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Wenngleich das Verlangen des Menschen so natürlich ist, eine Gewähr seiner Tugenden im Weltall zu finden, so haben wir doch einsehen müssen, dass weder Himmel noch Erde sich im geringsten um unsere Moral kümmern, und dass der Gerechte sich überall betrogen sehen würde, wenn er nicht in sich selbst eine Genugthuung fände, die Worte nicht ausdrücken können, und einen Lohn, der so unfasslich ist, dass wir uns vergeblich bemüht haben, seine etwas greifbareren Freuden mit Namen zu nennen.
Und das ist alles, wird man sagen, alles, was sich von unserm heissen Bemühen, von einer stets gespannten Wachsamkeit und Selbstbeherrschung, vom Opfer der Instinkte und Freuden erwarten lässt, die als berechtigt und notwendig erscheinen und uns folglich glücklich machen könnten, wenn in uns nicht jener Durst nach Gerechtigkeit lebte, der ich weiss nicht woher kommt und wenn er auch zu unserer Natur gehören mag, doch allem Anschein nach die allgemeinen Gesetze der grossen Natur, der wir angehören, kreuzt? Ja, wenn man will, so stellt sie wenig dar, diese luftige Gerechtigkeit, die nur ein verworrenes Glücksgefühl erzeugt, das nicht einmal zu bewusst werden darf, ohne abstossend zu wirken und sich selbst zu zerstören. Aber wenn man so rechnet, und von dem Standpunkte aus, von dem dieses Urteil sich rechtfertigt, ist alles, was in unserem moralischen Wesen vorgeht, von wenig Belang. Wie wenig ist z. B. die Liebe, wenn die Minute des Genusses, die einzig wirklich ist und die Fortdauer der Gattung sichert, verrauscht ist? Und doch legt der Mensch, je höher seine Kultur steht, den Gedanken, Gefühlen, Stunden und Jahren, die dem Genuss vorausgehen, ihn begleiten oder ihm folgen und durch dieses Wenige versüsst und verschönt werden, immer mehr Wert zu, als dem Genuss selbst. Wie wenig ist auch die Schönheit eines schönen Gesichtes, einer schönen Gebärde, eines schönen Leibes, einer schönen Gestalt, einer harmonischen Stimme, eines edlen Wuchses, eines Sonnenaufganges über dem Meer und der Anblick der Sterne über dem Walde, der Blumen in einem Garten, eines Mondstrahles auf dem Wasser, die Schönheit eines schönen Verses, eines grossen Gedankens, eines heldenmütigen Opfers, welches das Geheimnis einer tiefen und zarten Seele bleibt? Wir bewundern sie einen Augenblick und empfinden ein Gefühl der Fülle, das uns andere Freuden nicht geben können, aber auch eine ungewisse Trübsal und Unruhe, und wenn wir zudem noch unglücklich sind, so empfinden wir nichts von dem, was die Menschen Glück zu nennen pflegen. Wir haben nichts davon, was sich wägen oder in Worte fassen liesse, nichts, was die anderen erkennen, noch worum sie uns beneiden würden, und doch: wer von uns würde, wenn ein Zauberer uns dieses Schönheitsgefühl nehmen könnte, ohne dass die geringste Spur davon übrig bliebe und die geringste Hoffnung vorhanden wäre, dass es uns wiedergegeben wird: wer von uns würde nicht lieber Reichtum, Ruhe, Gesundheit und viele Lebensjahre in Kauf geben, als dieses unsichtbare und fast namenlose Vermögen? Wie unfasslich ist nicht auch die Holdseligkeit einer tiefen Freundschaft, einer heiligen, wunderbaren oder rührenden Erinnerung und tausend anderer Gefühle, deren man sich nie klar bewusst wird und die keine Berge versetzen, keiner Wolke Lauf verändern und nicht einmal ein Sandkorn des Weges aus seiner Lage bringen können? Und doch gehört dies alles zum Besten und Glücklichsten in uns, es ist unser ganzes Ich, alles, was die, welche es nicht besitzen, denen, die es ihr eigen nennen, neiden sollten. Je mehr wir uns vom Tier entfernen, je näher wir dem kommen, was das beständigste Ideal unserer Gattung zu sein scheint, desto klarer wird es uns, dass dies alles wenig scheinen kann im Vergleich zu der Riesenhaftigkeit der Gesetze des Stoffes, aber wir sehen zugleich ein, dass dies Wenige unser einziger Besitz ist und dass sich alles Menschentum bis ans Ende der Zeiten immer mehr um seinen Lichtherd scharen wird, es komme, was da wolle.
