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Sie wünschte, er möge nur nicht ihrem Mann in die Arme laufen. Er war in einem Zustand, daß er Verdacht erwecken konnte. ›Das fehlte noch! Ich habe genug an Pidohn.‹
Sie wollte mit Pidohn fertig werden. Für den liebenden Kessel blieb ihr im Augenblick nicht viel Sinn übrig. Es war schade, so gestand sie sich, um alle die hübsche Romantik. Noch an jenem Abend, als der junge Leutnant sie hinter ihrer Kommode entdeckte, hatte ihr Herz geklopft. Er rührte sie damals, sie war nicht sicher, was geschehen werde. Heute hatte sie im Grunde ruhig Blut behalten.
Plötzlich begriff sie: ›Vor fünf Minuten hat ein fremder Mann mich geküßt! Was wird daraus? Kann es denn bleiben, wie es ist?‹
Vor Unruhe lief sie hinten auf die Veranda, da sah sie den kleinen Jürgen sich durch die Stachelbeerhecke zwängen, er kam aus dem Garten Pidohns.
»Jürgen, was tust du?«
Der Junge wollte Reißaus nehmen, nur die Hecke ließ ihn so schnell nicht fort, die Mutter war schon da. Anstatt es aber zu strafen, nahm sie das Kind bei beiden Schultern, sie sagte ihm einschmeichelnd:
»Er hat mich auf die Schulter geküßt«, sie errötete, »nur auf die Schulter, verstehst du? Das ist nicht schlimm.«
Ob es nun schlimm war oder nicht, Jürgen steckte den Finger in den Mund. Jetzt schien er zu überlegen. Seine Ähnlichkeit mit dem Vater ward dadurch größer. Sie schüttelte ihn.
»Woher kommst du schon wieder? Aus dem Garten des bösen Mannes! Dort werden die kleinen Jungen gefressen. Halte nur ja deinen Mund! Sonst sage ich es deinem Vater.« Damit ließ sie ihn laufen.
Sie dachte: ›Unsinn ist das, Nebensache ist es, – da ich nun einmal zu Herrn Pidohn gehen soll!‹
Sie faßte den Plan, ihren Mann zu bitten, er möge es ihr erlassen, aber konnte er es? Es lastete auf ihr von selbst, sie wußte, es würde ihr nicht erspart bleiben. Warf sie auch sogar die ganze Aufführung hin, Pidohn blieb.
Gern hätte sie ihren Mann doch wenigstens um Rat gefragt, sie ging sogar ein Stück die Lindenallee entlang, ob er noch nicht käme. Aber erstens schien er die Versöhnung Pidohns dringend zu wünschen, und wie hätte sie ihm ihre Abneigung, diese widerspruchsvolle Abneigung erklärt? Würde er begriffen haben, daß man sich selbst in Versuchung führt, trotz Widerwillen?
Mit Leutnant von Kessel hingegen war alles Romantik.
›Er hat mich nur auf die Schulter geküßt.‹
Hätte sie doch wenigstens hierüber ihrem Mann sich anvertrauen dürfen anstatt dem armen Kinde! Nein. Der große Jürgen würde dies wichtiger genommen haben, als alle ihre Ängste durch Pidohn. Ein Kuß auf ihre Schulter wäre ihm unerträglich erschienen, nicht aber, daß jener andere jetzt leider sogar in ihre Träume eindrang. Denn sie hatte Träume der Angst.
Seufzend kehrte sie um, sie wollte den Mann lieber gleich beim gedeckten Tisch erwarten. Ihr mißfiel die schwüle Luft, ihr mißfiel das Haus. Sie wäre gern weit fort gewesen, wußte aber zum erstenmal nicht einmal, wo. Keine Bilder von einst kamen. Sie war nur müde – erinnerte sich, daß man statt dessen durch leichte Luft in einer Schaukel schwingen könne, und fühlte Zorn. Denn sie war, wie sie hier saß und wartete, nicht glücklich.
