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Am anderen Morgen begab sich Cara schon früh, als Leon noch schlief, zu dem Droschkenbesitzer Rouspineau in der Rue de Suresne. Derselbe war gerade damit beschäftigt, einen Wagen aus der Remise zu ziehen, als er seine Clientin erblickte. Er winkte einem seiner Knechte und begab sich mit Cara in sein Büreau, wo sie sofort die Unterhaltung in einem sehr ernsten Tone eröffnete.
»Rouspineau,« sagte sie, indem sie schnell allen seinen Höflichkeiten ein Ende machte, »es sind nun bald 15 Jahre, daß wir uns kennen, und ich kann wohl sagen, daß Sie durch mich ein schönes Stück Geld verdient haben.«
»Das ist wahr, das ist wahr, und ich werde es auch niemals vergessen.«
»Ob Sie es vergessen oder nicht, thut nichts zur Sache, wenn Sie sich nicht verpflichten, mir in der That dankbar zu sein.«
»Oh, Cara, ich springe ja für Sie ins Feuer, wenn Sie wollen.«
»Hören Sie mir zu. Als ich vor einiger Zeit zu Ihnen kam, um Sie zu bitten, daß Sie Herrn Leon Haupois nicht so dringlich mit Ihren Forderungen verfolgen sollten, haben Sie mir gesagt, daß Sie nahe vor dem Bankerott ständen und haben so jämmerlich dabei geklagt, daß ich es fast geglaubt habe. Sie haben sich über mich lustig gemacht, Rouspineau. Es ist ein anderer Grund, weshalb Sie Herrn Haupois so quälen.«
»Wie kann man das nur sagen!«
»Wir wissen alles. Versuchen Sie doch nicht, uns noch einmal zu täuschen, sonst könnte es Ihnen theuer zu stehen kommen.«
Das von Cara gewöhnlich angewendete Mittel, wenn sie sich mit einem ihrer Geliebten erzürnt hatte, bestand stets in der Redensart: »Ich weiß alles.« Bei dem bäuerlichen Rouspineau machte diese mit Aplomp vorgetragene Behauptung noch größeren Eindruck als bei ungetreuen Liebhabern. Der Effect blieb auch diesmal nicht aus, Rouspineau wurde unruhig, er vertheidigte sich und wußte nicht, was er sagen sollte. Er sei so unschuldig wie ein neugeborenes Kind; wenn er von Herrn Leon Haupois sein Geld fordere, so thue er es nur, weil er desselben bedürftig sei, und sei er gerne bereit, Cara seine Bücher zu zeigen; aber Cara hielt an ihrer Behauptung fest, bis Rouspineau nach Ablauf einer Stunde endlich seine Verteidigung aufgab und Cara's Behauptung bestätigte. Er spielte nun den Sentimentalen; das Herz bräche ihm fast, wenn er sein Geld fordere, Herr Haupois sei ein so guter und braver junger Mann, aber Madame Haupois, welche eine gute Geschäftsfrau sei, hätte ihm nur dann die Bezahlung der Schulden versprochen, wenn er Herrn Leon tüchtig belästigte.
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« fragte Cara.
»Weil Madame Haupois das Geld nicht bezahlen wird, wenn ich aus der Schule schwatze. Ich habe noch zwei Forderungen.«
»Aha! Nun läßt sich mit Ihnen reden, denke ich. Wollen Sie die Güte haben, alles, was sie erzählt haben, zu Papier zu bringen?«
»Niemals, niemals.«
»Hören Sie mich an und treiben Sie keine Possen! Wie hoch beläuft sich der Rest der Summe, den Sie noch zu fordern haben?«
»Zwanzigtausend Franken.«
»Das ist allerdings eine ziemlich große Summe, selbst für solche Leute, die keine arme Teufel sind; aber vergessen Sie nicht, mein lieber Rouspineau, daß es immer viel angenehmer ist, diese Summe zu bezahlen, als auf einige Jahre ins Zuchthaus wandern und noch dazu mindestens 10 000 Franken Strafe zahlen zu müssen. Ich will Ihnen dieses Schicksal nicht wünschen, fordere Sie aber höflichst auf, daran zu denken, wie es Ihren Collegen Siccard, Ledanois, Adam und anderen ergangen ist. Ich könnte Sie bei Gelegenheit in dieselbe angenehme Lage versetzen.«
»Das werden Sie nicht thun!« rief Rouspineau erschreckt aus.