Wir leben in einem Jahrhundert, das nur die Materie zu lieben scheint; aber indem es sie liebt, bändigt es sie, und bändigt sie leidenschaftlicher, als jedes andere. Man möchte sagen, es habe Eile, sie zu erkennen, zu durchdringen, zu unterwerfen und ganz und gar zu besitzen, sie ein- für allemal bis zur Sattheit zu geniessen, wie um die Zukunft für immer von dem hastigen Trachten nach einem Glück zu befreien, das man nur solange hoffen kann, in ihr zu finden, solange man nicht all ihre Hilfsquellen erschöpft und alle ihre Geheimnisse entdeckt hat. Das ist notwendig, wie es notwendig ist, durch die Fleischeslust hindurchzugehen, wenn man das wahre Wesen der Liebe in ihrer ganzen tiefen und unbefleckbaren Reinheit erfahren will. Wahrscheinlich wird eines Tages eine sehr ernste Reaktion gegen diese Begierde nach äusseren Genüssen eintreten. Nicht zwar, als ob der Mensch sich ihrer jemals ganz entschlagen wird; er thäte Unrecht, das zu wollen. Wir sind im ganzen genommen, doch nur Bruchstücke der belebten Materie, und man thut gut, den Ursprung unseres Wesens nicht zu vergessen. Aber das ist kein Grund, all unser Glück und Hoffen in den nächsten Umkreis dieses Ursprunges einzukerkern. Fast alle, denen wir im Leben begegnen, suchen mit einer Art unbedachter Hartnäckigkeit die Vorherrschaft der Materie über sich zu erhalten. Man gehe in eine Gesellschaft von Männern und Frauen, die gegen die niederdrückendsten Lebenssorgen gesichert sind, eine auserlesene Gesellschaft, wenn man will, und spreche hier die Worte Freude, Glück, Behagen, Seligkeit, Ideal aus. Wenn man annehmen will, ein Engel fange die Bilder, welche diese Worte in den Seelen hervorrufen, die sie vernommen, in einem Zauberspiegel oder himmlischen Schrein auf: was würde man da wohl in dem Spiegel oder Schrein zu sehen bekommen? Schöne verschlungene Leiber, Gold, Geschmeide, einen Palast, einen grossen Lustgarten, das Lebenselixir, wunderliche Schmuckstücke und Edelsteine, kurz alles, was den Träumen der Eitelkeit entspricht und – wie man zugeben muss – sich nicht ohne üppige Mahlzeiten, edle Weine, reichbesetzte Tafeln denken lässt. Ist die Menschheit immer noch so sehr in ihren Anfängen, dass sie sich nichts anderes denken kann? Ist die Stunde noch nicht gekommen, wo man in dem Spiegel einen starken und selbstlosen Verstand, ein beruhigtes Gewissen, ein gerechtes und liebendes Herz oder Blicke und eine Aufmerksamkeit finden kann, die alle Schönheiten der Welt, die der Abendstunden, der Städte, der Meere und Wälder, wie die eines Antlitzes, eines Lächelns, eines Wortes, einer That oder einer Seelenregung, zu erfassen und zu durchdringen verständen? Wann werden wir im Vordergrunde des Zauberspiegels statt schöner nackter Frauenleiber die grosse und tiefe Liebe zweier Wesen sehen, die da erfahren haben, dass die Freuden des Fleisches ihren unbefriedigenden und bitteren Nachgeschmack nur dann verlieren, wenn Gefühle und Gedanken, und, was noch besser, höher und geheimnisvoller ist, als Gedanken und Gefühle, sich jeden Tag mehr vereinen? Wann werden wir darin statt der künstlichen und krankhaften Ekstase, die durch zu hitzige und schwere Nahrung und durch Reizmittel herbeigeführt ist, welche im Grunde genommen nichts anderes sind, als die gefährlichsten Spione des Feindes, den wir doch gerade zu besiegen trachten – wann werden wir an deren Statt die ernste und feste Geklärtheit eines Geistes finden, der immer begeistert ist, weil er stets zu begreifen und zu lieben sucht? … Dies sind altbekannte Dinge, und es ist höchst unnütz, sie zu wiederholen. Und doch genügt es, nur zwei- oder dreimal im Kreise derer zu weilen, welche die edelste Blüte der Menschheit bilden und in Gedanken wie in Gefühlen gleich