›Ich, nicht glücklich?‹ fragte sie ungläubig. ›Ich, nicht mehr glücklich?‹
Hier kam ihr Mann und küßte sie mitten auf den Mund. Er hatte helle Augen, helle Brauen, aber die dunkleren Wimpern warfen Schatten auf die unteren Lider, und er war bei aller Hitze weißer von Gesicht als sonst.
»Hast du Sorgen?« fragte sie plötzlich.
Er zog die Braue hoch. »Wie kommst du darauf?«
Mehr verriet er nicht, sie aßen. Der kleine Jürgen ließ kein Auge von seiner Mutter, sogar noch mit dem Löffel im Mund starrte er sie an wie eine Mitschuldige. Sie spürte, sie werde erröten.
»Iß doch!« wiederholte sie gereizt.
»Wer war hier?« fragte sein Vater. »Jürgen sagt, daß du Besuch hattest.«
Sie sah in zwei gleiche Gesichter. Es waren kurze Gesichter, ihr längliches gehörte zu ihnen nicht, so ward ihr bewußt. Das Kind öffnete den Mund, da hatte es von ihrer schlanken, schnellen Hand die Ohrfeige. Es weinte nicht, aber endlich schlug es die Augen nieder.
Sein Vater wollte fragen; sie rief schon:
»Er ist verstockt! Er war wieder im Garten Pidohns, er ist ein häßliches Kind. Darum denkt er sich etwas gegen seine Mutter aus.«
Sie war bleich und hielt immer noch ihren Blick auf dem Kind, das ihn fühlte und den seinen nicht aufschlug.
»Bei dir war niemand?« fragte der Mann.
»Wer sollte denn kommen?« rief sie entsetzt, weil sie log. Sollte sie denn alles verschweigen müssen, was ihr zustieß? Sie hätte sich gern berichtigt, sie wollte sagen:
›Ach, ich vergaß. Einen kurzen Augenblick war Kessel da, er sagte mir nur ein Wort von Heines.‹
Dies hörte sie sich beinahe schon sprechen, schwieg aber. Sie hatte das unschuldige Kind geschlagen! Jetzt sollte sie sich eigentlich vor ihm hinknien und es in den Arm nehmen. Das fühlte sie, wollte es auch, da war nur ein Widerstand.
Der Mann dachte: ›Sie ist eigensinnig. Das Kind hat seinen Trotz von ihr, sie können sich nicht verstehn. Etwas ist vorgefallen, aber sie mögen es für sich behalten. Ich bin heute ein wenig müde‹, schlossen seine Gedanken. Er stand auf, küßte die Frau, dann das Kind. Er küßte sie zuerst, damit sie nicht beschämt sei, nicht sogar an Achtung verliere bei dem Kind.
Das Kind nahm er in seine Arme. Hierauf aber ermahnte er es eindringlich:
»Gehorche deiner Mutter!«
Gabriele aber suchte Pidohn. Sie stellte sich vor, wie er an einer Straßenecke mit ihr zusammenstieße und einige freundliche Worte sich von selbst ergäben. Den Rest beschloß sie schriftlich zu ordnen. Nur traf sie nie wirklich auf ihn. Die paar Hauptstraßen zeigten von ihm keine Spur, aber nur in ihnen konnte sie sich frei bewegen. Die Läden, in denen eine Dame kaufte, lagen alle hier, jeder Schritt in andere Gegenden hätte besonderer Erklärungen bedurft. Unnützes Umhergehen fiel ohnedies auf.
Mehrmals begegnete sie Emmy Nissen, jetzt machte sie auch noch die Wege Emmys mit. Das gab ihr das Recht, bis über die Mittagsstunde in der Stadt zu bleiben.
Die beiden jungen Damen standen hinter der Spiegelscheibe eines Klempners, Efeustöcke schützten sie, da kamen die Herren von der Börse, unter ihnen Pidohn.