»Gewiß nicht, wenn Sie mir den gewünschten Revers ausstellen, welcher auf mein Ehrenwort niemals Frau Haupois zu Gesicht kommen soll. Im Gegentheil, ich verpflichte mich, Ihnen die zwanzigtausend Franken zu bezahlen, im Falle Madame Haupois die Zahlung verweigern sollte.«
»Das hätten Sie mir gleich Anfangs sagen sollen. Dictiren Sie mir, was ich schreiben soll!«
Cara dictirte und Rouspineau schrieb:
»Ich Endesunterzeichneter bekenne: 1. Daß ich auf Befehl der Frau Haupois-Daguillon deren Sohn Leon Haupois in dringlicher Weise mit meinen Forderungen und Mahnungen verfolge; 2. daß die von Herrn Leon Haupois unterzeichneten Schuldscheine bereits von der Firma Haupois-Daguillon bezahlt und nur zum Scheine protestirt worden sind.
Rouspineau.«
Cara gab nun ihrerseits schriftlich die Versicherung, daß sie die restirenden zwanzigtausend Franken bezahlen werde, falls Frau Haupois die Zahlung verweigere, und verließ dann Rouspineau, welcher sich freute, bei diesem Geschäfte mit so billigem Kaufe fortgekommen zu sein. Cara hätte ihn noch viel schlimmer quälen können. »Sie hat Zähne und Schnabel, diese kleine Hexe,« brummte der Fuhrwerksbesitzer vor sich hin.
Cara begab sich nicht sogleich nach Hause, sondern suchte erst ihren Berather und Duzfreund Riolle auf. Dieser empfing sie mit seinem gewöhnlichen versteckten Lächeln.
»Das nenne ich eine Ueberraschung, Cara. Man steht dich ja fast gar nicht mehr, du vernachlässigst in abscheulicher Weise deine Freunde und empfängst sie nicht einmal mehr.«
»Ich liebe.«
»Wohl nicht zum ersten Male, denke ich. Hindert dich denn diese ›Liebe‹ daran, deine alten Freunde zu besuchen?«
»Ja. Diesmal sind die Verhältnisse ganz besonders merkwürdig.«
»Das merke ich. Glaubst du denn, daß du jetzt zum ersten Male wirklich liebst?«
»Allerdings, wenigstens ist es das erste Mal, daß ich so liebe, wie ich liebe. Du kennst meinen Leon nicht. Er ist der beste Junge der Welt, ein gutes, einfaches, zärtliches, liebenswürdiges Kind von ganz anderer Beschaffenheit als die blasirten Jünglinge, welche ich früher liebte.«
»Dann gratulire ich. Aber da du ohne Zweifel nicht hergekommen bist, um mich mit deinen Herzensergüssen zu langweilen, so sprich, was mir die Ehre deines Besuches verschafft.«
»Ich möchte dich um einen Rath ersuchen.«
»Also fehlt diesem jungen, schönen, zärtlichen und gefühlvollen Leon doch etwas, was du haben möchtest.«
»Laß doch deine Spöttereien. Du bist niemals witzig gewesen und hast nur das Verdienst, einen klaren Kopf zu haben. Wie urtheilst du über eine Heirath zwischen zwei Franzosen, die sich im Auslande ohne Einwilligung und ohne Aufgebot zusammengeben lassen.«
»Eine solche Heirath ist keine. Vor den Gesetzen wird ein solcher Akt ungiltig sein.«
»Vor den Staatsgesetzen?«
»Es giebt in Frankreich nur eines, welches unter der Ueberschrift: ›Von der Ehe‹, den 5. Abschnitt des Code umfaßt.«
»Bist du langweilig mit deinem Code! Du weißt wohl, daß es außer diesem fünften, sechsten oder zwanzigsten Abschnitte des Code noch ein zweites, das kirchliche, Gesetz giebt. Was würde eine Heirath vor diesem Letzteren für Werth haben?«
»Warum wendest du dich an mich, das Kirchengesetz ist nicht meine Specialität. Du würdest besser thun, dich an den Pfarrer deines Kirchspiels zu wenden. Nun, werde nicht ungeduldig. Soviel ich weiß, kann die Kirche eine kirchlich geschlossene Ehe, bei welcher alle religiösen Vorschriften befolgt sind, nicht wieder auflösen.«