menschlich sind, um zu erkennen, wie sehr sie noch im Dunkeln tappen, wenn es gilt, die glücklichsten Momente des Daseins ausfindig zu machen, wie sehr das unbewusste Glück, das sie erwarten, immer noch dem eines Menschen ohne geistiges Leben gleicht, und wie schwer es ihnen fällt, die trennende Wolkenschicht zwischen den aufwärtsstrebenden und herabsinkenden Wesen zu durchdringen. Die Stunde ist noch nicht gekommen, wird man sagen, wo der Mensch klar zu erkennen vermag, was des Leibes ist und was dem Geiste gebührt. Aber wann wird sie kommen, wenn die, für die sie schon lange hätte schlagen müssen, sich in der Wahl ihres Glückes durch die dunklen Vorurteile der Masse so achtlos leiten lassen? Wenn sie Reichtum und Ruhm erwerben, wenn sie die Liebe finden, so befreien sie diese einfach von einigen gemeinen Wollüsten der Eitelkeit, einigen groben Excessen, aber weiter gehen sie in der Erwerbung eines geistigen und im eigentlicheren Sinne menschlichen Glückes nicht; sie machen sich ihren Fortschritt keineswegs zunutze, um den Kreis der am wenigsten gerechtfertigten Ansprüche der Materie einzuschränken. Sie erleiden in den Freuden des Daseins denselben geistigen Abbruch, den etwa ein aufgeklärter Zuschauer erleidet, wenn er sich in ein Theater verläuft, wo ein nicht zu den fünf oder sechs Meisterwerken der Weltlitteratur gehörendes Drama aufgeführt wird. Er weiss, dass alles, was seine Beifall klatschenden Nachbarn entzückt, aus mehr oder minder verderblichen Vorurteilen über Ehre, Ruhm, Liebe, Vaterland, Opfer, Gerechtigkeit, Religion und Freiheit besteht, oder aus den süsslichsten und marklosesten poetischen Gemeinplätzen. Nichtsdestoweniger wird er der allgemeinen Begeisterung unterliegen, und es bedarf jedesmal einer gewaltsamen Selbstbesinnung, einer verwunderten Frage an alle seine Gewissheiten, um sich zu überzeugen, dass die, welche den ältesten Irrtümern treu geblieben sind, nicht gegen seine Einzelvernunft recht haben.
Uebrigens erkennt man hierbei nicht ohne Verwunderung, dass die Beziehungen zwischen Mensch und Materie bisher in keinem Belange aufgeklärt und geregelt sind. Und doch sind sie gebieterisch und grundlegend, aber die Menschheit pendelt von ihrem Ursprung an zwischen dem gefährlichen Vertrauen und dem systematischsten Misstrauen, von der Anbetung zum Grauen, von der Askese und absoluten Entsagung zur entgegengesetzten Übertreibung. Es handelt sich nicht darum, wieder einmal die zwecklose und vergebliche Entsagung zu predigen und zu üben. Sie ist oft ebenso verderblich, wie die gewohnheitsmässige Unmässigkeit. Wir haben ein Anrecht auf alles, was die völlige Entwickelung unseres Körpers begünstigen und erhalten kann, aber es wäre nötig, möglichst genau festzustellen, welche Grenzen dieses Recht hat, denn alles, was darüber hinausgeht, schadet der Entfaltung des anderen Teiles unseres Wesens, wie die Blumen von den Blättern entweder erstickt oder genährt werden. Nun aber beschäftigt sich die Menschheit schon so lange mit den flüchtigsten und zartesten Düften und Farben ihrer Blume und überlässt die unbewussten Kräfte, welche die bald nahrhaften, sorgsamen und schützenden, oder auch blind selbstsüchtigen, überwuchernden und verderblichen Blätter bilden, nur zu oft dem guten oder bösen Willen des Temperamentes, der Stunde oder des Zufalls. Vielleicht ist dies bisher ungestraft geschehen, denn das Ideal der Menschheit hat, nachdem es anfänglich ausschliesslich auf den Körper gerichtet war, lange zwischen Körper und Geist geschwankt. Aber nun stellt es sich mit immer unerschütterlicherer Gewissheit auf den Geist ein. Wir lassen es uns nicht mehr einfallen, mit dem Löwen, Panther oder menschenähnlichen Affen an Kraft oder Geschicklichkeit zu