novellistische und vielfach sentimentale Stoffe, die – besonders von den Frauen – geliebt und weiter erzählt wurden. Der Baron, der davonzog, ließ seine junge Frau im versperrten Gemach und von Wächtern umgeben zurück, manchmal auch noch körperlich als sein Privateigentum gebrandmarkt; da saß sie hinter Gittern und ihre Phantasie flog aus – nicht dem ungeliebten Gemahle nach, der sie um ihres Gutes willen geheiratet hatte und wieder fortschicken konnte, wenn er eine reichere fand – er mußte nur behaupten, daß sie im fünften Grade mit ihm verwandt sei, dann war die Kirche bereit, seine Ehe zu lösen – nicht ihm, dem Herrn, sondern dem Unbekannten entgegen, dem leidenschaftlichen Liebhaber, der so gern sein Leben hingegeben hätte, um sie zu erobern. Ein Jongleur kam und erzählte von den Höfen, wo die Liebe allein Herrin ist, wo die Ritter willig Leid und Entbehrungen auf sich nehmen, um der geliebten Frau zu dienen; wie sich der Liebende in einen schönen blauen Vogel verwandelt und jede Nacht durch das Gitter zu seiner Freundin kommt; aber der eifersüchtige Gatte hat Stacheldraht gespannt und der mit dem Morgenrot Fliehende muß vor den Augen der Geliebten verbluten. – Mit solchen Mären – auch sie deuten zuverlässig auf keltischen Ursprung hin –, wie sie uns in den lieblichen nordfranzösischen Lais der Marie de France erhalten sind, wurden die Tränen mancher einsamen Frau hervorgelockt, ihre Sehnsucht gewann Fleisch und Blut; ein Grund, weshalb sich ein Mensch, noch dazu ein Liebender, nicht Nacht für Nacht in einen blauen Vogel verwandeln sollte, lag nicht vor – kleidet doch noch heute das Volkslied dieselbe Sehnsucht in schöne, einfache Worte. Diese primitiven Verserzählungen erfüllen jeden Wunsch des Herzens, alles, was der Süden in reicher Wirklichkeit bot und noch mehr, mußte sich hier die Phantasie selber geben. Marie de France, die erste weltliche Novellendichterin Europas (gegen das Ende des 12. Jahrhunderts) ist aber auch darum bedeutungsvoll, weil sich hier zum erstenmal die echte Sehnsucht einer Frau ausgesprochen hat, die Sehnsucht nach Liebe und Romantik – nach dem Abenteuer der Frau. Wie lieblich ist das Lai du Chèvrefoile (Märchen vom Geißblatt), das eine Episode des schon damals zur Legende gewordenen Liebespaares Tristan und Isolde erzählt. Tristan und Isolde, Lancelot und Ginevra, Fleur und Blanchefleur – das sind die bewunderten und geliebten sagenhaften Paare gewesen, von denen man sang und träumte. Ihre Erlebnisse waren überall bekannt und man erzählte sie immer wieder, ehrfürchtig die Worte bewahrend und doch unvermerkt neubildend. Bei der Erzählung ihrer Liebe haben sich die Hände gefunden – »An jenem Tage lasen wir nicht weiter!« gesteht Dantes unglückseliges Liebespaar.
In der Provence und in Italien ist der für das nördlichere Europa so charakteristische Zug in die Ferne und nach Abenteuern in geringerem Maß ausgeprägt. Besaß man doch so vieles, was anderswo ersehnt und erträumt wurde. Seltsame Begebenheiten, die wie Novellen klingen, haben sich wirklich zugetragen: Graf Raimund von Roussillon sperrte seine Frau in einen Turm, weil sie von dem Troubadour Guillem von Cabestanh geliebt wurde und ihn wieder liebte, lauerte dem Liebhaber auf, tötete ihn und schnitt ihm das Herz heraus, um es seiner Frau gebraten vorzusetzen. Sie aß davon und nun zeigte er ihr den Kopf Guillems mit der Frage, wie ihr wohl diese Speise gemundet hätte. »So gut, daß mir niemals eine andere Speise den Geschmack von der Zunge nehmen soll!« – und sie stürzte sich zum Fenster hinaus. Alle Herren der Gegend empörten sich gegen Raimund und sogar der König von Aragon zog gegen ihn. Raimund wurde gefangen, seiner Besitztümer beraubt und eingekerkert. Guillem und die Gräfin aber wurden gemeinsam in einer Kirche beigesetzt; lange nachher noch kamen Ritter und Damen weither, um an ihrem Grabe zu beten. – Aber auch die lieblichen Dichtungen von der schönen Magelone und der Wasserfrau Melusine, die uns noch heute entzücken, sind hier entstanden.
Vor dem 11. Jahrhundert hat es eine eigentliche Dichtkunst nicht gegeben. Nur lateinische Kirchenhymnen und Legenden, verdorbene Nachklänge antiker Dichtkunst, waren vorhanden, und in den Volkssprachen Heiligengeschichten und einfache Tanzlieder, mit denen sich das niedrige Volk belustigte, die aber dank dem Kampf, den die Geistlichkeit gegen sie geführt hat, nur in ein paar unscheinbaren Proben auf uns gekommen sind. Der eigentliche Ursprung europäischer Dichtkunst, vor allem europäischer Lyrik, ist in der Provence zu suchen. Zum erstenmal seit den Tagen der Antike entstand hier eine selbständige und hochausgebildete Kunstpoesie. Sie hat die Gefühlskreise erschaffen und festgelegt, die für alle europäische Dichtung, besonders für alle Liebesdichtung, jahrhundertelang maßgebend geblieben sind und die sich als stark und fortbildungsfähig erwiesen haben. Denn so reich an Inhalt die gereimten Romane Chrestiens sind, so lieblich und zart die Lais der Marie – Kunstdichtung im höchsten Sinn ist das nicht gewesen; fast alle Wirkungen dieser Literatur gehen auf das Stoffliche zurück, das vielfach nicht einmal originell war, sondern von bretonischen Spielleuten übernommen.
Unter allen romanischen Sprachen hatte sich die süße Sprache der Provence als erste völlig reife Sprache aus dem Vulgärlatein der frühchristlichen Jahrhunderte herausgebildet. Vor seiner klassischen Periode ist die Verbreitung des Provenzalischen noch weit größer gewesen als zur Blütezeit der Troubadours, wo sie sich auf den Süden Frankreichs, den Norden Italiens und die angrenzenden Teile von Spanien beschränkt hat. Es sind zwei Eidformeln erhalten, die Ludwig der Deutsche und das fränkische (nordfranzösische) Heer im Jahre 842 ausgesprochen haben und die, wenn auch barbarisch, doch einen entschieden lateinisch-provenzalischen Charakter haben. Die provenzalische Sprache ist es gewesen, welche die Sprache der deutschen Eroberer langsam nach dem Osten zurückgedrängt und den Boden für das Französische bereitet hat. Um das Jahr 1100 entstand als erste unter den nationalen Kunstdichtungen die Poesie der Troubadours: hier ist mit einem Schlag alles und in hoher Vollendung da, was die moderne vor der antiken Lyrik auszeichnet: gegenüber der silbenmessenden Quantität herrscht der betonende Akzent; der Reim, eines der wichtigsten Kunstmittel aller Lyrik bis heute und in seiner Annäherung an die Musik das wesentlichste Merkmal der modernen Lyrik gegenüber der antiken, erreicht hier seine Vollendung; ebenso die in sich abgeschlossene, sich gleichmäßig wiederholende Strophe, die noch heute für die moderne Lyrik charakteristisch ist. Die Verse mancher Troubadours sind von heißem Leben erfüllt und haben nichts Überkommenes und Konventionelles (wenn sich auch bald durch die vielen mittelmäßigen Talente Modegefühle und Modeformen herausgebildet haben). Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Sirventesen von Bertran de Born schreiten in einem ehernklirrenden Rhythmus einher, der von der höchsten Kunstpoesie späterer Zeit nicht übertroffen worden ist. Hier die erste Strophe eines dieser wehrhaften Lieder; es klingt wie Bürgers »Lied vom braven Mann«:
Lo coms m'a mandat e mogut
Per N'Arramon Luc d'Esparro
Qu'eu fassa per lui tal chanso
On sian trenchat mil escut
Elm e ausberc e alcoto
E perponh faussat e romput.
Der Graf, der sandte her zu mir
Herrn Arramon Luc d'Esparro,
Ein Lied sollt ich ihm machen – so
Daß tausend Schild mit Ring und Zier
In Splitter sprühten hell und froh
Samt Helm und Harnisch und Zimier.
Diese und alle folgenden Übersetzungen rühren, wo nichts anderes bemerkt ist, von mir her.
Andere wieder sind von inniger Herzlichkeit erfüllt und bringen echt geschaute Bilder. Ein viel stärkeres Bild etwa als: aus meinen großen Schmerzen mach' ich die kleinen Lieder, ist es, wenn Raimund von Toulouse sagt:
Wie sich die Kerze selbst verzehrt,
Um andern Licht zu geben,
Verbrenn' auch ich mein Leben,
Das vielen Glück gewährt.
Die Blütezeit der Troubadourdichtung – auf die im nächsten Abschnitt von einem anderen Gesichtspunkt aus eingegangen werden wird – war schon vorüber, als in den anderen Ländern Europas die lyrische Kunstdichtung erst einsetzte. Der von Gregor VII. zur Vernichtung des neuen Geistes und der neuen weltlichen Kultur unternommene Albigenserkreuzzug (1209) hat manchen Troubadour nach Italien getrieben, so den berühmten Sordel; ihnen kam die in den höheren Kreisen sehr verbreitete Kenntnis der provenzalischen Sprache entgegen, die damals als die vornehmste galt, wie sie ja auch in Wirklichkeit die am meisten ausgebildete gewesen ist (das Italienische ist erst um die Mitte des 13. Jahrhunderts allgemeine Umgangssprache geworden); und Dante, der Schöpfer des modernen Italienisch, hat es nicht verschmäht, provenzalische Verse zu schreiben. Andere Troubadours zogen nach Sizilien, an den kunstsinnigen Hof Kaiser Friedrichs II., wo eine eigene, aber wenig originelle Dichterschule entstand. In Italien ist dann die Vollendung aller mittelalterlichen Poesie mit dem »süßen, neuen Stil« erreicht worden, der durch den Namen Dante für alle Zeit verewigt ist. – Aber nicht nur die großen Italiener, auch die nordfranzösischen Trouvères und zum Teil auch die deutschen Minnesänger stehen, wenn auch in geringerem Grade, unter dem Einfluß der Kunst und vor allem der Ideale, die in der Provence gestaltet worden waren. Die ältesten rheinischen und österreichischen Minnesänger schließen sich wohl unmittelbar an das deutsche Volkslied an, und die Lieder des Kürnbergers oder Dietmars von Aist sind noch völlig unbeeinflußt von romanischem Wesen. Aber bald blendete die formale Vollendung der über ganz Europa berühmten provenzalischen Dichtkunst, und wenn auch die unmittelbaren Nachahmungen bei den Minnesängern nicht sehr zahlreich sind, so hat doch das höfische und das Liebesideal der Provenzalen die Deutschen stark beeinflußt.
Mit der neuen Dichtkunst und mit dem höfischen Ideal der Chevalerie und des Frauendienstes war das erste völlig Selbständige und Neuartige entstanden, das sich neben der kirchlichen Bildung Geltung verschaffen konnte. Aus der Seele herauf klangen jetzt die Töne, die ihr gegeben waren – nicht mehr das starre Latein –, und die Seele sang von der Schönheit der Frauen und des Frühlings, von Abenteuer und Ritterschaft. Die Dichtkunst wurde sogleich der wichtigste Quell der Laienbildung, die als nationale Bildung auftrat, denn neben der Persönlichkeit des einzelnen wurde die Sonderart der Völker gefühlt, deren jedes in seiner eigenen Sprache sang. Jetzt empfanden sich zum erstenmal Provenzalen, Franzosen, Deutsche und Italiener als verschiedene Menschen. Und besonders in den Kreuzzügen, als die Völker Europas unter dem Auspizium der Kirche scheinbar ein gemeinsames Werk auf sich genommen hatten, wurden sich die einzelnen Nationen ihrer Eigenart voll bewußt.
Die lyrische Dichtung und der Ritterroman hatten dem Ideal der Zeit Ausdruck verliehen; groß und allgemein ist die Begierde gewesen, aus diesem Born zu trinken, die Herrlichkeiten kennen zu lernen und womöglich zu besitzen. So weckte die neue Dichtkunst das Bedürfnis nach Abschriften, nach Büchern. Ein zwar nicht neuer, aber bisher wenig wirksam gewesener Zweig entfaltete sich rasch, die Kunst, mit schöner Schrift Bücher zu schreiben, sie mit prächtigen bunten Initialen zu zieren und hier und da ein Textbild einzuschalten, das der Phantasie nachhalf. Jeder Fürst besoldete ein Heer von Abschreibern und Illuminatoren, aus ihrem Pinsel stammen die Handschriften, die heute als kostbare Schätze bewahrt und durchforscht werden.
Die heutige Kunstwissenschaft ist am Werke, den Einfluß herauszustellen, der von diesen französischen und von noch früheren englischen Werkstätten nach allen Richtungen Europas ausgestrahlt ist, und es kann schon jetzt als sehr wahrscheinlich gelten, daß die nordfranzösische Miniaturenkunst aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Quelle war, der die spätere nordeuropäische Malerei entsprang. Hier ist zum erstenmal unabhängig von den bisher allein herrschenden hellenistischen und byzantinischen Vorbildern eine neue originär-europäische Kunst entstanden, über die ein Kenner wie Max Dvořák folgendes sagt: »Es dürfte kaum möglich sein, eine äußerliche Ursache zu nennen, warum die dekorativen Elemente der romanischen Kunst so rasch und so ganz und gar verschwanden. Man brach mit der Vergangenheit und es begann eine völlig neue Zeit ... In diesem Sinn ist die neue Kunst fast traditionslos.« Dvořák nennt diese Wandlung »seit der Antike die wichtigste in der Geschichte der Malerei« und sagt weiter: »Gleichzeitig mit einer neuen Literatur entstand eine neue Illustration, neue, von der Antike nicht mehr direkt abhängige Miniaturen ... Völlig ausgebildet tritt uns der neue Stil zuerst da entgegen, wo es sich entweder um eine neue Technik handelt (wie etwa in den Glasgemälden) oder um ganz neue Darstellungen (z. B. Illustrationen zu der Profanliteratur).« – So leuchtet also der enge und ursächliche Zusammenhang ein, der zwischen der neuen Dichtkunst und der Ausschmückung der Bücher mit Bildern besteht, und man darf ohne Übertreibung sagen, daß die provenzalische Lyrik und die nordfranzösisch-keltischen Romanzyklen der Ausgangspunkt der neuen europäischen Malerei geworden sind, die ja erst zwei Jahrhunderte später im Norden und im Süden ihre Vollendung gefunden hat. (Über die mögliche Abhängigkeit der italienischen Kunst von Frankreich ist noch nichts Sicheres ausgemacht; doch scheint der monumentale Charakter der Kunst Cimabues und Giottos sowie der Sienesen einen allzu bedeutenden Einfluß der Miniaturkunst unwahrscheinlich zu machen und mehr auf antike Wandmalerei hinzuweisen.)