»Ein Beispiel! Ich verheirathe mich mit Leon im Auslande, ein katholischer Priester traut uns und wir beobachten alle Regeln, welche die Kirche vorschreibt. Bin ich dann, wenn ich nach Frankreich zurückkehre, verheirathet oder nicht?«
»Vor dem Gesetze, nein.«
»Aber vor der Kirche?«
»Ja, ohne Zweifel.«
»Das heißt also, weder ich noch mein Gatte dürfen sich zum zweiten Male verheirathen?«
»Auf dem Standesamte kannst du dich mit einem Zweiten trauen lassen, denn die kirchliche Ehe ist vor dem Gesetze ungiltig. Die Kirche verbietet es aber strenge, unter Androhung ganz abscheulicher Höllenstrafen, die ich nicht auf mich laden möchte.«
»Das wünschte ich allein zu wissen. Ich danke dir.«
»Nicht dafür, meine arme Cara. Eine solche Ehe bedeutet rein gar nichts.«
»Du sprichst wie ein einfacher Advocat, und was schlimmer ist, wie ein Freigeist, aber vergißt dabei, daß zahlreiche Familien die kirchliche Ehe weit höher als die staatliche schätzen. Jedenfalls genügt mir deine Antwort und deshalb danke ich dir.«
»Willst du mir kein anderes Honorar bezahlen?«
»Vielleicht, es kommt darauf an, was du forderst.«
»Nur eine Antwort.«
»O, sehr gerne.«
»Wann soll diese Heirath stattfinden?«
»Der Tag ist noch nicht festgesetzt, aber es wird bald geschehen. Lebe wohl, mein Freund, und nochmals besten Dank.«
»Cara, Cara, du wirst noch den Spruch wahr machen: Lugete Veneres Cupidinesque (Trauert, ihr Götter und Göttinnen der Liebe).«
»Was für ein Sinn liegt in dieser dunklen Rede?«
» De profundis.«
Nun erst eilte Cara nach Hause und fand Leon in einem Zustande großer Ungeduld und Aufregung vor.
»Endlich bist du wieder da!« rief er. »Woher kommst du, wo bist du gewesen?«
»So fragte ich dich gestern auch. Du fühlst nun also auch wohl, wie sehr man leidet, wenn man warten muß. Aber beruhige dich, ich wollte nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Du hast gut geschlafen, ich aber habe die ganze Nacht kein Auge zugethan.«
»Du bist doch nicht krank, Hortense?«
»Nein, nur unruhig. Ich habe stets über den Vorschlag deiner Mutter nachgedacht.«
»Warum hast du darüber nachgedacht? Versicherte ich dich nicht, daß ich niemals verreisen werde? sagte Leon.
»Das ist's ja grade, was mich quält,« erwiderte Cara.
»Du willst doch damit nicht sagen, daß es dein Wunsch ist, daß wir uns trennen?«
»Ich erinnere mich gestern gesagt zu haben: ›Nicht für eine Stunde,‹ aber dies war der Ausdruck des Egoismus und der Leidenschaft. Ich habe nur an mich gedacht, nur an meine Liebe, nur an mein Glück; ich dachte nicht an deine Ruhe und die Gesundheit deiner Mutter. Und doch dürfen wir grade die letzteren nicht vergessen. Die ganze Nacht habe ich über diesen Ausruf, der mir entschlüpft ist, nachgedacht, und mein Gewissen geprüft, indem ich zu mir selbst sagte, daß du mich bei ruhiger Ueberlegung seinethalben verdammen müßtest.«
»Wenn ich dich verdammte, müßte ich mich selbst auch verdammen.«
»Nicht doch. Ich denke darüber anders und entschloß mich, heute Morgen zu jemanden zu gehen, der mir rathen sollte.«
»Und zu wem bist du gegangen?«
»Zu jemandem, auf den du nicht eifersüchtig zu sein brauchst, denn er ist so gut und besser noch als du, zu dem lieben Gott. Ich komme von der Madeleinekirche, und bin dort so lange geblieben, bis er mir sagte, welchen Weg ich einschlagen sollte.«
»Von welchem Wege sprichst du?« sagte Leon, der von Natur und Erziehung nur wenig religiösen Sinn besaß.