»Tatsächlich«, rief Gabriele, denn sie hatte ihn schon verloren gegeben. »Er lebt also noch?«
»Und wie er lebt!« sagte Emmy. »Am Hafen treibt sich ein gefährlicher Trunkenbold umher. Gestern wollte die Polizei ihn aufgreifen. Zuerst ließ er sich auch abführen. Plötzlich aber läuft er davon, verschwindet in der engsten Gasse, eine Sackgasse, verstehst du? Ein verrufenes Wirtshaus steht dort, er mußte hineingelaufen sein. Der Polizist sieht nach, drinnen sitzt ein einziger Gast, Herr Pidohn.«
»Er – er war es?« fragte Gabriele, die Faust an der Wange und mit erweiterten Augen.
In dieser Minute ging er an ihrem Fenster vorüber.
»Man sieht es ihm wirklich nicht an«, bestätigte die Kusine.
Nicht nur, daß Pidohn voll Würde einherschritt, sichtlich ward er anerkannt als Macht. Die Herren umgaben ihn, sie grüßten ihn zuerst. Er wirkte groß und umfangreich. Er glänzte von oben so stolz und glücklich aus seinen beiden schwarzen Bärten. Wenn seine dicken Brauen sich verschränkten, taten sie es nur, um jemand ungnädig abzuweisen.
Auch Konsul West, der jetzt nahte, war umringt. Die Damen hörten sagen:
»West, Sie, der Sie bei Pidohn lieb Kind sind –.«
Gabriele erschrak, sie fühlte, die Worte seien für Jürgen nicht schmeichelhaft, – und seit wann schloß er sich an Pidohn an? Er, dessen Ehrgeiz nach eigener Geltung ging! Dennoch verzog er bei allem keine Miene. Im Gegenteil, unbeschadet seiner natürlichen Vornehmheit ward er noch gefälliger, er schien nur Freunde zu kennen. Jeder dieser Herren, die durch seine Vermittlung bei Pidohn verdienen wollten, stimmte mit, wenn die Bürgerschaftsvertretung ihren Vorsitzenden wählte ...
›Beide müssen wir mit Pidohn Glück haben‹, erkannte Gabriele. ›Was geschieht sonst? Jürgen, der von selbst ein ganzer Herr ist – und der vorübergehend aufgeblasene Pidohn! Trotzdem wird wohl auch Jürgen ihn so dringend brauchen wie ich.‹
Einen Augenblick hatte sie Mitleid mit Jürgen wie mit sich selbst. ›Entschuldige, Emmy‹, hätte sie fast gesagt. ›Ich muß Jürgen einholen.‹
Aber er war in Geschäften, daher heilig. Niemand durfte ihn stören. Undenkbar schien vollends, daß eine Dame in diese wandernde Versammlung ernst handelnder Männer eintrat. Gabriele seufzte, sie ließ es.
Bei Tisch war Jürgen dann bester Laune. Sein Freund Pidohn habe Glück. Wer es sogleich vorausgesehen habe, komme gut weg dabei.
»Jetzt hast du wohl keine Sorgen mehr?« fragte Gabriele.
Er verwahrte sich:
»Eigentliche Sorgen waren es ohnehin nicht. In diesem Augenblick aber sind wir nahezu reich, oder sagen wir: sehr wohlhabend.«
»Ach!« machte Gabriele. Gegen ihre Gewohnheit stützte sie beide Arme auf, ihr Gesicht sah zwischen ihren schmalen Händen unverwandt hindurch. »Dein Freund Pidohn hat es jetzt nicht mehr nötig, die Rolle zu spielen.«
»Welche Rolle?« Er war völlig überrascht. Als sie nicht antwortete, fiel ihm ein: »Natürlich, in dem Stück von Heines. Gut, daß du mich erinnerst. Du verzeihst doch, daß es mir entfallen war. Als ich mich mit Pidohn in Verbindung setzte, erwähnte ich euren – du weißt, jenen Zwischenfall. Er schien nichts mehr davon zu wissen.«
»Ach! So schnell vergißt er?«
»Bei seiner Lebensweise!«
Sie erschrak, sie dachte an den Trunkenbold in der Hafengasse.