wetteifern, noch an Schönheit mit den Blumen oder dem Sternenglanz über dem Meere. Die Nutzbarmachung aller unbewussten Kräfte durch den Geist, die fortschreitende Unterwerfung der Materie und die Lösung ihres Rätsels, das ist für den Augenblick das wahrhaftigste Ziel, die nächstliegende Aufgabe unserer Art. Früher, als man im Zweifel war, war jede Befriedigung, jeder Excess selbst, der keinen Kraftverlust oder organischen Schaden mit sich brachte, entschuldbar und selbst moralisch. Heute, wo die Aufgabe der Menschheit deutlicher hervortritt, besteht unsere Pflicht darin, alles, was der geistigen Hälfte unseres Wesens nicht direkt vorteilhaft ist, auszumerzen. Man wird nach und nach alles opfern müssen, was lediglich unserem Leibe ein unfruchtbares Vergnügen bereitet, das heisst, sich nicht mit grösserer und dauerhafterer Kraft in das Denken überträgt, alle jenen kleinen, sogenannten unschuldigen Freuden, die, so wenig schädlich sie an sich sein mögen, durch Gewohnheit und Beispiel doch das Vorurteil zu Gunsten der niedrigeren Genüsse aufrecht erhalten und den Platz einnehmen, welcher den Freuden des Geistes gebührt. Denn diese sind nicht wie die Freuden des Leibes, von denen die einen der Entwickelung des Geistes bald nützlich, bald schädlich sein können. In den elysischen Gefilden des Denkens entspricht jeder Befriedigung eine Verjüngung und Entwickelung, und nichts ist für den Geist gesünder, als die Trunkenheiten und Wollüste der Wissbegierde, des Begreifens und der Bewunderung.
Es ist unabweislich, dass unsere Moral sich eines Tages der wahrscheinlichen Aufgabe der Menschheit anpassen und die Mehrzahl der willkürlichen und oft lächerlichen Einschränkungen, aus denen sie besteht, mit diesen logischen und unerlässlichen Einschränkungen vertauschen wird. Denn die einzige Moral eines Wesens oder einer Gattung liegt in der Unterordnung seiner Lebensweise unter die Aufgabe der Gesamtheit, die einem jeden anvertraut scheint. So werden wir es erleben, dass sich die Achse einer gewissen Zahl von Sünden und grossen Verbrechen verschiebt, bis alle konventionellen Versündigungen gegen das Fleisch sich in wahrhafte Verbrechen gegen die Geschicke der Menschheit verwandelt haben, d. h. alle, welche gegen die Macht, die Unversehrtheit, die Freiheit, die Überlegenheit und die Musse des Geistes gerichtet sind.
Damit soll nicht gesagt sein, dass der Leib der unversöhnliche Feind ist, wie das Christentum es lehrt. Zunächst einmal soll er sich so gesund, so kräftig und schön wie möglich entwickeln. Aber er ist ein anspruchsvolles, launisches, kurzsichtiges und selbstsüchtiges Kind und umso gefährlicher, je stärker er ist. Er kennt nur einen Kultus: den des Augenblicks. Sein Denken ist das eines Kindes, und die glückselige, fragwürdige Selbstzufriedenheit des Hundes oder des Negers ist ungefähr alles, was er sich vorstellen und wünschen kann. Im übrigen geniesst er mit einer Unbefangenheit, als ob dies sein gutes Recht wäre, das Wohlbefinden, die Sicherheit, die Musse, die Annehmlichkeiten und Wonnen, welche ein thätiger Verstand ihm zu verschaffen weiss. Und wenn er sich selbst überlassen wäre, würde er sie so wild und thöricht gemessen, dass er den Verstand, dem er sein Glück verdankt, über kurz oder lang zerstören würde. Es giebt also notwendige Einschränkungen und Verzichtleistungen, die sich nicht allein demjenigen aufdrängen, der berechtigt ist, zu glauben oder zu hoffen, dass er an der Lösung des Rätsels, an der Erfüllung der menschlichen Geschicke, am Siege des Gedankens über den blinden Stoff thätlich mitarbeitet, sondern auch allen denen, die, in der grossen unbewussten Nachhut der Menschheit schreitend, dem phosphorescierenden Lichte des Verstandes durch die