»Von demjenigen, welchen wir mit Rücksicht auf den Vorschlag deiner Mutter gehen sollen. Du mußt dem Wunsche Folge leisten.«
»Wie, du willst, daß ich ohne dich abreise?« rief Leon erschreckt aus. »Und du selbst kannst mir einen solchen Rath geben?«
»O, weshalb siehst du mich so böse an?« Wende dich nicht ab, ich habe deine Gedanken deutlich gelesen. Du bist eifersüchtig.«
»Ich bin nur überrascht und im Zweifel, was ich von deinem Vorschlage denken soll.«
»Undankbarer. Ich denke nur an dich, nur an die Gesundheit deiner Mutter, ich opfere mich auf, und du bildest dir ein, daß ich dich auf Reisen schicken will, um frei zu sein. Wenn ich meine Freiheit haben wollte, wer könnte mich denn hindern, sie mir ohne Umstände zu nehmen? Sind wir verheirathet? Nein. Ich bin nur deine Geliebte und kann dich morgen, ja jetzt gleich, verlassen, wenn ich will. Wenn ich es nicht thue, so geschieht's, weil ich dich liebe, und nur deshalb. Weil ich dich liebe, führe ich mit dir ein bürgerliches und dürftiges Leben. Daraus ersiehst du, daß ich dich nur deinetwegen liebe und dennoch kannst du im selben Augenblicke an meiner Liebe zweifeln, Grausamer. Aber ich will nicht mit dir streiten und mich erzürnen. Deine Mutter ist krank und du kannst ihr die Gesundheit wiedergeben. Das beste Mittel ist, daß sie dich in Deutschland, England oder Amerika weiß, während ich in Paris bleibe. An ihre Ruhe müssen wir zuerst denken und später wird sie vielleicht erfahren, daß ich selbst dir gerathen habe, abzureisen und wird es mir danken. Aber auch für dich bringt diese Reise Vortheil. Du bist nicht krank, aber sehr gereizt und nervös, weil Rouspineau und Brazier dich fortwährend mahnen. Nach deiner Rückkehr werden deine Eltern diese Plagegeister verscheuchen und du kehrst dann zur gewohnten Ruhe zurück. Das ist jedoch nicht der einzige Grund. Anstatt sparsam zu sein, bist du in letzter Zeit verschwenderisch gewesen. Du hast gewettet in der Hoffnung, Geld zu gewinnen und bist mehrmals betrogen worden. Ich erinnere dich nur an deinen Freund Gamsin, welcher die Bank von Monte Carlo sprengen wollte und dem du zu diesem Zwecke eine größere Summe borgtest. Das Geld ist verloren und du bist deshalb augenblicklich in einer sehr unangenehmen finanziellen Verlegenheit. Wenn du abreist, werden deine Eltern dir die Kosten der Reise bezahlen müssen und werden sich dabei nicht knickerig zeigen, so daß du bei einiger Sparsamkeit ein gutes Stück Geld wieder mit zurück bringen kannst. Diese Gedanken kamen mir in der Kirche und ihretwegen bitte ich dich, den Vorschlag deiner Mutter anzunehmen. Jetzt thue, was du willst, ich wenigstens habe ein gutes ruhiges Gewissen, was auch kommen möge.«
Cara trug ihre Rede so vernünftig und klug vor, daß Leon von ihrer großen Herzensgüte gerührt wurde. Gewiß, es war seine Pflicht als Sohn, seiner Mutter eine kleine Genugthuung zu geben, und ebenso gewiß wurde sein Interesse dadurch nicht geschädigt, vielmehr war es der einzige richtige Weg, um sich den Verfolgungen seiner Gläubiger auf immer zu entziehen.
Leon willigte ein und begab sich nach dem Dejeuner zu seiner Mutter. Als diese erfuhr, daß Leon ihren Vorschlag bedingungslos annähme, weinte sie vor Freude. Es war das erste Mal, daß Leon in den Augen seiner Mutter Thränen sah, denn diese überließ sich nur höchst selten tiefergehenden Gemüthsbewegungen.