Hat die Miniaturmalerei im stillen gewirkt und eigentlich erst in ihren weiteren Konsequenzen allgemeine Bedeutung gewonnen, so steht die gleichzeitige Baukunst heute vor unseren Augen herrlich wie am ersten Tag. Was bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts in Europa an Monumentalbauten aufgerichtet wurde, geht direkt auf die hellenische Spätkultur zurück. Die byzantinische Basilika hat sich langsam – viel früher in Kleinasien als in Europa – zum romanischen Haus gewandelt und so hat auch auf diesem wichtigen Gebiet Europa vom Erbe der Antike gezehrt. Am gotischen Dom aber ist nur noch der Grundriß überliefert, der ja unmittelbar den romanischen Vorbildern entstammt, nämlich der Raumgedanke eines Langhauses mit Nebenschiffen. Aber aus diesem sozusagen unsichtbaren Schema wächst etwas absolut Neues, Autochthones hervor. Im Norden Frankreichs ist diese neue, spezifisch mitteleuropäische Kunst entstanden, auf einem Boden, wo die antiken Bauwerke mit ihrer lähmenden Autorität das neue Leben nicht hintanhielten und sich der Phantasie der Künstler nicht wie ein drohendes: Ich bin die Vollkommenheit! in den Weg stellten. Denn überall in der Kunst hatte sich die Antike als Feindin erwiesen, bis endlich die Renaissance reif genug geworden war, das antike Erbe derart zu verdauen, daß es wirklich überwunden und vernichtet war und als Dünger für eine neue Kunst dienen konnte.
Die Idee der Gotik ist die allmähliche Auflösung des Stofflichen, Schweren und seine Überwindung durch den Geist, der Sieg des Geistes über die Materie. Immer stärker lösten sich die Mauerflächen in gegliedertes, tragendes Pfeiler- und Strebewerk; immer weniger wurden eintönige Flächen geduldet, jedes kleinste Stück mußte in lebendig Geformtes umgesetzt werden, und so entstanden diese ganz unvergleichlichen Fassaden, die wir an nordfranzösischen Kathedralen bewundern, die Turmbauten, die blühendes Leben sind, wie der Stephansturm in Wien. Der ewige Widerstreit zwischen dem Lasten der Materie und der reinen Form ist in der gotischen Baukunst zum ersten und zum einzigen Male völlig überwunden. Der griechische Tempel hat in seinen klaren Dimensionen nicht mehr besessen als formale Vollendung ohne alles Seelische, Abgeschlossenheit in sich selbst gleich den marmornen Menschenleibern, die auf sich ruhen und nicht einem Höheren, Seelischen entgegenweisen. Die gotische Kunst ist wohl die einzige auf Erden, die ästhetisch-formale Vollkommenheit mit unendlichem, seelischem Reichtum innerlich vereinigt, die diese beiden Elemente in einem Höheren bindet. Das Gleichgewicht zwischen der unersättlich aus sich selber sprossenden Fülle – dem einen Merkmal des Genialen – und dem Streben zur völligen Einheit – dem anderen – ist erreicht. Die gotische Baukunst bedeutet das erste mächtige Wirken des germanischen Geistes in die Welt hinein; seine metaphysische Sehnsucht verbunden mit inniger Liebe zur Natur hat da ihren eigenen traditionslosen Ausdruck gefunden, gleichwie in der erwachenden Mystik, die nicht mehr den Aristoteles und seine Kommentatoren anbetet, sondern vom eigenen Herzen empfängt, was nottut. So hat auch diese Kunst in Italien niemals recht Fuß gefaßt. Besonders der Gedanke des schwebenden Turmes hat hier kein Verständnis gefunden.
Ornamente und Kapitäle, die vorher aus der Stilisierung geometrischer Gebilde entstanden waren und daher etwas Starres, wenn auch architektonisch Ernstes und Großartiges besaßen, verschwinden nun; die neuen Schöpfer, deren Namen vergangen sind, sehen um sich und nehmen die Gebilde der Pflanzenwelt in ihre steinerne auf. Die Bäume des mitteleuropäischen Waldes sind zu Pfeilern geworden, die scheinbar regellos durcheinander stehen und das geheimnisvoll, mystisch gewordene Bild der Natur spiegeln. Sie breiten sich zu Ästen und Rippen auseinander, tragen Knospen, Blätter und Früchte und wachsen in ein undurchsichtiges Laubdach zusammen. Jede Fiale ist ein junger Baumtrieb, ja selbst die niederhangenden Eiszapfen finden ihre Auferstehung in den Wimpergen. Aber man ging in der Aufnahme erschauter Naturgegenstände noch weiter: Über die Ranken liefen kleine leichte Tiere, Eidechsen, Vögel und selbst der Zwerg der deutschen Mythologie ist in die gotischen Dome eingeschlüpft. Nicht mehr das überlieferte Akanthusblatt der griechischen Natur, sondern das Eichenlaub des nordeuropäischen Waldes blühte nun in Stein auf. Ja, selbst das Kreuz wuchs in eine Blume um, das heiligste Symbol des Glaubens wurde neu erschaut, neu gefühlt und naturhaft geformt, um in dieser ganz echten, großen Kunst seine Stelle zu finden. Die alte Religion war hier neu beseelt, zum erstenmal entstand etwas völlig Neues, der echte Stil des mitteleuropäischen Fühlens. Die Natur war religiös empfunden und umgeschaffen worden. In seinem schwere-entbundenen, zum Himmel ansteigenden Streben ist der gotische Dom der vollendete Ausdruck desselben kosmischen Gefühles, das in der Seele Meister Eckeharts lebt, das im Gedicht Dantes seine ewige künstlerische Vollendung gefunden hat.
Aber wie Eckehart auch ein großer Scholastiker ist, so birgt die Seele des Steinmystikers dieselben Elemente. Die wirre und komplizierte scholastische Begriffswelt, die der Denkweise des Mittelalters so gut entspricht und die zugleich mit der neuen Kunst von Paris ausstrahlt, enthüllt eine tiefere Verwandtschaft mit der Gotik. Das bis ins Unendliche Konstruierende und sich immer wieder Spaltende, das unersättlich Spitzfindige und Schnörkelige – das ist dem scholastischen Denken und dem gotischen Bauen gemein – vielleicht ein letzter Wesenszug nordischen Geistes gegenüber der Klarheit der sonnigen Länder.
Wie aus fruchtbarem Erdreich hob sich aus den Fassaden der neuen Dome eine Welt von gemeißelten Menschen- und Tiergestalten. Die Figuren am Naumburger Dom, am Straßburger Münster, an den Kathedralen von Reims, Amiens, Chartres stehen hoch über der Kunst der anhebenden Renaissance in Italien. Es sind wahrhafte, von Leben und Leidenschaft erfüllte Menschen, nicht mehr Symbole jenseitiger unsichtbarer Herrlichkeit. »Alle Starrheit schmilzt, alles Harte wird weich, jede Linie wird durchströmt von seelischer Empfindung – auf den starren Gesichtern der Statuen erblüht ein Lächeln, das ganz von innen heraus kommt und wie der Nachglanz innerer Seligkeit wirkt. Alles wird ins Lyrische, Innerliche, Seelische gewendet.« (Worringer.) –
Eine Sehnsucht flammte durch die Welt und zwang alle Seelen in ihren Dienst, sie gebar den Glauben an Wunder und Abenteuer. Man wußte nichts Sicheres von den Ländern, die fünfzig Meilen entfernt waren, und konnte daher auf alles Märchenhafte gefaßt sein. Wer weiß, was dort hinter den blauen Bergen auf einen warten mochte? Gesetzlichkeit in der Natur war unbekannt, man hatte keine Vorstellung davon, daß Drachen und sprechende Löwen weniger naturgemäß sind als Hunde und Pferde. Eine Zeit, die nicht zwischen Natürlichem und Übernatürlichem zu scheiden vermag, wird stets die Vorstellungen hegen, die ihr am meisten zusagen. Hierzu siehe in: »Grenzen der Seele«: »Das Wunder«. Ist auch die Heimat kahl und dürftig, der lange Winter ohne Licht und Wärme bitter zu tragen, so muß doch fern, im Morgenlande, oder in Camelot, dem Reich des Königs Artur, ein schönes und glückliches Leben blühen. Unermeßlich groß war der Einfluß der Artursagen auf die Gemüter. In allen Klöstern wurden sie heimlich und verbotener Weise gelesen; an einem heißen Sommernachmittag schliefen die Klosterschüler einer nach dem anderen während der gelehrten Unterweisung ihres Meisters ein; da machte der Scholast eine kurze Pause und fuhr dann fort: Nun will ich euch von König Artur erzählen! – und sah wieder leuchtende Augen und gespannte Mienen. – Franz von Assisi nennt einen seiner Jünger »einen Paladin seiner Tafelrunde« und noch dreihundert Jahre später verliert Don Quichotte den Verstand über diesen Büchern; ja einige der größten Kunstwerke der Gegenwart, Wagners Lohengrin, Tristan und Isolde und Parsifal, entnehmen ihren Stoff diesem unerschöpflichen keltischen Sagenborn; und Eduard Stucken hat die ganze höfische Gesellschaft wieder zu romantischem Leben aufgeweckt. Die Sehnsucht nach Erlebnissen und Abenteuern hatte sich der Phantasie in einem ganz außerordentlichen Grade bemächtigt, man ließ sich nicht mehr mit Erzählungen beschwichtigen, man wollte selber dabei sein. Der junge Ritter, der nichts gelernt hatte als körperliche Übungen und Courtoisie, dazu ein wenig biblische Geschichte, zog aus der Burg seines Vaters, das Unbekannte zu suchen.
Swer schildes ambed ueben wil,
Der mousz durchstrîchen lande vil,
heißt es in Meister Wolframs Parzival. Es gab ein Heiligtum, geheimnisvoll, kaum mehr irdisch, das auf unzugänglichen Bergen im Waldesdickicht bewahrt wurde. Man konnte es finden, wenn man reinen Herzens war und sich für Lebenszeit dem Dienste des Göttlichen weihte. Jahrelang mußte man einsam irren, um das höchste Gut der Erde zu finden – den Gral.
Etwas Großes, Universelles mußte kommen, das alle Sehnsucht und alle Leidenschaft der Zeit aufnehmen konnte. Vielleicht ist es die Weisheit der großen Päpste gewesen, die diesen mächtigen Strom in das Bett der Kirche zu leiten verstanden hat – halb unbewußt sicherlich und selbst unter dem Druck der Zeit, aber doch von einem tiefen Instinkte geführt –; die allgemeine Sehnsucht fand ihren Gegenstand: es kamen die Kreuzzüge. Ein Ruf ging durch die Welt, daß das höchste Heiligtum der Erde, das Grab des Erlösers, in heidnischen Händen sei, daß es mißachtet und geschändet werde – was konnte es Höheres geben, als diese heiligste Stätte wieder zu erobern im Kampfe mit Heiden, Zauberern und Riesen? Das Heilige Grab war der Phantasie dieser vom Abenteuer beherrschten Menschen nichts anderes als die irdische Verwirklichung ihrer Gralssehnsucht.
Schon im Jahre 1000 hatte Gerbert Boten in die Welt gesandt und die Christenheit aufgefordert, Kriegsfahnen zu ergreifen und mit ihm ins Heilige Land zu ziehen. Ihm war geweissagt worden, daß er die erste Messe in Jerusalem lesen werde; und wirklich wurden in Pisa ein paar Schiffe ausgerüstet – der erste Versuch zu einem Kreuzzug. Aber für dieses außerordentliche und fast unbegreifliche Unternehmen – ein Land zu erobern, das kaum jemand gesehen hatte und an dem niemand ein greifbares Interesse besaß – ist Europa damals noch nicht vorbereitet gewesen. Zuerst mußte die mächtige, aber doch ganz unbestimmte Sehnsucht in die Gemüter einziehen, durch die diese Zeit so groß, aber auch so phantastisch wird. – Es ist ganz unhistorisch gedacht, wenn man glaubt, daß es die Schätze des Orients gewesen sind, welche die Raublust erregten und so zu den Kreuzzügen geführt haben. Gewiß, die fabelhaften Reichtümer, von denen erzählt wurde, haben auf die Phantasie gewirkt – aber nicht so sehr auf die Habgier, als auf das Bedürfnis nach Fremdartigem, Neuem, Märchenhaftem. War doch das Unternehmen der ersten Kreuzzüge etwas völlig Unabsehbares, man ging in die Ferne, um zu kämpfen – aber die Wiederkehr stand bei Gott. Sicherlich gibt es zu jeder Zeit Menschen, die nach Besitz gierig sind; sie aber zu Anregern und Leitern der Kreuzzüge machen, heißt, gerade das Charakteristische und nur einmal in der Welt Gewesene neben dem immer gleich Wirksamen, Alltäglichen übersehen. Auf das ganz Besondere, Individuelle kommt es hier wie immer an, nicht auf die unveränderlichen kleinen Wünsche, die schließlich noch nichts Bedeutendes hervorgebracht haben, weil sie keinen Heroismus gebären können. Das Abenteuer, das Unbekannte, das sind die eigentlichen Motive dieser Zeit gewesen. Im ersten Zauberwald konnte man ja eine nackte, über alle Maßen schöne Königstochter finden, die an einer Quelle saß und trauerte; aber man konnte auch einem Riesen begegnen, der einem den Schild in Stücke schlug und schwere Fron auflegte. Und es war gar nicht unwahrscheinlich, daß man einem Soldan oder einem Amiral sein Reich entriß – durch Mut und im Zweikampf konnte es geschehen –, um selbst ein großer König zu werden. Ist doch ein König nicht viel mehr gewesen als ein Großgrundbesitzer heute. Und das merkwürdigste – solche Träume sind in Erfüllung gegangen. Ein Ritter aus dem Elsaß, Gottfried von Bouillon, hätte König von Jerusalem werden können, aber er scheute sich, eine goldene Krone zu tragen, wo Christi Stirn mit einer Dornenkrone geziert worden war, und begnügte sich damit, »Schützer des Heiligen Landes« zu heißen. – Spielt denn nicht noch heute der geheimnisvolle Zauber des Unbekannten mit, wenn ein Jüngling zum erstenmal in den Schnellzug steigt, um in ein sonniges Land zu fahren, dessen Sprache er nicht verstehen wird, wo die Natur so reich ist, die Frauen so schön und so verführerisch? Und selbst dafür hat die Phantasie gesorgt, daß einer als König aus Monte Carlo heimkehren kann.
Aber man erwartete noch mehr: das Gerücht ging um, daß im Innern Asiens ein mächtiges christliches Reich bestände, das »bis ans Ende der Welt« reichte, und man zweifelte nicht, daß der Priesterkönig Johannes (eine Analogie des Papstkönigtums) seinen Glaubensgenossen zu Hilfe kommen würde und daß man gemeinsam das Heilige Land erobern müßte. Apokalyptische Bücher kamen zutage, in denen der Siegeszug des falschen Propheten Mohammed beschrieben war, sein baldiger Untergang und der endgültige Sieg der Christenheit prophezeit wurde. Diese Bücher trugen viel zur Hebung des Mutes unter den Kreuzfahrern bei, im Lager wurden sie von der Kanzel herab verlesen. Und als Johannes nichts von sich hören ließ, kam später – im ägyptischen Kreuzzug – die Kunde von seinem Enkel, dem König David, nach Europa, der hinter dem Rücken der Muselmanen wohnte und sie vernichten würde. Dieser König David war eine historische Persönlichkeit – Dschingis Khan!
Ebenso wie der Heilige Gral war auch die zinnenbewehrte Burg Jerusalem für das Bewußtsein der Zeit außerhalb der Welt gelegen. Dort winkte die geheimnisvolle Erfüllung aller Sehnsucht, die so übermächtig geworden war, daß ihr die Erde nicht mehr genügen konnte. Von Jerusalem, dem Mittelpunkt der Erde – noch in Dantes Komödie nimmt es diesen Platz ein – mußte ein unmittelbarer Weg ins Paradies führen. Hatte dort nicht das welterlösende Kreuz gestanden? Hatte sich über dieser Stadt nicht schon einmal der Himmel aufgetan, um den Heiland zu empfangen? Und war dort nicht Wunder nach Wunder geschehen? Warum sollte es nicht heute noch ebenso sein? – Man wußte so gut wie nichts von Palästina; nach biblischen Schilderungen hatte man es sich phantastisch zurechtgelegt; man zweifelte nicht, auf jedem Weg die Spuren des Erlösers wiederzufinden. Wie eine Erfüllung überirdischer Träume lockte der Besitz dieses Landes.