Finsternis der Elemente unseres Weltalls folgen. Die Menschheit ist ein einziges und in allen Stücken gleiches Wesen. Es mag seltsam erscheinen, dass ein Sinken des Gedankens bei der Masse, deren Denken doch fast kaum Denken ist, auf den Charakter, die Moralität, die Arbeitsgewohnheiten, das Pflichtgefühl, die Unabhängigkeit und Geisteskraft des Astronomen, des Chemikers, des Poeten oder Philosophen irgendwelchen Einfluss haben könnte. Und doch scheint es sehr wohl einen zu haben, und zwar einen entscheidenden. Kein Gedanke flammt auf den Gipfeln auf, ehe die unzähligen und einförmigen Ideen der Ebene einen gewissen Hochstand erreicht haben. Unten denkt man nicht stark, aber man denkt viel, und das Wenige, was man denkt, gewinnt einen sozusagen atmosphärischen Einfluss; und diese Atmosphäre ist für die, welche sich auf die Felszinken, an die Ränder der Abgründe und auf die Höhen der Gletscher wagen, verderblich oder heilsam, je nachdem sie mit hochherzigen Gedanken oder mit gemeinen Wünschen und Gewohnheiten geschwängert ist. Jede heroische That eines Volkes, wie z. B. die Reformation, die französische Revolution, alle Unabhängigkeits- und Freiheitskriege, Tyrannenmorde u. s. w. reinigen und befruchten sie für mehr als ein Jahrhundert. Aber es bedarf so grosser Dinge nicht, um die an der Erfüllung unserer Geschicke Arbeitenden zu unterstützen. Genug, wenn die Gewohnheiten ihrer Umgebung ein wenig edler, die Hoffnungen selbstloser, die Besorgnisse, Leidenschaften, Freuden und Liebschaften von einem Strahle der Anmut, Sorglosigkeit und unstofflichen Glut verklärt sind. Dann können sie freier atmen, dann fühlen sie sich unterstützt, dann haben sie nicht mehr gegen ihr instinktives Selbst zu kämpfen, dann heben sich ihre Kräfte und sammeln sich auf ein Ziel. Der Bauer, der Sonntags friedlich unter seinem Apfelbaume bleibt und liest, statt sich im Wirtshause zu betrinken, der Kleinbürger, der die Aufregungen und den Lärm des Rennplatzes einem edlen Schauspiele oder nur einem stillen Nachmittag opfert, der Arbeiter, der, statt die Strassen mit gemeinen Liedern und blödsinnigem Singsang anzufüllen, aufs Land hinausgeht oder von den Stadtwällen aus dem Sonnenuntergang zusieht, sie alle legen ein namenloses und unbewusstes, aber doch nicht unwichtiges Scheit in die grosse Flamme der Menschlichkeit.
Aber wieviel ist noch zu thun und zu lernen, bis die grosse Flamme sich klar und sicher erhebt! Wie ich eben schon sagte: die Menschheit steht in ihrem Verhältnis zur Materie immer noch im Stadium des Tastens und der ersten Versuche. Sie weiss nicht einmal genau, wie sie sich ernähren soll, ob mit Frucht- oder Fleischnahrung, noch wie viel Nahrung sie zu sich nehmen soll. Ihr Verstand trübt ihren Instinkt. Es ist noch gar nicht lange her, dass man ihr offenbart hat, wie sehr sie sich bisher in der Wahl ihrer Nahrungsmittel wahrscheinlich vergriffen hat, und wie nötig es wäre, wenn sie die stickstoffhaltigen Nahrungsmittel um mehr als zwei Drittel verringerte und die Kohlenhydrate bedeutend vermehrte, dass einige Gemüse, einige Früchte, einige Mehle, etwas Milch, kurz alles bisherige Zubrot zu ihren Hauptspeisen, die ihre vornehmlichste Sorge und das Ziel ihrer Mühe und Arbeit bilden – und sie erschöpft sich sogar darin, sie in verderblichem Überfluss zu erwerben, – hinreichend ist, um die Glut des schönsten und mächtigsten Lebens zu nähren. Es kann nicht meine Absicht sein, auf die Frage des Vegetarismus hier tiefer einzugehen, noch den Einwendungen, die man dagegen machen kann, zu begegnen, aber das muss gesagt werden, dass nicht einer dieser Einwände der redlichen und aufmerksamen Prüfung Stand hält, und ich für mein Teil kann nur versichern, dass ich bei allen, die sich