»Ich stelle nur eine kleine Bedingung, liebe Mama,« sagte Leon lächelnd. »Wenn du mir nicht nach vierzehn Tagen schreibst, daß du vollständig genesen bist, so kehre ich auf der Stelle wieder um, denn du weißt wohl, daß diese Reise für mich nichts anderes als eine Pilgerfahrt ist, um dir die Gesundheit wieder zu geben.«
Als Leon seine Mutter verlassen hatte, ging er langsamen Schrittes die Rue Royale hinauf und den Boulevard des Capucines hinunter. Vor einem der renommirtesten Modewaarenläden blieb er stehen und musterte einige graziöse Damenhüte, die im Schaufenster standen. Er gedachte Cara mit einem derselben ein kleines Abschiedsgeschenk zu machen, welches seinen augenblicklichen Geldverhältnissen entsprach. Schon war er im Begriff zur Thüre zu treten, als diese sich öffnete und ihm eine elegant gekleidete, junge Dame entgegentrat. Auf den ersten Blick blieb Leon bestürzt stehen und die junge Dame erröthete heftig bis unter die Haarspitzen der Stirne, dann aber faßte sie sich schnell und wollte mit einer leichten Verbeugung an dem jungen Manne vorübergehen.
»Madeleine!« rief Leon aus, trat schnell einige Schritte näher und streckte die Hand aus, als ob er die ihrige fassen wollte.
»Herr Haupois,« stotterte Madeleine, Sie irren sich, ich bin nicht …«
»In welchem Tone sprichst du, Madeleine?«
Madeleine richtete sich hoch auf und blickte Leon mit ihren großen blauen Augen voll ins Gesicht.
»Verzeihen Sie, daß ich die Erste war,« erwiderte sie mit langsamem Tone, »welche unser Verhältnis löste. Wir sind aber jetzt quitt. Wer von uns den andern zuerst vergessen hat, möge Gott entscheiden.«
Kaum hatte Madeleine die letzten Worte gesprochen, so trat, gefolgt von der Verkäuferin, ein junger blonder Mann aus dem Laden und maß Leon mit erstaunten Blicken von oben bis unten. Dann wandte er sich zu Madeleine, flüsterte ihr einige, wie es schien, ärgerliche Worte zu und reichte ihr den Arm, um sie in einen eleganten Tilbury zu heben, der einige Schritte weiter auf dem Fahrdamme wartete. Der Wagen rollte davon, ohne daß Madeleine den Blick noch einmal nach Leon umwandte. Dieser blieb eine ganze Zeitlang wie eine Statue stehen, dann setzte er sich langsam in Bewegung, aber die Art, wie er weiter ging, zeigte deutlich, daß er schweren und räthselhaften Gedanken nachhing.
Madeleine in Paris! Madeleine in eleganter Toilette am Arme eines jungen Mannes und an dessen Seite in einem Tilbury sitzend! Ist es möglich? Träumte er? Mit Gewalt suchte er einen schrecklichen Argwohn zu unterdrücken, der in seiner Seele auftauchte. Aber nein, es konnte ja nicht möglich sein! Der einzige Blick, den er in die großen blauen unschuldigen Augen seiner Cousine hatte thun dürfen, belehrte ihn, daß Madeleine nie und nimmer so tief gesunken sein konnte wie … wie … Unwillkürlich kam ihm der Name Cara auf die Lippen. Von dem Tone seiner eigenen Stimme erschreckt, blickte er auf und sah sich scheu um.
Armer Leon! Es war wie ein Blitz ungeahnter Erkenntnis und reiner Liebe in sein Herz gefahren, aber gleich darauf war dieser Blitz wieder verschwunden. Er erinnerte sich der stolzen Worte Madeleinens, die mehr als einen Vorwurf verriethen und er fühlte sich in seiner Würde verletzt.
»Also auch sie verdammt mich,« sagte er vor sich hin. »Auch sie urtheilt blind und will nichts mehr von dem armen Cousin wissen, welcher unter Curatel gestellt ist. Sie fährt dahin mit einem jungen Manne und …«
Wer weiß, welche Vorstellungen Leon noch gekommen wären, hätte ihn nicht in diesem Augenblicke ein junger Mann angeredet, der zu seinen früheren Freunden gehörte. Leon unterhielt sich ein Weilchen mit ihm und erzählte von seiner bald erfolgenden Abreise. Ein Wort gab das andere, und schließlich konnte Leon dem Freunde die Bitte nicht abschlagen, mit ihm auf die glückliche Wiederkehr eine Flasche Champagner zu trinken.