Der Impuls und die Kraft zu den Kreuzzügen wurde aus einem Geist geboren, der der Kirche innerlich fremd und entgegengesetzt gewesen ist; aber die geistige Überlegenheit der damaligen Päpste und die übermächtige Idee des Gottesstaates hat sie zu den größten Triumphzügen gestaltet, welche der römischen Kirche jemals beschieden gewesen sind. Die Tausende, die von innerer Ruhelosigkeit und von der Sehnsucht nach Neuem übers Meer geführt wurden, kämpften tatsächlich für die Macht Roms, und das phantastische Unternehmen einer christlichen Herrschaft über das Heilige Grab, eine Art Gralkönigtum, wurde zur Domäne der Päpste. Der große Hildebrand war entschlossen, die christliche Welt nach Jerusalem zu führen, auf dem befreiten Heiligen Grab das Gottesreich zu errichten, das Augustin verkündet hatte, und als ein wiedererstandener Christus den Kaiser und alle Könige der Erde neu mit ihren Reichen zu belehnen.
Der ritterliche Kreuzfahrer und der Gralsucher stellen eine paradoxe, aber durchaus zeitgemäße Verquickung des christlich-priesterlichen und des weltlich-ritterlichen Geistes vor. Diese beiden einander innerlich fremden Welten haben z.B. im Templerorden eine Verbindung eingegangen, die zwar alles Äußerliche des Rittertumes fortbestehen läßt, ihm aber fremde, kirchliche Beweggründe unterschiebt: nicht mehr die Ehre des Kampfes und des Sieges – die als Kehrseite der Persönlichkeitsentfaltung eine überaus starke persönliche Eitelkeit gezeitigt hatte – oder die Laune der erkorenen Dame durften jetzt Motive des Handelns sein: einzig die Ehre Gottes und der Sieg des Christentumes. Und neben den weltlichen Artursrittern hat das klassische Mittelalter in diesen Gestalten sein Ideal gefunden, in den priesterlichen Rittern, die durch Ströme Blutes schritten, um am Heiligen Grabe demütig niederzusinken, in den Gralsuchern, die sich ganz einer metaphysischen Aufgabe hingegeben hatten. Die Tafelrunde des König Artur hat den wirklichen Ritterorden – dies ist nicht zuviel gesagt – als Vorbild gedient. Nicht nur italienische Franziskaner, auch schwerfällige deutsche Mystiker wie Seuse und der so innerliche Johannes Tauler nehmen gern ihre Bilder aus dem Rittertum. So spricht Tauler in einem weit ausgesponnenen Vergleich von den roten Ritterkleidern, die Christus wegen seiner ritterlichen Frömmigkeit in der Zeit erhalten hat. »Und mit ritterlichem Streit hat er diese ritterlichen Waffen gewonnen, die ihn vor den väterlichen Augen und vor aller englischen Ritterschaft sehr zieren. Und gefällt ihm also sehr wohl, wenn seine auserkorenen Ritter auch mit dergleichen ritterlichen Kleidern geziert werden mögen« usf.
Das ergreifendste Symptom für die Ruhelosigkeit der Zeit, die ihre Träume nicht an dem Maßstab der Wirklichkeit zu regeln verstand, ist wohl der Kinderkreuzzug vom Jahre 1212, der selbst damals ratloses Erstaunen hervorgerufen hat. – Ein deutscher Chronist erzählt: »Um ebendieselbe Zeit liefen Knaben ohne Führer, ohne Leiter aus den gesamten Weilern und Städten aller Gegenden mit gierigen Schritten den überseeischen Ländern zu und antworteten, wenn sie gefragt wurden, wohin sie denn gingen: ›Nach Jerusalem, das Heilige Land zu suchen!‹ Sehr viele von ihnen wurden von den Eltern eingeschlossen, aber vergeblich, weil sie Türen und Wände durchbrachen und entwichen. Als der Papst von diesem Gerücht hörte, sagte er seufzend: ›Diese Kinder beschämen uns, weil wir schlafen, während sie zur Wiedereroberung des Heiligen Landes eilen.‹ Bis jetzt weiß man nicht, wohin sie gekommen sind. Aber sehr viele kehrten zurück, und als man sie nach der Ursache ihres Zuges fragte, sagten sie, sie wüßten es nicht. Auch nackte Frauen liefen um dieselbe Zeit nichts sprechend durch Dörfer und Städte.« – Noch heute kommt es nicht selten vor, daß sich ein paar Knaben zusammentun, um übers Meer, und zwar entsprechend ihrer Lieblingsvorstellung »zu den Indianern« zu gehen. Die Gendarmerie pflegt sie ein paar Meilen weiter aufzugreifen und zurückzubringen. Der große Gegenstand der damaligen Zeit hat die von einem ähnlichen Geist Besessenen »ins Heilige Land« getrieben und die Macht der Massensuggestion hat das ihrige beigetragen.–
Wären nicht die Kreuzzüge gekommen, so hätte etwas anderes eintreten müssen, um die Zeit von ihrem inneren Druck zu entlasten; sie verlangte nach einer großen, nach einer ans Metaphysische streifenden Tat, ihre Begeisterung war hinreichende Gewähr für die Möglichkeit und die Erfüllung. Beim einzelnen haben dabei Eitelkeit und Prahlsucht keine geringe Rolle gespielt. So wollte der österreichische Minnesänger Ulrich von Liechtenstein einen Kreuzzug mitmachen, aber nicht etwa um Gott zu dienen, sondern nur um seiner Dame zu gefallen. Es ist sehr wahrscheinlich (wenn auch nicht historisch belegt), daß dieser leibhaftige Don Quichotte davon geträumt hat, das Heilige Grab mit dem Schnupftuch seiner Herrin zu zieren. Schließlich ist er daheim geblieben. – Ausziehen und Wiederkehren, langes Sehnen nach dem Geliebten, Treue und Untreue haben der romantischen Phantasie der Zeit eine Menge neuer Stoffe zugeführt. Bis zum heutigen Tage berühmt ist die Geschichte des Grafen von Gleichen und seiner beiden Frauen, einer Christin und einer Sarazenin. – Ein reizendes provenzalisches Lied erzählt von einem Mädchen, das Tag für Tag an einer Quelle sitzt und nach dem Geliebten weint. An diesem Platze haben sie vor Jahren Abschied genommen, hier will sie ihn erwarten. Einmal kommt ein alter Pilger, den sie sogleich nach dem Geliebten fragt. Er kennt ihn und bringt ihr seine Grüße. Und nach kurzem Gespräch schlägt er die Kapuze zurück und ist es selbst, der zuerst die Stelle hat grüßen wollen, wo er von ihr gegangen ist.
Zu der allgemeinen Abenteuerlust ist aber noch ein anderes, das religiöse Motiv gekommen, von dem das ganze asketische Mittelalter in erstaunlicher Weise beherrscht war: der Gedanke, Buße zu tun und nach allen Verfehlungen des Lebens zu Gott zurückzufinden. Die Kreuzfahrten schienen nun eine Gelegenheit, seine innerste Neigung mit diesem seelischen Bedürfnis zu vereinigen, denn sie galten als gottgefälligstes aller Werke, jedem Teilnehmer war Vergebung seiner Sünden zugesagt.
Nur wenige innerliche Naturen wußten, daß alles Göttliche in der eigenen Seele beschlossen ist; denn bei unmittelbar erlebter Religion war es doch offenbar sinnlos, derartiges zu unternehmen (ganz abgesehen davon, daß Gott nicht die Hilfe der Menschen braucht). So sagte der Abt Peter von Clugny: »Es ist etwas Größeres, dem wahren Gott immer in Demut und Armut zu dienen, als auf eine prunkvolle und üppige Weise nach Jerusalem zu reisen. Wenn es also etwas Gutes ist, Jerusalem zu besuchen, wo die Füße des Herrn gestanden haben, so ist es etwas noch weit Besseres, nach dem Himmel, wo er selbst von Angesicht zu Angesicht geschaut wird, zu trachten.« – Und doch standen diese selben Geister, die so der biblischen Religiosität schon entwachsen schienen, unter der bestrickenden Idee ihrer Zeit. Bernhard von Clairvaux löste den Widerspruch folgendermaßen: »Nicht weil die Macht des Herrn geringer geworden wäre, ruft er schwaches Gewürm zum Schutze seines Erbteils auf (denn sein Wort ist Tat und mehr denn zwölf Legionen Engel könnte er zu Hilfe senden); sondern weil der Herr, euer Gott, euch retten will, führt er die Gelegenheit herbei, wo ihr seinen Dienst übernehmen könnt.« – Man sieht, daß hier schon eine nicht unbedeutende Veränderung des Grundgedankens eingetreten ist. – Peter von Clugny wirkte für die Kreuzzüge, und Bernhard, eine der mächtigsten und am meisten ehrfurchtgebietenden Persönlichkeiten des gesamten Mittelalters, vor dessen Wort sich die Päpste beugten, zog durch ganz Frankreich und entflammte die Gemüter durch seine Rede zu wilder Begeisterung. Wer ihn predigen hörte, ließ Hab und Gut und nahm das Kreuz, man schrie, daß Bernhard selbst die Christenheit anführen sollte. Und er zieht nach Deutschland, heilt Kranke durch seine bloße Gegenwart und predigt vor dem Volk in einer Sprache, die niemand versteht. Doch die Persönlichkeit dieses kränklichen und nur durch den Geist aufrecht erhaltenen Mannes erschüttert die Herzen. Kaiser Konrad, ein nüchterner Kopf, widerstrebt lange und will nichts von so unsicheren, zwecklosen Unternehmungen wissen. Aber von der ersten Predigt Bernhards, die er am Weihnachtstage zu Speyer anhört, wird er zu Tränen gerührt. Bernhard steigt von der Kanzel und heftet dem knienden Kaiser das Kreuz auf die Schulter. Mit dieser symbolischen Handlung war der metaphysische Geist der Zeit, den die Kirche in ihre Bahnen geleitet hatte, sichtbar über alle politische Vernunft Herr geworden. –
Die Kreuzzüge, das war die eine große Bewegung, welche die neu erwachte metaphysische Sehnsucht gezeitigt hatte. Auf andere, innerlichere Art offenbarte sich derselbe Geist in den hier und dort einsetzenden und nie mehr ganz schweigenden religiösen Reformbestrebungen. »Das Auftreten und die Ausbreitung von Ketzereien ist immer der Gradmesser persönlich-religiösen Lebens,« sagt Büttner zutreffend in der Einleitung zu seiner Eckehart-Ausgabe. Zum erstenmal seit den Tagen Jesu war das religiöse Bewußtsein wieder etwas Lebendiges, man wollte sich nicht mehr mit dem begnügen, was die Kirche lehrte und für absolute Wahrheit gab. Es regte sich, wenn auch anfangs nur schüchtern, Widerspruch. Laien wagten, auf dem Gebiete der Religion dreinzureden. Alles Wissen – und somit auch alle Tradition und Religion – hatte ja tausend Jahre lang in der Hand der Kleriker gelegen; wer etwa unter Laien gebildet war, verstand ein wenig Latein und wußte ein paar scholastische Lehrsätze. Nun änderte sich das. Trotz wiederholten kirchlichen Verboten wurden Teile der Bibel in die Volkssprachen übersetzt und vom unwissenden Volke gierig aufgenommen, allenthalben erstanden Männer, denen Religion Herzensangelegenheit war, die Gott in der eigenen Seele finden wollten, nicht blind aus fremder Lehre übernehmen.
Die eine mehr äußerliche Ursache des Mißvergnügens an der geistlichen Autorität war die sittenlose Lebensführung der Priester. Allzu offenkundig war der Widerstreit zwischen den Worten von Demut und Himmelreich, und der Habgier, Völlerei und Herrschsucht des Klerus. Vor den Augen der Laien wurden die geistlichen Ämter verkauft, die Gnade des Himmels war billiger zu haben als ein neues Gewand, jeder Priester durfte eine Konkubine halten, wenn er seinem Bischof eine Steuer bezahlte. Zwei Sirventesen des Troubadours Guillem Figueiras drücken diese Stimmung schroff aus: »Unsere Hirten sind räuberische Wölfe geworden, sie rauben allerorten und tragen dabei die Miene des Friedens zur Schau. Sie trösten ihre Schafe Tag und Nacht mit Sanftmut, haben sie sie aber einmal in ihrer Gewalt, so lassen die falschen Hirten ihre Schafe sterben und verderben.« Von den Priestern sagt er ferner:
Bei einem Weibe liegt er die Nacht,
Und ist er unrein aufgewacht,
Trägt er den Leib unsres Herrn.
Noch ärgere Schmähungen, die denen späterer reformatorischer Sekten nichts nachgeben, richtet er gegen Rom: »In den Flammen und im Verderben der Hölle hast du deinen Sitz! ... Du hast das Aussehen eines einfältigen Lammes, innerlich aber bist du ein rasender Wolf, eine gekrönte Schlange, von einer Viper erzeugt, so daß dich der Teufel seinen Vertrauten heißt!« – In Deutschland findet selbst der gutmütige Walter von der Vogelweide die schärfsten Worte gegen Rom – »Uns weisen sie zu Gott und fahren selbst zur Hölle!« Und schon Bernhard von Clairvaux, die Stütze der Kirche, hat sich in seinem Buch » De consideratione« schroff gegen die Mißstände der Geistlichkeit und des Papsttums ausgesprochen: »Das Gut des Armen wird vor die Türe des Reichen gesät, das Geld glitzert in der Gosse, von allen Seiten stürzt das Volk herbei und nicht der Bedürftigste gewinnt es, sondern der Stärkste oder der sich am meisten beeilt hat.« Er wendet sich direkt an den Papst und beschuldigt ihn der Verschwendung und der Prunksucht. »Hat man Petrus je in seidenen Gewändern gesehen, mit Edelsteinen und Gold bedeckt, auf einer Sänfte getragen und von Soldaten und Trabanten umringt?« – Und Bernhard spricht ein Wort, das wir noch heute als historische Wahrheit erkennen: »In allem deinem Glanze bist du eher der Nachfolger Konstantins als der des Petrus!«
Die Unzufriedenheit mit dem Leben der Kleriker und mit der Herrschsucht Roms ist das eine mehr äußerliche Moment (das übrigens zu allen Zeiten wirksam gewesen ist), das auch den religiös Gleichgültigen Ärgernis bereitet, die überlieferte Religion selbst aber nicht angetastet hat. Das zweite ist viel prinzipieller gewesen; es entstammte der eigentlichen Sehnsucht nach Erneuerung der Religion und wendet sich direkt gegen ihre Verderbnis in der Kirche. Das waren die so gefürchteten, gehaßten und blutig verfolgten Ketzer. Ihrer aller Grundgedanke war, das äußerliche Wesen der Kirche abzutun und zur Einfachheit der Evangelien zurückzukehren. Verschieden ist ihr Schicksal gewesen: Einige wurden heilig gesprochen, wie der milde Franz von Assisi, andere in peinliche Untersuchung gezogen wie der erleuchtete Meister Eckehart, andere, und zwar die meisten, verbrannt wie der Feuerkopf Arnold von Brescia. Dies ungleichmäßige Verhalten der Hierarchie gegen die wahrhaft religiösen Geister ist nur zu erklärlich: man stand nämlich vor einem Rätsel. Denn einerseits ließ sich die echte und tiefe Frömmigkeit mancher dieser Menschen nicht verkennen, andererseits aber war der Widerspruch zu Tradition und Kirche doch allzu deutlich und wurde von vielen sogar in den Vordergrund gerückt.