dieser Lebensregel unterworfen haben, die Kräfte zunehmen, die Gesundheit wiederkehren oder sich befestigen und den Geist reiner und leichter werden sah, gleich als ob er aus jahrhundertelanger ekelhafter und kläglicher Gefangenschaft endlich frei würde. Aber meine Darstellung soll nicht mit einem Aufsatz über die Ernährung schliessen, wenngleich dies ganz natürlich wäre. Alle unsere Gerechtigkeit und Moral, all unser Denken und Fühlen gehen im ganzen genommen auf zwei oder drei Grundbedürfnisse zurück, unter denen das Ernährungsbedürfnis die erste Stelle einnimmt. Die geringste Veränderung eines dieser Bedürfnisse würde zu bedeutenden Verschiebungen in unserem moralischen Leben führen. Wenn die Gewissheit, dass der Mensch auch ohne Tierfleisch leben kann, eines Tages allgemein würde, so würde das nicht nur eine grosse wirtschaftliche Umwälzung zur Folge haben, denn ein Rind braucht hundert Pfund Futter, um ein Pfund Fleisch zu liefern, sondern auch eine grosse moralische Verbesserung, die wahrscheinlich ebenso von Belang und gewiss aufrichtiger und dauernder sein wird, als wenn der Erlöser noch einmal auf Erden erschiene, um die Irrtümer und Vergesslichkeiten seines ersten Erdenwallens abzustellen. In der That lässt sich feststellen, dass ein Mensch, der die Fleischnahrung aufgiebt, auch fast notwendig dem Alkohol entsagt, und wer einmal dem Alkohol entsagt hat, der verzichtet eben dadurch auch auf die meisten gewaltsamen und groben Vergnügungen. Nun aber ist der Nimbus dieser Vergnügungen, das Vorurteil über sie und das leidenschaftliche Trachten nach ihnen das grösste Hindernis für eine harmonische Entwickelung der Menschheit. Sich davon lossagen, heisst, sich edle Musse, andere Wünsche und eine entschieden höher stehende Hoffnung auf Zerstreuungen schaffen, denn sie kann nie so niedrig sein, wie die aus dem Alkohol sich ergebende. Aber werden wir diese leichteren und reineren Stunden erleben? Das Verbrechen des Alkoholismus tötet nicht allein seine Getreuen und vergiftet die Hälfte der Rasse, es übt auch einen mittelbaren, tiefgreifenden Einfluss selbst auf die Gedanken derer aus, die es mit Schauder fliehen. Es erhält in der Masse, und infolge des unvermeidlichen Einflusses der Masse auf den Alltag der Ausnahmemenschen, auch in diesen einen Freudenbegriff aufrecht, der alles, was Ruhe, Friede, Geselligkeit, Frohsinn, Menschenlust heisst, trübt und erniedrigt, und gegenwärtig kann man geradezu sagen, macht es die Entstehung eines wahrhaftigeren, tieferen, einfacheren, friedlicheren, ernsteren, geistigeren und menschlicheren Ideals unmöglich. Es ist sonnenklar, dass dieses Ideal noch sehr undeutlich ist und noch sehr in der Luft schwebt; und die Gewissheit derer, die davon überzeugt sind, dass unsere Rasse sich bisher in der Wahl ihrer Nahrungsmittel vergriffen hat, wird, vorausgesetzt, dass alle Erfahrungen sie bestätigen, ganz wie jede andere Gewissheit eine ewige Zeit brauchen, um in die dumpfe Masse, der sie Licht bringen und aufhelfen soll, hinabzudringen. Doch wer weiss, vielleicht liegt hier der Ausweg, den die Natur sich offen hält, wenn der Kampf ums Dasein, der gegenwärtig der Kampf um das Fleisch und den Alkohol ist, diese doppelte Quelle aller Vergeudung und Ungerechtigkeit, die alle anderen speist, und das doppelte Symbol einer Notwendigkeit und eines Glückes von nicht menschlicher Herkunft, – eines Tages ganz unerträglich wird.
Wohin geht die Menschheit? Dieses Fragen nach Zweck und Ziel ist eine Art von Kleinstädterei und Schwäche unseres Geistes und hat mit der Realität des Weltalls anscheinend nichts gemein. Haben die Dinge ein Ziel? Warum sollten sie eines haben und was heisst überhaupt ein Ziel oder Zweck in einem unendlichen Getriebe?