Erst kurz vor dem Mittagessen kehrte Leon in seine Wohnung zurück. Der Wein hatte ihn erregt und lustig gemacht, sodaß Cara sein Benehmen etwas sonderbar fand. Doch beruhigte sie sich, als Leon ihr ohne Umschweife mittheilte, daß er bei einem Freunde einen Abschiedstrunk gethan habe. Seine Begegnung mit Madeleine verschwieg er und es schien fast, als ob er selbst sie vergessen wollte. Er überhäufte Cara mit tausend Zärtlichkeiten, sodaß diese keinen Argwohn schöpfte.
Am nächsten Tage beriethen Leon und Cara eifrig, wohin Leon reisen sollte, und da Madame Haupois ihrem Sohne freie Wahl gelassen hatte, so schlug Cara Amerika vor.
»Thue nichts halb,« sagte sie, »und besuche die Vereinigten Staaten, damit deine Eltern ganz sicher sind, daß wir uns nicht sehen können. Die Reise dahin wird dir außerdem Vergnügen machen und dann kannst du auch, weil die Kosten groß sind, viel mehr sparen, als sonst wo.«
Während der wenigen Tage, die Leon noch in Paris zubrachte, besuchte er jeden Morgen seine Mutter und widmete die übrige Zeit seiner Geliebten. Niemals war sie zärtlicher gegen ihn gewesen, niemals hatte sie ihn leidenschaftlicher geküßt.
Er sollte sich in Liverpool einschiffen und da Byasson zufälliger Weise (ganz zufälliger Weise, wie er sagte) Geschäfte in Manchester hatte, so machte es sich, daß er seinen jungen Freund bis an Bord des Paketbootes begleiten konnte.
Cara begleitete ihren Geliebten nur bis zum Nordbahnhof und noch im Wagen nahmen Beide Abschied von einander. Wie viele Küsse, wie viele Umarmungen, wie viele Versprechungen und Schwüre tauschten nicht noch zuletzt die Liebenden aus! Du wirst mich nie vergessen, nicht wahr? Du wirst mich nicht täuschen? Schwöre es! Schwöre es nochmal! Cara war furchtbar aufgeregt, Leon dagegen ruhiger, aber doch sehr gerührt und sentimental gestimmt.
Als jedoch die Thüre des Wagens sich geschlossen und Leon sich entfernt hatte, erholte Cara sich schnell, und als sie ihre Wohnung wieder betrat, war sie ganz ruhig und kaltblütig.
Sie fand Luise damit beschäftigt, Wäsche und Kleider in zwei große Koffer zu packen. Sie hatte diese Arbeit bald beendigt.
»Laß die Koffer nach der Rue Legendre bringen,« sagte Cara, »und am Abend besorge sie nach dem Westbahnhof. Sei sehr vorsichtig, damit die Mutter Leons, die mich unzweifelhaft bewachen läßt, nichts davon erfährt. Sage auch dem Concierge, daß ich krank bin und das Bett hüte.«
Leon sollte sich am Sonnabend in Liverpool einschiffen. Mittags erhielt Madame Haupois eine Depesche von Byasson:
»Liverpool, 11 Uhr.
Habe von Leon Abschied genommen. Der Dampfer geht in See. Schönes Wetter.«
Zwei Stunden später erhielt Madame Haupois einen Brief, welchen ein Expreßbote gebracht hatte.
»Die Person, welche wir überwachen sollen, ist nicht krank, wie sie vorgiebt. Sie ist nicht in ihrer Wohnung und wir haben allen Grund zu glauben, daß sie gestern Abend etwas vor Mitternacht abgereist ist. Sollen wir nachforschen, wohin sie gereist ist?«
Anstatt gleich zu antworten, studirte Frau Haupois zuerst den Eisenbahnfahrplan durch, und als sie die Gewißheit erlangt hatte, daß Cara nicht die Zeit haben konnte Liverpool vor der Abreise des »Pacific« zu erreichen, beantwortete sie den Brief mit den drei Worten:
»Forschen Sie weiter.«
Am Montag meldeten ihre Agenten, daß die betreffende Person sich am Sonnabend Morgen in Havre an Bord des »Labrador,« dessen Reiseziel New-York war, begeben hatte.