Der provenzalische Häretiker Peter von Bruis scheint der erste gewesen zu sein, der gegen den Bilderkult und sogar gegen die Bilder des Gekreuzigten gekämpft hat. Er ließ Kirchen niederreißen, weil er nur die unsichtbare Gemeinschaft der Gläubigen anerkannte; in St. Gilles wurde er von einem Volkshaufen verbrannt. Mächtiger und ausgebreiteter als seine Anhänger, die Petrobrusianer, sind die Katharer und die (1177 von Peter Valdez gegründeten) Waldenser geworden, die bald nach Oberitalien übergegriffen und hier mit der Sekte der »Lombarden« Zusammenhang gefunden haben. Die Katharer wollten im Sinne des Urchristentumes einfach und asketisch leben, schafften alle kirchlichen Feierlichkeiten ab und mißachteten die Sakramente, speziell die Taufe, denn sie glaubten nur an eine Ausgießung des Heiligen Geistes und sahen diese durch die Wassertaufe entweiht. Radikaler als die späteren Reformatoren widersprachen sie der wirklichen Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und in das Blut Christi und ließen nur eine symbolische Verbindung der Seele mit Gott gelten. Dies stempelte sie zu Ketzern und hat ihren Namen späterhin zum Namen aller Ketzerei gemacht. – Am berühmtesten aber ist die provenzalische Sekte der Waldenser oder Albigenser geworden. Ihr hingen, wenn nicht offen, so doch im geheimen viele der großen provenzalischen Herren an und man darf sagen, daß im Schoße dieser Sekte ein innerlich erneutes, seelisches Christentum gehegt worden ist, wie es erst wieder in Franziskus – der nach Thodes Meinung direkt unter dem Einfluß von Petrus Waldus gestanden hatte – und in der deutschen Mystik zutage kam. Die Albigenser lehrten, daß nicht Christus, sondern nur sein Schatten gekreuzigt worden war, sie wollten nichts von dem Gott des Alten Testamentes wissen, und an den erhabenen Parsismus und die tiefsinnigsten Gnostiker erinnert die Lehre, daß es zwei Schöpfer gebe, einen Schöpfer der sichtbaren Welt – den Teufel – und den wirklichen Gott, den Schöpfer der geistigen Welt. Zwischen ihnen beiden steht der Mensch, zwischen Gut und Böse, die Entscheidung liegt in seiner eigenen Hand. Von dem Geist dieser Menschen ist ein merkwürdiges Gedicht des durchaus nicht ketzerischen Peire Cardinal erfüllt; er tritt vor Gott hin wie eine Macht gegen eine andere, nicht in der gewohnten Demut. »Ich will ein neues Streitgedicht beginnen und am Tag des Gerichtes werde ich es dem vortragen, der mich aus nichts geschaffen hat. Wenn er meint, mich zu verurteilen und in die Hölle zu senden, werde ich ihm sagen: Herr, übe Gnade, denn ich habe die schlechte Welt allezeit bekämpft« – der Troubadour spielt hier auf seine vielen Streitgedichte an – »und rette mich von den Höllenqualen! Sein ganzer Hof wird sich wundern, wenn er meine Rede vernimmt. Und ich werde sagen, daß Gott gegen die Seinigen fehlt, wenn er sie der Hölle übergibt. Er sollte die Teufel verjagen, dann hätte er mehr Seelen und alle Welt wäre damit zufrieden ... Ich will nicht an dir verzweifeln, und darum mußt du meine Seele und mein Herz retten, verzeihe mir meine Sünden; aber wäre ich nicht geboren worden, so hätte ich sie nicht begangen! Und müßte ich in der Hölle brennen, es wäre Unrecht und Sünde! Fürwahr, ich kann dir vorwerfen, daß ich tausend Übel für ein Gut gehabt habe!« –
Schrecklich ist das Strafgericht gewesen, das Innozenz III. über die neue Kultur der Provence verhängt hat. Dieser große Geist ahnte, daß hier die Macht des lebendigen religiösen Bewußtseins aufstand, von dem der Autorität der Kirche mehr Gefahr drohte als von allen Sultanen und Khanen zusammen. Das System der absoluten, unveränderlichen Werte sollte ja hier von seinem Kernpunkt aus zerstört werden. – Im Jahre 1208 gründete der spanische Edelmann Dominikus Guzman den Dominikanerorden und die Inquisition, die zusammen mit dem päpstlichen Heer, das aus politischen Gründen von Frankreich unterstützt wurde, in die Provence einbrach. Eine halbe Million Menschen sind niedergemetzelt worden, um den Geist zu schlagen, der vielleicht von ein paar Hundert begriffen worden war, ein Scheiterhaufen entzündete sich am andern, der Autorität der Tradition und des Dogmas wurde das größte Opfer seit Menschengedenken dargebracht. Simon von Montfort, der Führer des Zuges, berichtet lakonisch an den Papst: »Keines Geschlechtes, keines Alters, keines Namens haben wir geschont, sondern jeden mit der Schärfe des Schwertes geschlagen.«
Es sind uns Lieder des Troubadours erhalten, die um das vernichtete Land, um die barbarisch zerstörte Schönheit klagen. Guillem Montanhagol, der schon durch die Inquisition gehörig eingeschüchtert war, schreibt ein langes Sirventes, von dem eine Strophe so lautet:
Voll böser Torheit schreit die Brut,
Daß reiches Kleid die Frau nicht ziert.
Fürwahr! wenn sie nichts Ärgeres tut,
Vor Hoffart nicht den Kopf verliert –
Weil sie sich edel trägt, bleibt Gott ihr gut.
Und keiner, der sich wohl zu schmücken weiß,
Gibt Gott um eines Wamses willen preis.
Mit schwarzer Kutte und mit weißem Rock
Erwirbt man Gott nicht – ist man sonst ein Bock.
So klingt die Stimme des Sängers; anders urteilt ein gebildeter französischer Prälat, Jakob von Vitry, über die blühende Kunst seiner Zeit. Er spricht von »eiteln Liedern, den Lügen der Dichter, dem Singsang der Frauen, den Zoten der Possenreißer. Solches Geziefer wächst im Strome zeitlichen Überflusses; es kriecht in Wahrheit hin über alle Speisen, weil nach der Sättigung gewöhnlich der Überschwall nichtigen Geredes kommt.« – Eine Versöhnung dieser beiden Welten ist nicht möglich.
In dem packenden Gedicht eines provenzalischen Mönches spricht der Inquisitor zum Ketzer:
Und wenn du jetzt nicht beichtest, ist jede Hoffnung tot,
Der Scheiterhaufen flackert, die Flammen züngeln rot.
Das Horn gellt durch die Gassen, schon kommt das Volk gerannt,
Um das Gericht zu schauen – denn jetzt wirst du verbrannt! –
Während in der Provence die Waldenser blühten, hat es im Westen Deutschlands und in den Niederlanden vom 11. Jahrhundert an Ketzersekten gegeben; so die Apostoliker, die das Leben der evangelischen Zeit buchstäblich auffaßten und Kommunismus und Weibergemeinschaft einführten; ferner die Gemeinschaften der Begharden und Beghinen, die wenig Lärm machten und nicht auf Reformen, sondern auf innerliche Einkehr bedacht waren; sie drangen tief ins Volk ein und haben mit den späteren deutschen Mystikern in Verbindung gestanden. Von dem religiösen Individualismus einer dieser Sekten, der »Brüder vom freien Geiste«, gibt eine erhaltene Anklageschrift Zeugnis, die als ketzerisch die Meinung hinstellt, »es sei besser, daß ein Mensch zu seliger Vollkommenheit gelange, als daß hundert Klöster gegründet werden«.
Im Norden und im Süden traten Propheten auf, welche die Wiederbeseelung des Evangeliums Christi und mit ihm die Wiedergeburt der Welt verkündeten. Der fanatische italienische Mönch Joachim von Floris (um das Jahr 1200) predigte diese Wiedergeburt als ein notwendiges Ereignis; ein Vorgänger Hegels, lehrte er drei Weltalter: die Herrschaft des Vaters unter der Strenge des Gesetzes und der Furcht, die Herrschaft des Sohnes oder der Gnade und des Glaubens, und die Herrschaft des Geistes oder der Liebe. Dieses letzte Zeitalter sollte nunmehr anbrechen, und vielfach wurden die Worte Joachims wie Weissagungen eines Erleuchteten geglaubt. So forderte der Mönch Gerhard von Borgo San Donnino im Jahr 1253, daß für das anhebende dritte Weltalter ein neues Evangelium des Heiligen Geistes erscheinen müsse, ein sichtliches Zeugnis, wie der Geist der Häresie aus dem Bedürfnis nach Religion geboren wurde; und selbst Dante spielt wiederholt auf Joachims Lehre an.
Das Volk verachtete die Geistlichkeit und neigte sich gern jedem Neuerer zu, stand aber doch ganz unter der abergläubischen Scheu vor dem Geweihten, dem Verwalter geheimnisvoller Zaubereien, die man durch entsprechende Übungen, vielleicht auch durch Geschenke für sich wenden konnte. Überall blühte der Reliquienfetischismus, hätte man etwa alle Stücke aus dem Kreuz Christi, die verkauft und verehrt wurden, aufeinandergelegt, es wäre wohl ein Wald entstanden – um nur ein halbwegs sinnvolles heiliges Andenken zu erwähnen, von den Knochen der unzähligen Heiligen zu schweigen, mit denen manche Klöster, besonders in Frankreich, einen einträglichen Handel trieben, der um so schwungvoller war, als diesen Leichnamen durchwegs die Gabe zugeschrieben wurde, Krankheiten zu heilen. Schon damals war dieses Treiben manchen Geistern widerlich, so predigte (um 1200) Guibert, der Abt von Novigentum, gegen Heiligenkult und Reliquienverehrung und brachte all die Argumente vor, die später oft genug ins Treffen geführt worden sind, aber noch heute nicht als siegreich angesehen werden können. Guibert nannte es einen schändlichen Unfug, daß man einzelne Glieder vom Leib löste und der Bestimmung des Leichnams, wieder Erde zu werden, Hohn sprach. »Wie sollte einer würdig sein, in Gold und Silber eingefaßt zu werden, da der Sohn Gottes unter einem elenden Stein geborgen wurde?« Und er verlangte, daß man sich vom Sichtbaren, Handgreiflichen zum Unsichtbaren erhebe. »Mit aller Macht heißer Sehnsucht muß man danach streben, die Sache selbst ohne die Hülle der Bilder vor Augen zu haben, mit den Armen des Herzens sie zu umfassen.« – Er erklärte, daß die Reliquien der Religion zuwiderlaufen, denn erst nachdem die körperliche Gegenwart Christi den Jüngern entzogen war, konnte der Heilige Geist zu ihnen kommen. Auch das ganz materiell gedachte Fortleben der Seele nach dem Tode, das damals kaum von einem angezweifelt wurde, hat Guibert abgelehnt und er wagte den Gedanken, daß die Höllenstrafen nur seelisch zu deuten seien. »Zur Seligkeit der Heiligen reicht die ewige Anschauung Gottes allein aus; wer wagte, sich dagegen zu erklären, daß das Elend der Verdammten in der ewigen Beraubung der Anschauung Gottes bestehe?« – Solche wahrhaft bedeutende Gedanken hat hundert Jahre vor Eckehart ein kaum Bekannter ausgesprochen. –
Die Religion war verloren gegangen; bei den gelehrtesten Geistern hatte sich in ein Wissen um historische Dinge gewandelt, was Leben hätte sein sollen. Von vielen wurde die Rückkehr zur evangelischen Einfalt und Liebe als das einzig Notwendige empfunden; aber erst das Leben (mehr als die Lehre) eines Mannes ist das große Ereignis geworden, das wieder als wahrhaftes Vorbild empfunden werden konnte. »Niemand hat mir gezeigt, was ich tun soll; aber der Höchste selbst hat mir offenbart, daß ich dem heiligen Evangelium gemäß leben soll.« Franz von Assisi hat die Erzählungen vom Leben Jesu völlig naiv hingenommen, ohne nach einem allegorischen Sinn zu fragen wie die Theologen, und ohne den Menschen Jesus über dem göttlichen Prinzip des Logos zurückzustellen wie die großen Mystiker. Die Nachfolge Jesu ist ihm ein Wirken durch Liebe gewesen; ihm war Religion nicht Dogma und nicht hierarchisch-politische Macht, sondern ein Zustand des Herzens. Dieser Zug verbindet ihn mit dem großen Neuschöpfer der europäischen Religiosität, der hundert Jahre später gelebt hat, mit Meister Eckehart, dem er doch innerlich fernsteht. Franz hat niemals ein feindliches Wort gegen Tradition oder Geistlichkeit, gegen Sittenverderbnis und religiöse Gleichgültigkeit gesprochen wie alle Reformatoren, und doch ist ihm das Wunder gelungen, durch seine bloße Existenz reformatorisch zu wirken; denn er hat das Geheimnis der großen Liebe besessen, an ihm hat sich die ewige Schöpfermacht alles Wesenhaften und Positiven offenbart gegenüber der innerlichen Leere des Polemischen und Negativen. Franz hat sich Zeit seines Lebens gegen die Feststellung von Regeln gesträubt, die ihm Päpste und Bischöfe für seine Anhänger auferlegen wollten. Nicht in der Begründung eines Ordens mit einem Zweck und Gesetzen, sondern im lebendigen Wirken lag seine Bedeutung. Wenn es ihm recht geschienen ist, hat er kirchliche Normen übertreten, denn er war seiner Sache ganz gewiß; ohne geistliche Weihe hat er vor dem Volk in seiner eigenen Sprache gepredigt, wahrscheinlich als erster in Italien nach dem Provenzalen Peter Valdez; ohne irgendeine Befugnis hat er seine Freundin Klara zur Nonne geweiht. Es war eine ganz besondere Klugheit Innozenz III., der sich die Ausrottung der vielen Ketzersekten zum Lebensziel gesetzt hatte, daß er Franz noch nachträglich die Volkspredigt erlaubt und seine unkirchliche Brüderschaft anerkannt hat. So wurde schon im Keim revolutionäre Gesinnung in treue Dienerschaft der Kirche gewandelt. Vielleicht ist durch Franz die Kirche vor einer frühen großen Reformation bewahrt worden, denn die Anzeichen sind schon allzu zahlreich gewesen, und ein zweiter Arnold von Brescia hätte sich vielleicht gefunden, den Umsturz einzuleiten. Es ist zweifelhaft, ob die Kirche aus einem Franziskanerkreuzzug in Italien so siegreich hervorgegangen wäre wie aus dem Kampf in der Provence.
Über die Wissenschaft hat Franz folgendes Wort gesprochen: »Ein einziger Dämon weiß mehr von der Wissenschaft als alle Menschen auf der Welt zusammen. Aber etwas gibt es, dessen der Dämon nicht fähig ist und darin besteht der Ruhm der Menschen. Er kann Gott treu sein.« – Mit diesen Worten war die Überlieferung und die Theologie innerlich überwunden, das unmittelbare Bewußtsein des Göttlichen in der Seele aufgebrochen. Ja, Franz hat seinen Brüdern sogar den Besitz der Heiligen Schriften verboten. Gott im Herzen – das war seine einzige Lehre. Und dabei ist er einem Hochmut des Nichtwissens ganz fern gewesen, er hat sich wirklich geringer gefühlt als der Geringste – nicht wie die Bischöfe und Päpste, die sich »Knecht der Knechte Gottes« genannt, es aber ganz anders gemeint haben. – Wie gut paßt es zu diesem einfältigen Gemüt, wenn er sich (in einem Brief) darüber ereifert, daß die Gefäße, die man bei der Messe verwendet, nur ja recht sorgfältig aufbewahrt würden, weil sie ja den Leib des Herrn zu empfangen bestimmt sind. Und trotzdem weiß er kaum etwas von der symbolischen Verwandlung von Brot und Wein – ohne nachzudenken, nimmt er diese Wunder hin wie ein Kind.
Auch Franz hat sich an einem Kreuzzug beteiligt (im Jahre 1219), auf seine Weise. Mitten im wilden Kampf um Damiette ging er ins sarazenische Lager und predigte vor dem Sultan, der ihn mit Achtung aufnahm und unbehelligt zurücksandte. Und dann soll er nach Bethlehem und nach Jerusalem gezogen sein, wo ihm der Sultan, durch seine Persönlichkeit ergriffen, Zutritt zu den heiligen Stätten gewährt hat, wie die Legende erzählt.– Bei Franz hat diese Wallfahrt in das Land Jesu eine echte und tiefe Bedeutung gehabt, denn für ihn ist das Christentum Nachfolge Jesu gewesen.