Aber wenn es auch wahrscheinlich ist, dass wir keine andere Bestimmung haben, als eine kurze Spanne Zeit ein bescheidenes Plätzchen einzunehmen, das, wenn wir nicht wären, von Grillen oder Veilchen eingenommen würde, ohne dass die Schönheit des Welthaushaltes darum getrübt würde, ohne dass die Geschicke der Erde um eine Stunde hinausgeschoben oder verkürzt würden, wenn wir auch nur gehen, um zu gehen, ohne irgendwo hinzugehen, so brauchen wir unser Interesse doch nicht auf den unnützen Weg, den wir machen, zu beschränken. Wir können an vielen Dingen Anteil nehmen, und dies ist auch ganz vernunftgemäss und das Klügste und Höchste, was wir thun können. Wenn es der Ameise gegeben wäre, den Lauf der Sterne zu erforschen, ohne dass sie darum wähnte, ihn je im Geringsten beeinflussen zu können, und sie vergässe über diesen astronomischen Studien alle ihre Pflichten im Ameisenhaufen und die Sorge für die Zukunft, so würden wir ihr gewiss Unrecht geben. Sie würde für uns, die wir sie mit einer Sicherheit und Leichtigkeit überschauen und beurteilen, wie wir sie uns gegenüber unsern Göttern zuschreiben, keine gute, keine moralische Ameise sein, wenn sie sich so an das Weltall verlöre. Die Vernunft auf ihrem Gipfel wird unfruchtbar und lehrt uns nichts als Unbeweglichkeit, wenn sie, nach Erkenntnis der Kleinheit und Nichtigkeit unserer Leidenschaften und Hoffnungen, unseres ganzen Daseins und ihrer selbst, nicht wieder umkehrt und sich von neuem für diese Kleinigkeiten und diese ganze Nichtigkeit erwärmt, als wären sie das einzige, wozu sie auf dieser Welt taugt.
Wenn wir nicht wissen, wohin wir gehen, so sollen wir uns des Weges doch nicht minder freuen, und um ihn uns zu erleichtern und unsern Mut zu stählen, müssen wir versuchen, seinen nächsten Abschnitt zu erraten. Welcher Art wird er sein? Wir müssen augenscheinlich durch eine gefährliche Enge. Aber trotz den Schrecknissen dieses Engpasses sagen uns die sich erweiternden und ebnenden Wege, sagen uns die Bäume mit ihren volleren, blütengeschmückten Wipfeln, sagt uns das Schweigen der beruhigten und sich trennenden Wasser, dass wir uns der grössten Ebene nähern, welche die Menschheit von den gewundenen Pfaden herab, auf denen sie seit ihrem Ursprunge klimmt, bis heute begrüsst hat. Wird man sie »die erste Ebene der Musse« nennen? Wenn wir auch den Überraschungen der Zukunft Rechnung tragen und selbst über sie hinaus Sorgen und Schmerzen gewärtigen müssen, so erscheint es doch als so gut wie gewiss, dass die Masse der Menschheit Tagen entgegengeht, wo die Arbeit, Dank einer wenigen papierenen Gerechtigkeit, Dank den Maschinen, Dank der landwirtschaftlichen Chemie, Dank vielleicht der Medizin oder irgend einer eben auftauchenden Wissenschaft, weniger hart, weniger ununterbrochen, grob, tyrannisch und erbarmungslos sein wird. Wozu wird sie diese Musse benutzen? Wer weiss, ob ihr Schicksal nicht davon abhängt? Vielleicht wird es eine der ersten Pflichten ihrer Berater sein, sie von Stund an daran zu gewöhnen, diese Musse in einer weniger niedrigen und verhängnisvollen Weise zu geniessen. Im Ganzen genommen bestimmt die mehr oder minder würdige, redliche, besonnene, dankbare und hochsinnige Art, wie ein Volk oder Individuum seine Feierstunden geniesst, seinen moralischen Wert eben so sehr, wie Krieg oder Arbeit, und erschöpft oder stärkt, erniedrigt oder adelt es. Heutzutage liefern drei müssige Tage in einer unserer grossen Städte den Hospitälern mehr Zuwachs an gefährlich erkrankten Opfern, als drei Wochen oder drei Monate Arbeit.
Dies alles führt uns auf das Glück zurück, welches das eigentlich menschliche Glück sein sollte und in der Flucht der Zeiten vielleicht auch sein wird. Es ist wahrscheinlich, dass wir bei der Schöpfung dieser Welt, wenn wir daran teilgenommen hätten, dem Unstofflichen und eigentlich Menschlichen im Menschen eine merklichere und wirksamere Kraft verliehen hätten. Ein Liebesgedanke, ein Geistesblitz, ein Wort der Gerechtigkeit, ein Akt des Mitleides, ein einfaches Verlangen nach Aufopferung oder Vergebung, eine Regung des Mitgefühls, ein Aufschwung unseres Wesens zur Güte, Schönheit oder Wahrheit hätten, wenn sie in den Augen des Weltalls das wären, was sie in den Augen des Menschen, der sie kennt, wirklich sind, wunderbare Blumen, ein ungewöhnliches Licht, eine unbegreifliche Harmonie hervorbringen, die Nacht verscheuchen, Lenz und Sonne herbeirufen, dem Elend Einhalt thun, Krankheit, Schmerz und Sturm fernhalten, den Geist befreien, die Gefühle verewigen, die Jugend verlängern, den Frohsinn erwecken, das Leben unsterblich machen können. Es hätte sein können, dass sie unbezwinglich wären, dass sie sichtbar belohnt würden, wie die Arbeit des Schaffenden, die Emsigkeit der Biene, der Gesang der Nachtigall. Aber wir wissen jetzt, dass die moralische Welt uns allein gehört, dass sie in uns eingeschlossen ist und sozusagen keinerlei Verbindung mit der Materie hat, dass ihr Einfluss auf sie vielmehr Zufall und Ausnahme ist. Sie ist darum nicht minder wirklich und unendlich, und wenn die Worte nicht so von ihr zeugen, wie sie sollen, so kommt dies daher, dass die Worte selbst doch schliesslich nur kleine Bruchteile der Materie sind, die in eine Sphäre hinaufdringen wollen, wo die Materie nicht mehr herrscht. Darum üben sie am Gedanken auch stets mehr oder weniger Verrat durch die Bilder, die sie hervorrufen. Um die zarteste geistige Wollust und edelste Trunkenheit, die vollkommenste und unerschütterlichste Liebe auszudrücken, müssen sie auf die brutalste Wollust und Trunkenheit, auf Besitz und Verlangen im gröbsten Sinne Bezug nehmen, so dass sie nicht nur alles beste, was die menschliche Seele errungen hat, dergestalt zu Dingen herabdrücken, die noch tief in der primitiven Natur stecken, sondern sie zwingen uns auch wider Willen zu dem Glauben, dass der mit ihnen verglichene Gegenstand minder wirklich, tief und dauerhaft ist, als der, mit dem er verglichen wird. Darin liegt die Schwäche und Ungerechtigkeit, die auf allem ruht, wodurch man die Geheimnisse der Menschenbrust auszudrücken trachtet. Umsomehr thäten wir unrecht, wenn wir den Ereignissen dieser inneren Welt, welche durch die Worte Abbruch erleiden, nur eine zerstreute Aufmerksamkeit entgegenbrächten, denn sie sind die einzigen rein und wahrhaft menschlichen Ereignisse, die wir bis auf diesen Tag zu entdecken vermocht haben.
Halten wir sie nicht für unnütz, wenn sie auch wie der Thau von einer blassen Morgenblume in den ungeheuren Strom der materiellen Kräfte verrinnen. Wir leben in einer Welt, die, so grenzenlos sie ist, doch ebenso hermetisch verschlossen ist, wie eine stählerne Kugel. Nichts kann hinausfallen, da es ja kein Draussen giebt, und es ist klar, dass kein Atom in ihr verloren geht. Selbst wenn unsere Gattung völlig verschwindet, so bleibt der Zustand, zu dem sie gewisse Teile der Materie erhoben hat, trotz aller späteren Wandlungen doch als unzerstörbares Prinzip und unsterbliche Ursache bestehen. Die Riesenvegetationen der Primärzeit, die chaotischen und kaum lebensfähigen Ungetüme der Sekundärschichten, die Plesiosauren, Ichthyosauren, Pterodactylen u. s. w., konnten sich gleichfalls für eitle und vergängliche Versuche, für lächerliche Entwürfe einer noch kindlichen Natur halten, die auf einem besser geordneten Erdball keine Spur zurücklassen würden, und doch hat sich nichts von dem, was sie gethan haben, im Raume verloren. Sie haben die Luft gereinigt, die erstickende Glut des Sauerstoffes gedämpft, das Leben für ihre Nachkommen harmonischer gestaltet. Wir verdanken es den Farnkrautwäldern der Vorzeit in ihrer unbegreiflichen Wildnis, dass unsere Lungen in der Atmosphäre jetzt die ihnen frommende Nahrung finden. Wir verdanken es der furchtbaren Bevölkerung von fliegenden oder schwimmenden Reptilen, dass wir heute unsere Nerven und unser Hirn haben. Sie haben dem Gebot ihres Lebens gehorcht. Sie haben gethan, was sie thun mussten. Sie haben die Materie so umgeformt, wie es ihnen vorgeschrieben war. Und wir, die wir Teile derselben Materie auf die ausserordentliche, leuchtende Stufe erheben, die das menschliche Denken einnimmt, legen augenscheinlich für die Zukunft etwas Anderes fest, was nicht mehr vergehen wird.