Franz hat die Askese des frühen Mittelalters dadurch überwunden, daß er sie als bedeutungslos erkannte, und hat doch selbst von Brot gelebt und die Armut zu seiner Göttin erkoren. Er war von lebendiger Wirksamkeit so erfüllt, daß er nicht an den nächsten Tag dachte und die Lehre des Evangeliums wörtlich befolgte: »Keiner von euch, der nicht alle Habe von sich tut, kann mein Schüler sein.« (Lukas 14, 33.) Wie in den Fioretti (vielleicht der ältesten volkstümlichen Sammlung von Dichtungen) zu lesen steht, hat er die Askese als Prinzip ausdrücklich verboten; dieser Zug der Legende kann nicht erfunden sein, weil er dem ganzen damaligen Zeitgeist zu fremd ist und sicherlich nur einem neuen und starken religiösen Erlebnis entstammen konnte. Franz wollte auch nichts davon wissen, daß sich seine Anhänger selbstgenugsam in Klöster abschlössen und ihrem Seelenheil lebten, wie es das allgemein anerkannte Ideal der Vita contemplativa, gewesen ist; mitten unter den Menschen sollten sie wohnen, Liebe um sich verbreitend und von der Milde ihrer Brüder lebend.
»Singend schritt er dem Tod entgegen,« sagt sein Biograph Thomas von Celano (der Dichter des mächtigen Dies irae, dies illa. Und auf seinem Totenlager hat Franz den Sonnenhymnus gedichtet und ohne Unterlaß gesungen, diesen erhabenen Lobgesang, in dem sich der Ertrag seines großen Lebens – Liebe zu allem Erschaffenen – zusammenfaßt und verklärt. Hier ist eine neue Art von Frömmigkeit zum Ausdruck gekommen, eine Frömmigkeit der liebenden Ekstase und zugleich der vollkommenen Demut. Franz umfaßte in seinem Herzen die Schwester Sonne, den Bruder Mond, die lieben Gestirne, den Bruder Wind, die Schwester und Mutter Erde; und am letzten Tag fügte dieser Pater seraphicus noch die erschütternde Lobpreisung auf den »Bruder Tod« hinzu. Eine Schar singender Lerchen soll sich auf dem Dach der Hütte niedergelassen haben, als er im Sterben lag, von seinen kleinen Schwestern, den Vögeln, ist er hinübergesungen worden.
Man darf gegen diesen Tod, der ganz von den Grundkräften der neueren Zeit, Seele und Gefühl, getragen ist, jenen andern, berühmteren aus dem Altertum stellen. Sokrates stirbt, ohne dem persönlichen Gefühl die geringste Macht über sich einzuräumen, aus der rein logischen Erwägung heraus, daß es notwendig sei, den Gesetzen des Staates zu gehorchen. Sein Tod ist die Anwendung eines allgemeinen Satzes auf einen Einzelfall, und weil keiner da ist, der dem Sokrates einen dialektischen Fehler nachzuweisen vermag, muß die Konklusion, sein Tod, eintreten. Der Mittelpunkt alles menschlichen Seins ruht im Denken, und so ist es bis in die Zeit geblieben, mit der wir zu tun haben; da wird das Gefühl Herrin.–
Franz und einige seiner bedeutenderen Nachfolger haben in ihrem Leben das einfache religiöse Grundgefühl der Liebe auf eine dem Volk einleuchtende Weise verwirklicht. Spielleute Gottes wurden seine Anhänger genannt, weil sie ohne jede kirchliche Zeremonie von der Liebe Gottes sprachen und sangen. Jacopone da Todi (1236-1306), vielleicht nächst Dante und Guinicelli der bedeutendste Dichter Italiens, hat in verzückten Versen die überirdische Gottesliebe gesungen. Er ist ein religiöses Gegenstück der Troubadours, seine Inbrunst zu dem Jesuskind, der Madonna und dem Gekreuzigten stellt ihre glühendsten Liebesgedichte in den Schatten. – Diese Südländer konnten auf die sichtbaren Äußerungen ihrer Religion nicht verzichten, das unendlich einfache Prinzip, daß nur der ganz frei sei und nie in Streit mit dem Nächsten geraten könne, der nichts sein Eigen nennt und nach nichts Irdischem begehrt, ist, wenn auch nicht befolgt, so doch verstanden und verehrt worden. Volk und Künstler sind Franz für dieses Geschenk dankbar gewesen und haben seinen Namen mit Legenden umsponnen; in seinem bekannten Werk schildert Thode ausführlich, wie das Leben Franzens der erste große neue Stoff seit den Evangelien gewesen ist und so dem Schöpfer der neuen Kunst, Giotto, einen bedeutenden Gegenstand bot, der ihn auf das Studium der Natur, nicht nur des Menschen, sondern auch der Pflanzen und der Tiere hingewiesen hat. Von den Wänden der Kathedrale in Assisi lesen wir noch heute das Leben des heiligen Franz und stehen vor dem ersten Monumentalwerk italienischer Kunst. –
Es ist den Menschen nötig, manchmal einen Vollendeten unter sich wandeln zu sehen; ohne einen solchen wäre die doch innerlich notwendige und nicht historisch bedingte Idee des Christentumes niemals zum Siege gelangt. Bei solch einem vorbildlichen Menschen kommt es nur noch auf das Dasein an und nicht mehr auf Wort und Lehre. –
Franz hat das Erdenleben Jesu erneuert; aber in einem Punkt ist er über sein Vorbild noch hinausgegangen; denn hat die Liebe Jesu alle Menschen umfaßt, so schließt Franz auch Tier und Baum und Stein in sein Herz ein und bezieht das Wort: Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan, auch auf den »Bruder Bär« und seine »Schwestern, die kleinen Vögel«. Er ist einer der ersten Menschen seit der Griechenzeit, der wieder die Natur in ihrer Wirklichkeit geschaut hat, nicht nach Art des ersten Jahrtausends als Hieroglyphe des göttlichen Wortes begriffen. (Diese frühmittelalterliche Auffassung ist noch bei Dante und in der Renaissance nicht ganz erloschen.) Bisher hatte man hilflos die Gefahren der Elemente empfunden, ohne von ihrer Großartigkeit etwas zu wissen, oder hatte spekulierend die Geheimsprache der himmlischen und irdischen Erscheinungen zu entziffern versucht. Die Entdeckung der Naturschönheit und mit ihr die Wiederbegründung des ästhetischen Verhaltens neben dem ethischen, dem intellektuellen und dem religiösen ist aber ein wesentlicher Bestandteil des neugeborenen Kulturgeistes. Dies haben auf ihre Art – man möchte sagen, sentimental – Troubadours und Minnesänger vollbracht. Ganz anders aber ist das Verhältnis Franzens zur Natur. Naiv heidnisch muß die Gleichstellung von Mensch und Tier z. B. in der Vogelpredigt genannt werden. »Franz sprach zu seinen Begleitern: Erwartet mich hier auf dem Wege, ich werde indessen zu meinen kleinen Schwestern, den Vöglein, sprechen. Und er ging ins Feld und begann, den Vögeln zu predigen, die auf der Erde saßen; sogleich aber kamen alle die anderen von den Bäumen herbei und blieben still sitzen, während Franz anhob zu reden. Und sie flogen nicht fort, ehe er sie alle gesegnet hatte, und wenn er sie anrührte, bewegten sie sich nicht.«
Mehr als ein Jahrhundert später (1300-1365) hat im Alemannischen ein Mann gelebt, dessen Seele der des Franziskus verwandt gewesen ist. Ich meine Heinrich Seuse (Suso), der meistens unter den Mystikern genannt wird. Seine Liebe zu Wiese und Wald ist innig und deutsch und er drückt sie vollkommener aus als die besten Minnesänger. »Lug über dich und um dich in die Gegenden der Welt, wie weit, wie hoch der schöne Himmel ist in seinem schnellen Lauf, wie edel ihn sein Meister geziert hat mit sieben Planeten, jeder – nur nicht der Mond – viel größer als die Erde, und wie er geschmückt ist mit der unzähligen Menge lichter Sterne! Achte, wie schön und heiter die Sonne aus dem wolkenlosen Himmel bricht und wie sie gute Frucht der Erde schenkt! Wie der Anger schön grünt, wie Laub und Gras aufsprießen, die schönen Blumen lachen, Wald und Heide und Aue hallen vom süßen Gesang der Nachtigallen und der kleinen Vögel; und jedes Tier, das sich vor dem harten Winter verkrochen hat, kommt hervor und freut sich und paart sich! Und wie die Menschen, jung und alt, in wonnesamer Freude froh sind! Ach, zarter Gott, du bist in deiner Kreatur so minniglich! Aue, wie bist du in dir selber so gar schön und minniglich! « – Er schildert die paradiesische Au und es klingt wie die Beschreibung eines Bildes von Fra Angelico: »Nun lug selber auf die schöne himmlische Heide: hei! der vielen Sommerwonne, des lichten Maien Aue, aller wahren Freuden Tal! Da sieht man wohl fröhliche Blicke von Lieb zu Lieb gehen! Da ist ein Harfen, ein Geigen, ein Singen und Springen, Reihentanz und aller Freuden Statt. Da ist Lieb ohne Leid fort und fort« usw. – Und dieser selbe Seuse hat ein Bild gezeichnet, das den Weg des Menschen, seinen Ausgang von Gott und seine Heimkehr zu Gott darstellt. Hier ist der Weg des Menschen Selbstabtötung und Askese, über einem tanzenden Menschenpaar schwingt der Tod seine Sense. Und die Inschrift: »Dies ist der Welt Minne, die nimmt mit Jammer ein Ende.« So tief stand dieser unmittelbar empfindende zarte Mensch unter dem Bann des tradierten Welthasses, den sein großer Lehrer Eckehart schon völlig überwunden hatte.
Provenzalen und Italiener haben den Frühling besungen und die deutschen Minnesänger begrüßten mit ihm die Erlösung von aller Mühsal des harten Winters; bei ihnen ist es mehr die kindliche Lust, nach langer Haft wieder ins Freie zu eilen, seine Glieder zu recken und frische Luft zu atmen, als reine Freude an der Schönheit. Eine der besseren Naturschilderungen findet sich bei Bernart von Ventadour:
Oh, alle Vögel singen wieder helle,
Ich hör' den Storch und hör' den fernen Reiher,
Und Lilien stehn an mancher grünen Stelle.
Blaublümlein gucken unterm Laub hervor,
Der Bach tanzt über Kiesel hin zum Weiher
Mit seinem breiten weißen Lilienflor.
Die Deutschen feiern regelmäßig den Mai, die singenden Vöglein auf den Bäumen und die bunten Blumen; aber das einzelne steht unvermittelt beisammen, kaum jemals wird es zu einem einheitlichen Bilde zusammengefaßt. Anstatt der bekannteren Minnesänger führe ich eine Strophe des niederrheinischen Mönches Bruder Hans aus dem 14. Jahrhundert an:
Ja, ist das nicht ein Wunder,
Daß von des Regens Güssen
Und von dem Tau jetzunder
Aus trockener Erde Gräser sprießen müssen?
Und aus den Bäumen, den so lang verdorrten,
Reis und Gezweige
Und Knospen, Laub und Blüten aller Orten?
Auch in den deutschen Epen gibt es echt empfundene Naturbilder, so die Beschreibung der Minnegrotte in Gottfrieds »Tristan und Isolde« und mehrere Stellen im Gudrunlied. – Wer Gemälde, besonders deutsche, aus der Zeit vor der Hochrenaissance betrachtet, dem fällt wohl die außerordentliche Liebe auf, mit der die unscheinbaren Dinge der Natur, eine Blume, ein Vogel und anderes gebildet sind. Die unmittelbar erschauten und vertrauten kleinen Gegenstände der Umgebung wurden so mit den feierlichen biblisch-historischen Stoffen in Verbindung gesetzt.
Es läßt sich nicht zweifeln, daß zu jeder Zeit ein gewisses Gefühl für die Schönheit der Natur in einzelnen Menschen lebendig gewesen ist; aber man stand zu sehr unter dem Bann der allgemeinen Anschauung, daß das Überirdische allein wahrhaft schön sei und das Irdische nur als dessen Abbild Schönheit gewinnen könne. So haben wir schon bei Seuse gesehen, wie er das Frühlingsprangen der deutschen Natur auf das Himmelreich überträgt.
Damals haben sich zum ersten Male Menschen gefunden, die ohne jeden Zweck, nur um zu schauen und zu lernen, ferne Länder aufsuchten; der berühmte Venezianer Marco Polo hat um das Jahr 1300 als erster Europäer Mittelasien betreten, China und Tibet wiederholt durchquert und Kunde vom Märchenland Japan nach Europa gebracht. Das Schauen ohne praktischen Zweck, um seiner selbst willen, wurde jetzt entdeckt. Man war schon weit ins Meer hinausgefahren, um Handel zu treiben, aber die nahen Kuppen der Voralpen hatte noch kein menschlicher Fuß betreten, oder vielleicht einmal ein Bauer, dem sich das Vieh verlaufen hatte. Petrarca ist der erste Mensch, der einen unfruchtbaren Berg, den nur 2000 Meter hohen Mont Ventoux in der Provence erstiegen und so um der bloßen Freude an der Naturschönheit willen Mühen auf sich genommen hat (im Jahr 1336). Dies ist eine große, eine unsterbliche Tat, fast vergleichbar dem Sonnenhymnus des heiligen Franz, und mehr als die sämtlichen Sonette und Abhandlungen Petrarcas zusammengenommen. Wenn die Minnesänger den Frühling gepriesen haben, so taten sie es, weil er sie umgab, Petrarca aber hat den großen Eindruck gesucht und ihm Opfer gebracht. In einem langen, auf uns gekommenen Brief hat er diese merkwürdige Erstbesteigung, vor deren innerer Bedeutung alle alpinen Heldentaten unserer Zeit geringe Turnübungen sind, mit viel Geist und klassischer Gelehrsamkeit beschrieben.
Nicht lange nachdem man begonnen hatte die Schönheit der Natur zu entdecken, machte sich auch (im 13. Jahrhundert) hier und da das Bedürfnis geltend, den Zusammenhängen der Natur nachzusinnen und mit eigenen Augen bestätigt zu sehen, was in den ehrwürdigen Büchern stand – vielleicht sogar Neues zu finden. Hier wird in erster Linie der Deutsche Albrecht von Bollstädt (Albertus Magnus) genannt, der zwar am allermeisten zur Ausbreitung der aristotelischen Philosophie beigetragen, aber auch eine Naturkunde auf eigene Beobachtung gegründet hat; und gleichzeitig mit ihm der große Engländer Roger Bacon, der eigentliche Vater der modernen Erfahrungswissenschaft. Er hat zuerst das Wort scientia experimentalis ausgesprochen und als Prinzip verkündet, daß alle Forschung auf dem Studium der Natur beruhen müsse. Er bezeichnet die Erfahrung als »die Herrin der Wissenschaften« und sagte: »Ich achte den Aristoteles und halte ihn für den Fürsten unter den Philosophen, aber ich folge nicht immer seiner Meinung und entferne mich von ihm. Aristoteles und die anderen haben den Baum der Wissenschaft gepflanzt, aber der hat noch lange nicht alle Zweige getrieben, noch lange nicht alle seine Früchte gebracht.« – Man muß verstehen, was dieser Gedanke, so selbstverständlich er uns heute scheint, im Zeitalter der Scholastik zu bedeuten hatte. Bacon hat auch zehn Jahre im Kerker verbracht; und doch ist er so weit Scholastiker gewesen, daß er als Aufgabe der Philosophie ansah: »Die Beweise für die Wahrheit des christlichen Glaubens zu erbringen.«
Mit ein paar ganz groben Strichen muß hier der Kern des damaligen philosophischen Denkens herausgehoben und der Weg gezeigt werden, der vom Christentum der Kirchenväter und Scholastiker zur Religion des unhistorisch gewordenen Christentumes, der sogenannten Mystik, mit Notwendigkeit hingeführt hat. Die Scholastik hatte im 13. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht; in Paris, Oxford und Padua wurden Universitäten gegründet, und wer die volle Weihe der Gelehrsamkeit suchte, mußte dort seinen Rang erwerben; selbst Meister Eckehart hat seine scholastische Bildung in Paris nicht verabsäumt.
Die Scholastik ist ein imposantes und doch oft seltsam groteskes Weltgebäude, das aus Bibelwort und Kirchentradition, aus hohem, reinem Denken und antik-mittelalterlichem Aberglauben vor dem Hintergrund flammender Scheiterhaufen errichtet worden ist. Ihr Grundproblem muß durchaus philosophisch genannt werden: die Grenzbestimmung zwischen Erkennen und Glauben. Hatte sich die ältere, auf platonischen Überlieferungen beruhende Scholastik gemüht, beides in Einklang zu bringen, d. h. die Offenbarung dialektisch zu begründen; so wurden seit Albertus Magnus und autoritativ durch seinen Schüler Thomas von Aquino (1226-1274) mit aristotelischen Waffen die natürlichen oder erkennbaren von den übernatürlichen Wahrheiten oder den Gegenständen des Glaubens prinzipiell und schroff geschieden. Um die Kirchenlehre für alle Zeit vor Skepsis sicherzustellen, war diese Scheidung unternommen worden; aber sie enthüllte bald ihr doppeltes Antlitz: Die Magd Philosophie stand gegen die Herrin Theologie auf und fragte nach ihrem Herrscherrecht. Die klassisch und dogmatisch gewordene Lehre des Thomas hat die natürlichen Wahrheiten allein der menschlichen Vernunft vorbehalten; die übernatürlichen oder offenbarten Wahrheiten (die Dogmen) waren jeder Begründung und jeder wissenschaftlichen Erkenntnis entrückt. Nicht nur unmöglich sollte ihre Erforschung sein, sondern jeder Versuch hierzu wurde von Thomas sogar als ketzerisch bezeichnet, und er vermeinte, durch diesen Zug den Glauben ein für allemal sichergestellt zu haben. Entschiedenere und tiefere Denker aber fanden – obgleich sie die Autorität der biblischen Schriften nicht ausdrücklich bestritten und die Grenzsetzung des Thomas bestehen ließen – die unerkennbaren Wahrheiten nicht in der Tradition der Kirche, sondern in der eigenen Seele, und gaben so dem »Glauben« einen neuen, jeder Kritik unerreichbaren Sinn.
Der Gedanke, erkennbare oder vernünftige Wahrheiten von unerkennbaren oder göttlichen zu scheiden, trägt schon die unstillbare Frage nach den Grenzen der menschlichen Erkenntnis in seinem Schoß; und diese Frage ist, wie man weiß, bis heute ungelöst. Im Lauf der Geschichte wurden dann die Grenzen immer weiter zugunsten des Nichtwissens verschoben (der Charakter des Nichtwißbaren aber wiederum problematisiert und in Frage gestellt). War noch Thomas überzeugt, die Existenz Gottes mit den Kräften der menschlichen Vernunft beweisen zu können (während der spezifische Inhalt der christlichen Dogmen das Reich der übervernünftigen Wahrheiten ausmachte), so entzog Duns Scotus sowohl die Existenz Gottes als auch die Unsterblichkeit der Seele dem Bereiche des Wissens und gab beides dem Glauben anheim. Noch schärfer als er behauptete Wilhelm von Occam (in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts) die absolute Unerkennbarkeit überirdischer Dinge und lehrte, auch in diesem Punkte Kant antezipierend, daß die anschauliche durch die Sinne vermittelte Erkenntnis der abstrakten vorangehen müsse. Hiermit war die äußerste Konsequenz des »Nominalismus« erreicht und die Existenz von Allgemeinbegriffen oder Universalien, die abgesondert von den Dingen bestehen sollten – der Fluch des platonischen Erbes! – für unmöglich erklärt, dem Einzelding allein Wirklichkeit zugesprochen. Roscellinus, der Begründer dieser Lehre, hatte sich noch damit begnügt, die Existenz des Begriffes »Gottheit« zu leugnen, während er die einzelnen Personen Gottvater, Sohn und Geist als reale Einzeldinge unangetastet gelassen hatte.
So sehen wir, wie der Scholastizismus, über den man allgemein so gering denkt, den ganzen Weg des modernen Denkens schon einmal vorausgegangen ist: Vom »Realismus« des Thomas, dem die Allgemeinbegriffe noch unangezweifelt im Mittelpunkt aller Erkenntnis stehen, über die ersten und für unsere Anschauungen sehr bescheidenen Zweifel der Nominalisten (die aber ihren Urheber immerhin zum Ketzer gestempelt haben) bis zum Agnostizismus des Bacon, des Duns und des Occam.
Mit der neuen Position des entschiedenen Nominalismus war aber die Basis für die Erfahrungswissenschaften einerseits – die nun nicht mehr an Universalia gebunden sind – und für die Mystik andererseits bereitet: Aus dem starren Dogmatismus der Hochscholastik heraus führte der Weg zu den natürlichen Wahrheiten der Wissenschaft und der entgegengesetzte, den die Sehnsucht des Herzens wies. Denn die Einsicht, daß uns die Erkenntnis der überirdischen Dinge verschlossen ist, kann zwei Folgen haben: einmal die Abwendung von allem übernatürlichen und der Sieg der Erfahrung; dann aber das Bedürfnis, über alles Erkennbare hinaus in die Tiefen des Kosmos und der eigenen Seele zu steigen und da unmittelbar im Gefühl zu erfassen, was der Tagesverstand nicht sieht. –
Die Zeit war reif geworden und die Vollender kamen: Dante im Süden, Eckehart im Norden der Alpen. Über Dante will ich hier nur das eine sagen, daß er alle Eroberungen der neuen Kunst zusammengefaßt und in einem noch heute unvergleichlichen Werke verklärt hat. »Es hebet an das neue Leben« steht am Beginn seines Jugendwerkes in tiefer symbolischer Bedeutung; und als er die göttliche Komödie beendet hatte, war die Kunst Europas vollendet. Sein Geist ist der Geist der Gotik: Eine unüberschaubare Fülle ist von der Einheit der Form gebändigt und geläutert, aus breiter Grundlage steigt es, sich allmählich verjüngend, bis zur schwebenden göttlichen Himmelsrose. – Über Eckehart aber will ich mich ausführlicher verbreiten; die vergangenen Jahrhunderte haben ihn über seinen Schülern Tauler und Seuse und dem unbekannten Verfasser der Deutschen Theologie (zu der Luther eine Vorrede geschrieben hat) vergessen; erst heute beginnt sich langsam eine Ahnung von der einzigen Bedeutung dieses Mannes zu regen. Eckehart ist, um es gleich vorweg zu nehmen, das größte religiös-schöpferische Genie seit Jesus. Ich glaube, daß seine Schriften einmal gleichberechtigt neben dem Johannes-Evangelium stehen werden. Er hat zum erstenmal in Europa das Wesen der Religion mit vollkommener und nicht mehr zu überbietender Innerlichkeit erfaßt, vor seiner Erleuchtung fällt alles hin, was das religiös so beflissene späte Mittelalter hervorgebracht hat. Geringe Gottesknechte sind vor ihm Augustinus, Bernhard und selbst Franziskus, klein sind alle späteren Reformatoren vor dieser Seele. In jeder seiner Predigten stehen Worte wie diese – von einem Dominikaner des anhebenden 14. Jahrhunderts gesprochen –: »Gott muß ich werden und ich Gott.« – »So ganz soll die Seele als Ich zunichte werden, daß da nichts mehr bleibt als Gott, ja daß sie auch Gott noch überstrahlt wie die Sonne den Mond.« – »Darum ist die ganze Schrift geschrieben, darum hat Gott die ganze Welt geschaffen, damit Gott in der Seele geboren werde, und die Seele wiederum in Gott.« – »Das geringste Vermögen, das es in meiner Seele gibt, ist weiter als der weite Himmel.« – »Zum andern Male verstehen wir unter dem Gottesreich die Seele. Denn die Seele ist gleichbeschaffen mit der Gottheit.« – »Die Seele ist das All ... und das Reich Gottes.« – »Dermaßen ist Gott in der Seele, daß sein ganzes Gottsein auf ihr beruht.« – »Der Mensch soll frei sein und ein Herr aller seiner Werke, unzerstört und unbezwungen.«
Eckehart ist der erste Mensch, der zusammenhängend in deutscher Sprache gedacht hat – und der diese Sprache, die fürs Denken noch jungfräulich gewesen ist, dazu gebildet hat. Kein geringer Unterschied ist es ja, mit längst fertigen lateinischen Begriffen zu operieren, die sich unwillkürlich zum Gebrauch einstellen – wie den heutigen Philosophen ihre Schulausdrücke – oder selbst neue Begriffe aus der lebendigen Anschauung und der quellenden Sprache zu schmieden. Die lateinische Sprache hat seit jeher alle Geister stärker in der Fessel der Tradition gehalten als die noch unberührte und lebendige deutsche.
Aus dem religiösen Bewußtsein eines einzelnen war das Christentum hervorgegangen. Aber gleich von Anfang an ist es mißverstanden worden: man hat das Heil und die Erlösung der Welt an die Person dieses einen Menschen geknüpft, während er Vorbild für alle anderen hatte sein wollen. Der Ausdruck »Sohn Gottes« ist im Sinne des antiken Heroenkultes mythologisch genommen worden und hierzu mag wohl auch der jüdische Messiasglaube, die politisch-nationale Hoffnung des Volkes Israel beigetragen haben. Ein historisches Ereignis ist ins Metaphysische entrückt, im inneren Widerspruch mit sich selbst über die Zeit hinausgehoben worden. Der eine wahrhaft religiöse Mensch ist zum Mittelpunkt einer neuen Götterlehre gemacht und naiv angebetet worden. Obgleich es einen entgegengesetzten Anschein hat, ist doch das ganze erste Jahrtausend innerlich irreligiös, es hat den Mangel an eigenem metaphysischem Bewußtsein durch die Tradierung geschichtlicher Ereignisse ersetzt. Die ganze mittelalterliche (und ein guter Teil der protestantischen) Theologie hat daran gearbeitet, diese neue Lehre von der einmal geschehenen historischen Erlösung der Menschheit gedanklich zu fassen und dogmatisch festzulegen. Und so hatte sich das welthistorische Mißverständnis vollzogen (dem die Inder niemals verfallen sind), daß Religion, das zeitlos metaphysische Gut der Menschenseele, an einen historischen Bericht gebunden wurde, an eine Begebenheit, die sich einmal in Kleinasien zugetragen hat und uns mehr oder weniger zuverlässig, einige meinen sogar ganz verfälscht, überliefert worden ist. Dies ist die Ursünde des Christentums: daß ein historisches Faktum, an welchem das Wesen des religiösen Verhaltens durchleuchtend offenbar wurde und daher formuliert werden konnte, als einmal und für alle Male geschehenes Heilsereignis aufgefaßt worden ist, anstatt daß man an diesem einen vom göttlichen Bewußtsein erfüllten Menschen nur eine große, vielleicht sogar vollendete Inkarnation des ewig neuen Verhältnisses zwischen Seele und Gott erkannt hätte. Es hat sich das Merkwürdige begeben, daß nur die eine Seele, die des Urhebers, als göttlich verstanden, daß anstatt der Göttlichkeit des Menschen überhaupt die Göttlichkeit dieses einen Menschen gelehrt wurde. Jesus ist zu einem Gott geworden, der für Menschen gar nicht mehr als Vorbild gelten konnte, sondern von dem sie demütig ihre Erlösung erhoffen mußten. Vielleicht war es nicht möglich, daß der Sinn der neuen Lehre anders gedeutet wurde – denn zuerst müssen sich ja die Menschen der eigenen Seele bewußt werden, ehe sie ihre Göttlichkeit ahnen können.
Dieses völlige Mißverstehen und Veräußerlichen der Religion, das im ersten Jahrtausend Platz gegriffen hat und, wie es scheint, nicht mehr beseitigt werden kann, ist von Grund aus heidnisch, antik. Der Bericht einer ein für alle Male geschehenen Welterlösung durch einen Helden, die Historisierung des ewig-jungen und in der Seele täglich neu geborenen göttlichen Funkens entspricht durchaus den griechischen Berichten von Göttern und Halbgöttern, die vor ihrer symbolischen Umdeutung wörtlich und historisch genommen worden sind. Inwieweit die antiken Heroen und die orientalischen Mysterien direkt bei der Ausbildung der Christusgestalt mitgewirkt haben, geht uns hier nichts an; ich möchte nur den tiefen Gegensatz zwischen wirklicher Religion, die in der einzelnen Seele lebt, und historischer Tradition möglichst schroff betonen. Wenn Religion möglich sein soll, so muß sie für alle Menschen gleich möglich sein, für den, der zufälligerweise gewisse historische Mitteilungen empfangen hat ebensogut wie für jeden anderen.
Allen häretischen Bestrebungen, von denen gesprochen wurde, liegt eine Ahnung dieses Verhältnisses zugrunde. Aber es ist die unvergleichliche Tat Meister Eckeharts, wieder eine Brücke zwischen der eigenen Seele und der Gottheit geschlagen zu haben, das historisch Tradierte, das doch nicht mehr ganz zu tilgen war, zurückzustellen, und ließ sich's nicht anders machen, sogar als Irrtum zu deuten oder symbolisch in einem ganz neuen inneren Sinn zu verstehen. So sagt er z. B.: »Sankt Pauls Wort ist ein Wort nur des Paulus; daß er es im Zustand der Gnade gesprochen hätte, das ist nicht der Fall.« Und Seuse: »Wer nun Wunder will schauen, der sehe nicht an, was in alten Zeiten geschah! Er sehe das Traurige alles, das neu geschehen ist!« usf. Eckehart ist der erste Mensch, dem die Heiligen Schriften nicht mehr Quelle der Wahrheit sind, sondern nachträgliche Beweise für die unmittelbar erfahrene Wahrheit des Gotteserlebnisses. Und hiermit ist das Christentum in sein höchstes Stadium eingetreten. Die größte kulturelle Wendung, die sich jemals im Bewußtsein der europäischen Menschheit vollzogen hat, ist nun zu Ende geführt: Der Ursprung aller Wahrheit und alles Wertes ist fortan nicht mehr Lehre und Autorität, sondern die Seele des Menschen. Gott ist nicht in den Himmeln und nicht in der Geschichte, sondern er soll in der Seele lebendig werden, die Seele soll göttlich und schöpferisch sein, sie findet ihre Aufgabe: die Welt neu zu gestalten. Zwar hatte schon Augustinus gelehrt: » Non Christiani sed Christi sumus«, jeder von uns ist selber Christus – aber das war niemals verstanden und wahrscheinlich von Augustinus selbst nicht in diesem prinzipiellen Sinn gemeint worden. Erst jetzt ist das Grundbewußtsein des Christentums zum Siege gelangt: das Prinzip der Gottessohnschaft wird in den Mystikern lebendig; die Religion geht fürder von der Seele aus und endet bei Gott, sie bedarf keiner geschriebenen Dokumente mehr und bei den tiefsten Geistern auch keines Vorbildes. Die Ketzersekten hatten sich damit begnügt, die nachevangelische Tradition abzulehnen, um dafür desto entschiedener alle Religion auf das Wort Jesu zurückzuführen; sie waren so recht eigentlich reformatorisch gewesen; aber sie sind im Historischen ebenso befangen geblieben wie die römische Kirche und ihr Standpunkt ist noch heute der Standpunkt der protestantischen Bekenntnisse.
Es macht diese Religion gegenüber dem tradierten Christentum zu etwas völlig Neuem, daß sie dem historischen Jesus von Nazareth keine prinzipielle Bedeutung mehr zuerkennt; hätte er nie gelebt, so könnte sie nicht anders sein. Indem die Religion dieses äußerliche und zufällige Moment hinter sich läßt, hat sie den metaphysischen und rein seelischen Kern des Christentumes, das Grundgefühl von der Göttlichkeit der Seele und den Willen zur Ewigkeit, in den Mittelpunkt des religiösen Bewußtseins gestellt und kann so von aller historischen Kritik und von aller Skepsis nicht mehr berührt werden. In Eckehart ist das Bewußtsein von der Selbstherrlichkeit und dem ewigen Werte der Menschenseele tiefer als in jedem anderen. »Ich bin als Sohn derselbe wie mein himmlischer Vater, nicht ein anderer.« – »So ernst ist es den gerechten Menschen mit der Gerechtigkeit: wäre Gott nicht gerecht, so kümmerten sie sich durchaus nicht um Gott.« – Er lehrt, daß die Geburt Christi in der Seele stattfinde, daß der göttliche Funke fort und fort in der Seele neu entfacht werde – »Der Ewigkeit Eigenschaft ist, daß Dasein und Jungsein eines sind« – und daß der Mensch immer göttlicher werden müsse, immer freier von allem Unwesentlichen und Zufälligen, bis er nicht mehr von Gott verschieden sei. So ist es nichts als logisch, daß ein vollendeter Mensch, mystisch gesprochen, Gott werde; sein Wesen und sein Wille unterscheiden sich ja durch nichts mehr vom absoluten, allgemeinen, göttlichen Willen – die deutsche Mystik trifft hier mit dem Upanishad zusammen. In kantischer Sprache müßte man sagen, daß die Maxime eines solchen Menschen kosmisches Gesetz geworden ist, »Sünde« wäre Abkehr von Gott, der Wille, Gott fern zu bleiben.
Es ist der tiefe und der einzige Sinn der Religion, dem Menschen im Wirrsal des Lebens Ewigkeitsbewußtsein zu verleihen. Die Religion stellt unser historisch ablaufendes Leben unter den Aspekt der Ewigkeit und muß so aller Zeitlichkeit im Innersten fremd sein, von allem Wechsel unberührt bleiben. Nur der Augenblick eines Lebens ist religiös, der den Menschen aus sich heraus, aus einem abgesonderten und eingeengten, durch Zufälle bedingten Dasein ins Zeitlos-Kosmische zu heben vermag, der ihm die Gewißheit schenkt, daß die Ereignisse niemals als etwas Definitives und Letztes gelten können – der Augenblick, der die Kraft hat, loszulösen, zu erlösen. So ist es widerreligiös, ein Ereignis, das sich in der Zeit abgespielt hat, und sei es das größte auf Erden, als Angelpunkt metaphysischen Wertes für alle Menschen anzusehen, das Heil der Menschheit an ein im höheren Sinn zufälliges Geschehen zu binden, Ewigkeitsbewußtsein auf ein Wissen zu stellen; dies ist ein Sieg der Zeitlichkeit über die Ewigkeit, der Widerreligion über die Religion.
Es scheint mir die größte Tat dieser so reichen Zeit zu sein, daß seit den Tagen Jesu wieder unmittelbare Religion möglich geworden war. Eckehart hat die Göttlichkeit des Menschen wiedergefunden und für alle Zeit gerettet, das Bewußtsein der zeitlosen Ewigkeit ist vielleicht niemals so ausgesprochen worden wie in seinem Traktat »Von der Abgeschiedenheit«. Zweifellos ist ja auch bei anderen Menschen vor ihm das unmittelbare religiöse Bewußtsein da gewesen und sie haben es hin und wieder zaghaft ausgesprochen; aber die Autorität der Überlieferung war zu mächtig und über Kompromisse zwischen den historischen Ereignissen, auf denen die christliche Religion ruht, und dem wahrhaft religiösen Erlebnis der eigenen Seele ist man nicht hinausgekommen. Auch Eckehart hat sich bemüht, nicht gegen den Buchstaben zu fehlen, und besonders seine Schüler, auf die nun schon der Argwohn gelenkt war, haben im Ausdruck, vielleicht auch im Gedanken, manche Zugeständnisse gemacht. Einen Mittelweg zwischen der historischen und der religiösen Auffassung hatte schon Augustinus mit dem Satze: » Per Christum hominem ad Christum deum«, durch den Menschen Christus zum Gott Christus, eingeschlagen; und dieser Weg wurde z. B. von Seuse (in dem »Büchlein der ewigen Weisheit«) beschritten. Die ewige Weisheit spricht: »Willst du mich schauen in meiner ungewordenen Gottheit, so sollst du mich hier lernen erkennen und minnen in meiner gelittenen Menschheit. Denn das ist der schnellste Weg zur ewigen Seligkeit.« Auch der rohe Widerspruch wurde nicht selten gefühlt, der darin liegt, daß alle verloren sein mußten, die ohne eigene Schuld von der Welterlösung keine Kenntnis gewonnen hatten, also vor allem die früher Gestorbenen. Die Helden des Alten Testamentes ließ man noch einigermaßen dadurch gerettet sein, daß man sie als Stammväter oder Weissager Christi ansah; Heiden und Griechen samt Aristoteles aber waren selbst vor dem großen Dante verdammt. Dante hat sich am Schlusse seiner Komödie als wahrhaft genialer Mystiker erwiesen, da er die höchste Vision des Gottschauens zu gestalten vermochte, die je einem Menschen geworden ist. Aber seine Genialität wurde von der Kirchenlehre geleitet und in Schranken gehalten, seine religiöse Position ist noch die des frühen Mittelalters und des dogmatischen Katholizismus. Wie er als Dichter und Liebender eine neue Welt einleitet, so bedeutet er hier den Abschluß und die Vollendung des zum Tode verurteilten Weltbildes. Dante steht vor uns als der eherne Markstein der Zeiten – Eckehart aber ist Wertschöpfer für alle Zeit.
Die Gefühlsmystik ist damals sehr im Schwang gewesen und scheint stellenweise, besonders in Frauenklöstern, als eine Massenpsychose aufgetreten zu sein; auch Eckeharts Schüler Seuse gehört ihr zu. Für manchen ist die unklare Gefühlsschwärmerei eine Rettung vor dem starren Kirchenglauben gewesen; da ihre Zerflossenheit in jeder beliebigen Weise gedeutet werden konnte, hat sie wenig Anstoß erregt und ist sogar nicht ungern gesehen worden. Dieses Visions- und Verzückungswesen, das man so oft mit der wahren Mystik verwechselt, hat viel dazu beigetragen, die Mystik bei ernsten Menschen in Verruf zu bringen. Eckehart selbst aber hat diese Richtung nicht als die wahre Mystik anerkannt und spricht sich an mehreren Stellen direkt gegen sie aus, z. B. »Die dergleichen (schmelzende Gefühle, Verzückungen, Innigkeit und Jubilieren) häufig erleben, sind darum noch lange nicht die besten«. Erst wenn man nicht mehr so viele Gefühle und ekstatische Erlebnisse hat, kommt an den Tag, ob man wirklich Gottesliebe besitzt, »wofern sie auch ohne solchen Rückhalt Gott unentwegt Treue halten«. – »Immer wollen sie möglichst viel eigenen Gewinn und Genuß haben und schöne Gefühle fürs Herz: da sie sich doch alles entschlagen müßten in Gedanken und Begehr. Diese Leute sind nicht Nachfolger unseres Herrn Christus, welcher nie und nirgends auf schmelzende Gefühle aus war mit seinen Werken!«
Und ebenso wie Eckehart die mystische Schwärmerei in ihrer pathologischen Bedingtheit durchschaute, so lehnte er alles äußerliche Tun – soweit er sich überhaupt darum kümmerte – ab, das in der religiösen Praxis seiner Zeit die größte Rolle spielte, sowohl die kultlichen Handlungen als auch die Askese. Er rechnet die Askese, die »wider die menschliche Vernunft, wider die Gepflogenheit der Gnade und wider das Zeugnis des Heiligen Geistes ist«, zu den »Werken« und sagt: »Gott sieht nicht an, welches die Werke seien, sondern nur, welches die Liebe, die Andacht, das Gemüt in diesen Werken«. – »Gott hat des Menschen Heil nicht gebunden an eine sonderliche Weise.« – »Das geringste innere Werk ist höher und edler als das größte äußere.« – Mit diesem Schritt hat Eckehart eine sehr wichtige prinzipielle Stellung eingenommen, denn wie er von Gott sagt: »Gott ist kein Vernichter irgendwelchen Wertes, sondern ein Vollender, Gott ist nicht ein Zerstörer der Natur, sondern ihr Vollender« – so soll auch der Mensch nicht sich selbst zerstören, sondern vollenden. – »Solches kann der Mensch nicht lernen durch Weltflucht, indem er vor den Dingen flieht und sich in die Einsamkeit kehrt von der Außenwelt; sondern er muß eine innere Einsamkeit lernen.« – »Dem recht Gemuteten leuchtet Gott so unverhüllt im weltlichen wie im frömmsten Geschäft.«
Nur eine selbstverständliche Konsequenz dieser hier zum erstenmal auftretenden rein innerlichen Religiosität ist es, daß Eckehart die evangelische Armut tiefer faßt und die zur Schau getragene äußere Armut der Franziskaner gering achtet. Franz (und dreißig Jahre vor ihm Peter Valdez – auch er hatte sein Gut verschenkt und gebettelt –) hatte in seinem naiven Sinn die Nachfolge Jesu in völliger Besitzlosigkeit gesucht und war unerbittlich in seiner Feindschaft gegen irdisches Gut gewesen, dessen sich jeder Ordensbruder enthalten mußte. Er hat selbst niemals Geld angerührt und in seiner unmittelbaren Genialität in ihm eine Quelle des Bösen gesehen. Sein unendlicher Schatz ist die »heilige Armut« gewesen, Jacopone hat der »Königin Armut« einen feurigen Hymnus geweiht und selbst Thomas, der Vertreter dominikanischer Gelehrsamkeit, ist theoretisch für sie eingetreten. Übrigens ist das Prinzip der Armut an Gut und Geist schon im Urchristentum weit verbreitet gewesen, und da die aufgegebenen irdischen Güter der Kirche zufielen, so kam sie mit diesen Anschauungen nicht schlecht weg. Zur Verteidigung der Armut, die praktisch allzuoft mit Müßiggang und Bettelei zusammenfiel und daher gerade im Volke stark angefeindet wurde, hat z. B. Bonaventura (in seiner Schrift » de paupertate Christi«) darauf hingewiesen, daß auch Jesus niemals eine Arbeit verrichtet hatte. Die allgemein verbreitete Höherschätzung des beschaulichen Lebens vor dem tätigen kam diesem Hang sehr entgegen und die außerordentlich stark entwickelte Mildtätigkeit des ganzen Mittelalters machte seine Verwirklichung möglich. Nicht selten ist sogar die Arbeit als Strafe angesehen worden – was man ja wieder leicht auf die Vertreibung Adams aus dem Paradies stützen konnte – und den Mönchen für Vergehungen auferlegt worden. – Das natürliche Gefühl, daß die Armut etwas Trauriges sei, hat Guido Cavalcanti, der Freund Dantes, in einer starken Kanzone ausgesprochen, die von Beschimpfungen gegen die Königin der Franziskaner strotzt: »Alle Ehre in der Welt vernichtest du und bist mir verhaßter als der Tod! Der Tod raubt nur das Leben, nicht aber Ruhm und jede edle Tugend – du aber richtest den Höchsten und Besten ganz zugrunde! Krankheit, Gefängnis, Tod und Alter – gegen dich sind sie süß! Heuchler sind, die dich zu lieben behaupten!«
Gegenüber der recht äußerlichen franziskanischen Armut – die bei Franz und Jacopone ursprünglich und rein, bei anderen aber ein bloßes Laster ist – hat die deutsche Mystik eine unvergleichlich tiefere Auffassung begründet. Eckehart sagt: »Da nun der Mensch in diesem Leben nicht bestehen kann ohne Arbeit, diese vielmehr des Menschen Teil ist und von vielerlei Art, darum lerne der Mensch, seinen Gott zu haben mitten in den Dingen und ungehindert zu bleiben von Geschäft und Ort.« Und er spricht von denen, »die aus sich selber gänzlich ausgegangen sind und nirgends nach dem ihrigen trachten, handle es sich nun um große oder kleine Dinge; die nichts mehr suchen, weder unter sich, noch über sich, noch neben sich; die nicht mehr aus sind auf Gut oder Ehre, auf Gemach oder Lust, nicht auf Gottinnigkeit, nicht auf Heiligkeit, nicht auf Lohn und nicht auf das Himmelreich! Die sind ausgegangen aus all dem ihrigen.« Ferner eine Stelle aus dem (früher dem Tauler zugeschriebenen) Buch eines unbekannten Verfassers »Nachfolge des armen Lebens Christi«: »Armut ist eine Gleichheit Gottes, ein abgeschiedenes Wesen von allen Kreaturen; Armut haftet an nichts und nichts an ihr, ein armer Mensch haftet an nichts, was unter ihm ist, denn allein an dem, was über alle Dinge erhaben ist; und das ist auch der oberste Adel der Armut, daß sie allein anhaftet dem Allerobersten und das Niederste läßt gänzlich, sofern als möglich.« – »Die Seele, dieweil sie beladen ist mit zeitlichen und gebrestlichen Dingen, so ist sie nicht frei. Will sie aber edel sein und frei, so muß sie zeitlicher Dinge ledig sein.« – Und Pseudo-Tauler sagt sogar, man könne »einen Überfluß an zeitlichen Gütern haben und dennoch mit der innerlichen Armut begabt sein«. – Der Sinn dieser tieferen Auffassung der »Armut« ist klar: Wer sein Herz nicht an die Dinge hängt, der findet den Weg zu Gott, wer arm ist an Gelüsten, der wird reich in der Seele.
Hier will ich den Gegensatz zwischen der naiven Religiosität, als deren Vertreter uns Franz von Assisi gilt, und der Religion Eckeharts noch deutlicher hervortreten lassen. Franziskus lebte ganz in den nächsten, sichtbarsten Dingen, die Liebe zu aller Kreatur erfüllte ihn und bestimmte sein Leben. Auch im Mystiker ist die Liebe lebendig, aber es ist die über das einzelne hinausgehende Liebe zu dem ewigen Urgrund. Im letzten Sinn lehrte Eckehart entgegen dem überlieferten Christentum und in Übereinstimmung mit der indischen Weisheit, daß die Seele in der Gottheit vergehen, daß alles endlich und einzeln Seiende aufhören müsse. »Der höchste Grad der Freiheit ist: daß die Seele sich erhebe über ihr Selbst und mit allem, was sie ist, einfließe in den grundlosen Abgrund ihres Urbildes, in Gott selber.« Und auch der größte Franziskaner Jacopone hat in seiner ekstatischen Art so gefühlt. Die Seele ist
Verzückt ins Unermessene,
Zum Untergang bereit ...
Sie nimmt ihr Teil von allem
Durch Einung mit dem Einen,
Mit dem sie Eins muß scheinen,
Und sagt: Das All ist mein!
Die Riegel sind gefallen,
Vollbracht ist das Vereinen.
( Schlüter und Storck.)
Ja, selbst Bernhard hat sich von dieser mystischen Ketzerei nicht ganz fern gehalten. Im höchsten Grade der Vollkommenheit »befindet sich der Mensch in völligem Vergessen seines Selbst, und da er gänzlich aufhört, sich selbst anzugehören, geht er bald in Gott ein, so daß er ohne allen Zusammenhang mit Ungöttlichem Eins mit Gott wird«. Auch alles Mitleid muß in diesem Zustand hinschwinden, denn da gibt es nur noch Gerechtigkeit und Vollkommenheit.
Wir erkennen hier, was an allen Größten – an Goethe etwa oder an Bach oder an Kant – zu erkennen ist: daß höchste Persönlichkeit und höchste Gegenständlichkeit zusammenfallen, daß die große Persönlichkeit endlich nicht mehr zwischen sich und der Welt scheidet, daß sie alles Kleine, Eigenwillige, Subjektive ausgeschieden hat und ganz objektiv – unpersönlich – göttlich geworden ist. – Franziskus weiß von diesem Bewußtsein nichts. »Mich hat Gott erwählt, weil er keinen Niedrigeren finden konnte, weil er so Adel, Größe, Kraft, Schönheit und Weisheit der Welt zuschanden machen wollte.« Er ist der Jünger des irdischen Jesus, der freundlich tröstend über die Erde gegangen ist. Eckehart aber will »gleich werden der gestaltlosen Natur Gottes«. Von dem historischen Jesus hat er gesagt: »Wir wollen ihm nachfolgen, aber doch in allen Stücken nicht ... Er hat viele Werke getan, bei denen ihm an geistiger, nicht an buchstäblicher Nachfolge gelegen ist ... Immer müssen wir seinem eigentlichen Sinn folgen.« – »Als Christus Mensch ward, da nahm er nicht ein bestimmtes Menschenwesen, er nahm menschliche Natur an. Gehst du also aus allem heraus, so bleibt nur das, was Christus annahm, und so hast du Christus angelegt.« – Vor Eckehart ist die Religion Franzens der Glaube eines Kindes, das sich den lieben Gott als einen guten alten Mann denkt. Solch eine Religiosität muß nicht weniger innig und wahr sein, aber sie bedeutet ein früheres Stadium auf dem Wege der Menschheit. Wäre das Christentum, wie heute manchmal behauptet wird, die Jesusreligion, dann wären die großen Mystiker keine Christen; und doch ist erst in ihnen das Wort des Augustin »Nicht Christen, sondern Christusse sind wir« in Erfüllung gegangen. –
Die tiefste Art der europäischen Religiosität, die in Eckehart gelebt hat, die in der gotischen Baukunst ihren künstlerischen Ausdruck gefunden hat, ist erst viel später in der Musik zutage getreten: Bach hat, besonders in der Hohen Messe und im Magnifikat, dann aber auch in rein instrumentalen Werken das mystische Weltgefühl zur absoluten künstlerischen Vollendung geführt. Dieser deutsche Protestant hat über die Jesusliebe seiner Konfession – die in den Kirchenliedern und episch in den Passionen verklärt ist – die unbestimmtere und daher für den Schaffenden brauchbarere lateinische Messe aufgenommen und ins zeitlos Mystische gehoben. Die Religiosität, die sich hier ausspricht, steht so hoch über der Scheidung der Kulte, daß sie gar keine wirkliche Beziehung mehr zu einem historischen Bekenntnis hat – sie ist Gottesbewußtsein schlechthin. Über Bach siehe »Stufen der Genialität« zweiter Teil der »Grenzen der Seele«. –
Der Seelenzustand, den man Mystik zu nennen pflegt, stach keinem ins Auge und konnte niemals volkstümlich werden. Er hat auch keine bedeutende Wirkung in die Welt hinein geübt. Wohl gehen von Eckehart einige große Männer aus – Tauler vor allem, dann Seuse, Merswin und der unbekannte Verfasser der deutschen Theologie – die das Empfangene – nicht immer rein – weitergegeben und in jeder Zeit einzelne Geister bewegt haben: aber die eigentliche Wirkung auf Welt und Geschichte ist den Reformatoren vorbehalten. Der Reformator ist innerlich dem Volke verwandt, Formeln und Gebräuche, die dem Mystiker gleichgültig sind und seine Seele niemals erreichen, quälen ihn; er fühlt sich durch sie im Glauben gehemmt und macht sich auf, sie zu vernichten. Er scheint der wahrhaft freie Geist, ist aber heimlich von allem abhängig, das er bekämpft. Er leidet unter dem Unzulänglichen, seine Tat ist die endgültige Reaktion gegen die Umwelt, das Heil liegt ihm in der Verbesserung des Bestehenden, und erst wenn das als richtig Erkannte hergestellt ist, hat er für sich selbst die Möglichkeit religiösen Friedens erlangt. – Der Mystiker ist unter allen kulturellen Verhältnissen gleich möglich. Er ist gar nicht an Äußeres gebunden und geht im eigenen Leben auf. Er findet einmals eine Hemmung in weltlichen Dingen, denn sein ganzes Bewußtsein ist auf das eine Verhältnis gestellt, vor dem alles andere hinschwindet: auf das Verhältnis der Seele zu Gott. Der Reformator aber ist nur unter bestimmten Verhältnissen denkbar. Auch er geht von einem inneren religiösen Bewußtsein aus, aber er hat es schnell mit sich ins reine gebracht und wendet nun alle seine Kräfte der Welt zu. Der Mystiker kennt nicht einmal den Unterschied zwischen seinem eigenen Gottesbewußtsein und der überlieferten Religion, er meint noch lange »rechtgläubig« zu sein, wenn er längst auf neuem Boden steht; hat er doch der überlieferten Lehre alles entnommen, was ihn nähren konnte, was er neu zu beseelen vermochte. Das übrige bleibt ihm tot und fremd. (So sagt Jakob Böhme einmal, wie er mit dem Alten Testamente nicht zurecht kommt: Hier liegt dem Mose ein Schleier vor den Augen; vgl. auch den früher zitierten Ausspruch Eckeharts über Paulus.) Wenn der Mystiker verketzert wird, empfindet er dies als unbegreifliches Mißverständnis.
So schöpfen Mystiker und Reformator aus demselben Brunnen des unmittelbaren religiösen Bewußtseins. Aber der Grund dieses Brunnens ist unendlich tief beim Mystiker, näher der Oberfläche beim Reformator. Der wendet sich dann, seiner Sache gewiß, in die Welt, um zu bekehren und zu reformieren. Er hat etwas von einem Volksredner und Agitator, versteht alles Soziale, wirkt durch Wort und Tat und kann sich selbst seiner Überzeugung zum Opfer bringen. Der Mystiker bleibt einsam und unerkannt. Auch Luther, der ja von der deutschen Mystik nicht unabhängig gewesen ist, hat in seinen besten Augenblicken den Glauben an die historische Erlösung bekämpft. »Ein erdichteter Glaube ist es, der da hört von Gott, von Christo, von allen Geheimnissen der Menschwerdung und Erlösung, faßt dasselbige, wie er's gehört, weiß auch aufs allerfeinste davon zu reden, ist aber gleichwohl nicht mehr denn eitler Wahn, wird auch nicht mehr daraus, denn ein unnütz Hörensagen, davon das Herz nicht mehr behält, denn einen Ton oder Hall vom Evangelio, plaudert viel davon und ist auch gleichwohl kein Glaube, denn er erneuert oder verwandelt das Herz nicht, macht keinen neuen Menschen, sondern läßt ihn, wie er ihn gefunden hat, in seiner alten Haut, das ist in seiner vorigen Meinung und Wandel. Solcher Glaube ist überaus ein schädlich böses Ding« ...
Es ist das tragische Schicksal aller Religion, Kirche werden zu müssen. Am Anfang steht immer eine große Persönlichkeit und ihre Apostel fühlen noch einen Abglanz des ursprünglichen religiösen Erlebnisses – folget mir nach! Aber schon die zweite Generation braucht Zeugnisse, Überlieferung und plumpe Wunder, Berichte werden verfaßt und heilig gehalten – der Blick in die Vergangenheit ist da und hat die Stelle der Religion eingenommen. Die meisten Menschen wissen nichts von unmittelbarem, religiösem Bewußtsein, ihre Rettung ist das Dogma, das allgemein Anerkannte, in dem die Religion langsam erstarrt ist. Wenn ein neuer religiöser Schöpfer kommt, so fühlt man zuerst das andere in ihm und er wird verfolgt; das ist kein böser Zufall, sondern Notwendigkeit. Arnold von Brescia ist verbrannt worden, Franziskus ist »schließlich doch nichts anderes als ein von der Kirche zu Gnaden angenommener Häretiker« (Thode) und Eckehart ist nur durch seinen Tod dem schon eingeleiteten Inquisitionsprozeß entgangen. –
Ich habe versucht, auf verschiedenen Gebieten des höheren geistigen und seelischen Lebens zu zeigen, wie mächtig das christliche Prinzip der individuellen Seele, der eigentliche Grundwert des europäischen Kulturkreises, in der Zeit der Kreuzzüge zum Durchbruch gekommen und überall der Keim der Neugestaltung geworden ist. Als letzte Vollendung alles Daseins, als endgültiger Zweck des Erdenlebens wird von den tiefsten Geistern die Vergottung des Menschen gelehrt, sie fordern, daß die Seele Ewigkeitswert erlange. Durch diese Position, die man ganz allgemein als die Erhebung des einzelnen ins Ideelle fassen kann, ist das Kulturideal Europas festgestellt und von allem Asiatentum, auch der höchsten indischen Philosophie, abgeschieden. Jeder Versuch, diese Grundposition und dieses Grundgefühl durch anderes zu ersetzen – es mag nun Pantheismus, Neu-Buddhismus oder Naturalismus heißen – wird für immer erfolglos bleiben.
Das Grundprinzip der Einzelseele ist aber seit den Tagen des ersten Christentums bis heute eine Quelle von Übertreibungen und Entstellungen gewesen, der besonders die germanische Rasse mit ihrem Hang zum Individualismus stark ausgesetzt gewesen ist. Neben der ewigen Errungenschaft der deutschen Mystik hat sie ihren Individualismus immer gern auf kleinliche Weise in unendlichen Parteiungen und Streitigkeiten betätigt. Aber schon vor dem Eintreten der Germanen in die Geschichte, vom dritten Jahrhundert an, wurde das Prinzip der Einzelseele äußerlich auf die Spitze getrieben. Ist es das Ideal des antiken Menschen gewesen, mit Leib und Seele der höheren Gemeinschaft des Staates zu dienen, so sorgte das beginnende Christentum nur ums Heil der eigenen Seele und dokumentierte dies oft ganz äußerlich, etwa durch das Einsiedlerleben in der Wüste. Kinder gingen von den Eltern, Ehegatten trennten sich, Würdenträger verließen ihr Amt, um in die Einsamkeit zu fliehen und ihre Seele für das Jenseits zu bereiten. Die ersten Klöster – Auswüchse des christlichen Individualismus und der Askese! – wurden gegründet, das antisoziale Extrem dieses Individualismus machte sich in so bedrohlichem Maße geltend, daß Kaiser Valens im Jahre 365 gezwungen war, einen Befehl gegen das Mönchsleben zu erlassen.
Dieser im Geiste des Christentums liegende weltfeindliche Zug ist erst durch die tiefere Auffassung der deutschen Mystik prinzipiell überwunden worden; denn für das primitive dualistische Denken des ersten Jahrtausends – das heute noch nicht als erledigt gelten kann – ist ja die Flucht vor der Welt die einzige Möglichkeit, der Sünde zu entgehen, dieser Weltbetrachtung ist der Mönch allein der eigentliche, der wahre Mensch. Der Gedanke, daß die Größe einer Persönlichkeit nicht darin liegt, sich gegen die Welt abzuschließen, sondern darin, sie aufzunehmen und innerlich zu bewältigen, war noch nicht gefaßt worden. Man kannte nur das plumpe Entweder-Oder, Ewigkeit oder Zeitlichkeit. Die Freude am Körper war in der Antike sozusagen übersättigt worden, der rohe Dualismus des ersten Jahrtausends setzte allen antiken Werten ein Nein! entgegen, der Leib mußte gehaßt werden, damit die Seele blühe.
Nicht unähnlich dem dumpfen unindividualisierten Stoffleben, das durch die hellenische Blüte abgelöst worden ist, tritt aus dem unpersönlich-chaotischen Geistesleben des ersten christlichen Jahrtausends der persönlich gewordene Geist, die Einzelseele hervor. Er hat in Dante und Eckehart seine Krönung gefunden: in dem größten Dichter der romanischen Rasse, in dem tiefsten Denker und dem erleuchtetsten religiösen Genius der Germanen. Ein für alle Male ist in diesen beiden gleichzeitig lebenden Männern (Dante starb 1321, Eckehart 1329) die sich ergänzende und gegenseitig befruchtende Art der Brudervölker offenbar geworden. In Dante erscheint die hohe künstlerische Kraft der romanischen Rasse zum erstenmal völlig zusammengefaßt, sie bemächtigt sich der ganzen sichtbaren Welt und weiht die überlieferten Mythen des Christentumes mit neuer Schönheit. Eckehart hat die andere Seite alles Seins, die gestaltlosen Abgründe der Seele, das Verwobensein der Seele in Gott erlebt und mit inbrünstiger Glut neu erschaffen. Er hat die Entwicklungen religiöser Innerlichkeit soweit vorausgenommen, daß wir ihm noch heute nicht nahe gekommen sind. In diesen beiden Männern hat sich Europa definitiv von Antike und Barbarei gelöst und ist seinen eigenen Weg gegangen. –
Die neue Welt war da. Bald kam die glückliche Erbin Renaissance, die alle reifen Früchte vom Baume der Kunst pflücken durfte, der einst so märchenhaft erblüht war. Sie wußte Gott nicht mehr in den Tiefen der Seele zu finden, alles wurde in die Welt hinein projiziert. Sie baute neue Kirchen, nicht aus innerem Drang, sondern allein um der künstlerischen Schönheit willen und als Herberge für die Bilder, die Tag für Tag erstanden. Das Grundprinzip der Persönlichkeit wird in der Renaissance veräußerlicht, Eitelkeit und Prahlsucht, die schon im Rittertum so stark zu merken sind, treiben nun ihre wilden Schossen. Nicht geringer als das unvergleichliche Genie und der erstaunliche Geist der Hochrenaissance – wenn auch weniger gern beachtet – ist ihr Hang, sich hervorzutun, zu scheinen, Prunk und Gelehrsamkeit zu entfalten. Das Wesen der Persönlichkeit wird nicht mehr in der Seele gesucht, sondern in sichtbarem Glanz. In Wirklichkeit hat die viel bewunderte Renaissance nur die einzelnen Zweige weitergebildet, die im Zeitalter der Kreuzzüge entsprungen sind. Damals ist der Baum der europäischen Kultur eingepflanzt worden, was nachfolgt, ist seine Verästelung und sein Wachstum. – Eine einzige Denkweise, aber eine der allerwichtigsten, die den gereiften Geist voraussetzt, hat in der Renaissance ihren Anfang genommen, die exakte Wissenschaft, und sie muß in historischer Perspektive als ihr größter Ruhm angesehen werden. So paradox es klingt: die »unpersönliche« Wissenschaft ist die Vollendung des europäischen Persönlichkeitssystems, sein größtes Mittel, sich der Welt und aller ihrer Inhalte geistig zu bemächtigen. Das Bewußtsein der Persönlichkeit mußte erst die Seelen ganz durchdrungen haben, ehe es auch draußen seine Funktion wiederfinden konnte: die organische und in sich selbst berechtigte Existenz. Während die Kunst das der Natur absieht – und auch der Menschheit – was uns selber schön, vollkommen und wertvoll gilt – man denke etwa an die Meeresbilder Böcklins – während also die Kunst das Gesetz des Menschen der Welt auferlegt, will die Wissenschaft jedes Ding und jedes Wesen nach dem ihm selbst einwohnenden Gesetze verstehen, sie will die Natur und die Menschheit, auch dort wo sie uns feindlich und fremd sind, nicht nach menschlichen Werten, sondern auf ihre eigene Art begreifen – und dies ist nur möglich, wo der Sonderart und der Individualität jeden Dinges Achtung entgegengebracht wird. Diese Methode hat sich langsam zum Werkzeug vollendet, mit dem die europäische Menschheit Herrin über die Erde geworden ist; sie beruht auf dem Grundgefühl für das Gestaltete und auf sich selbst Ruhende und vermag endlich das ganze System der Naturzusammenhänge als das Nicht-Ich dem Ich gegenüberzustellen – der endgültige Sieg des erkennenden Geistes über die Dinge. –