»Der Mann arbeitet für sechs«, erklärte der Konsul. »Ich hatte überhaupt noch keine solche Kraft gesehn.«
»Dann bleibt ihm kaum Zeit für unser Theater.«
Der Konsul blies durch die Nase. »Theater! Wenn er will, baut er der Stadt ein großes neues Theater, so viel Geld verdient er. Ich könnte es ihm sogar nahelegen. Er braucht Prestige.«
Gabriele gab nicht nach. »Aber seine Rolle in unserem Stück? Auch das wäre für ihn noch immer ein Gewinn an Prestige. Es ist die Hauptrolle.«
»Vor allem wäre es jetzt unser eigener Vorteil«, entschied er. »Pidohn ist nicht mehr der Abenteurer, der er war. Die Lage hat sich geändert, seine Spekulationen glücken. Nachgerade wird er zum großen Mann der Stadt, wir müssen ihn haben. Wie weit bist du deinerseits mit ihm?«
Ihr Gesicht zuckte. Er glaubte, sie würde weinen.
»Du hast ihn ein wenig vor den Kopf gestoßen, und fürchtest, er könnte sich dessen noch entsinnen. Aber laß es gut sein, meine Liebe. Tue keinen Schritt mehr in der Sache! Überlasse alles mir, und eines Tages siehst du ihn hier durch den Garten kommen, als wäre nie etwas vorgefallen.«
»Es würde mich freuen«, sagte Gabriele.
So endeten sie.
Sie hatte aber leider nur wieder die Wahrheit verschwiegen, denn sie war durchaus entschlossen, noch Schritte zu tun, alle möglichen Schritte, die unvorhergesehensten, die gewagtesten.
Am gleichen Abend ging sie aus. Der Konsul wurde erst spät aus dem Kasino der Herren zurückerwartet; sie hatte, als es dämmerte, zwei Stunden vor sich.
Welches ungewöhnliche Unternehmen! Einige Läden waren noch offen, aber sogar die Hauptstraßen leerten sich schon. Sie bemerkte keinen Bekannten, übrigens hätte bei dem schwachen Gaslicht niemand sie selbst erkannt. Wenigstens glaubte sie es. Sie war verändert, sie trug eine alte Jacke aus dem Kleiderschrank ihres Stubenmädchens. Das Mädchen wußte es nicht. Niemand auf der Welt wußte, daß Frau Konsul Gabriele West hier ging und so aussah.
Schnell um die Ecke. Der letzten Laterne entronnen! Steil fiel eine holprige Gasse ab. Gabriele fühlte tief, daß sie die erste und einzige Dame der Stadt war, die bei Einbruch der Dunkelheit verkleidet in unerlaubte Gegenden abglitt. Sie dachte: ›Das tun sie hier nicht.‹ Darauf fiel ihr ein: ›Auch Herr Pidohn verkleidet sich.‹
Er war bis jetzt die unheimliche Ausnahme gewesen. Jetzt kam sie selbst hinzu. Sie bestand Abenteuer, wie Herr Pidohn. Ihn hatte die Polizei in einer verrufenen Kneipe entdeckt. ›Wer weiß, wo sie mich noch finden.‹ Sie erschrak, fühlte unbegrenzte Gebiete sich eröffnen, lachte aber im Innern noch darüber.
Es war ein Gang – irgendwann im Leben, und wäre es nur im Traum, mußte sie ihn schon getan haben. Die Straße schwankte ihr unbestimmt, als wäre leerer Raum darunter, ja, wie eine Brücke. Es hätte die lange Garonne-Brücke sein können, sie selbst noch das Kind, und im Lärm hörte niemand ihr Rufen. Sie war verlassen, verloren, kam auch nie hinüber. Man kommt im Traum nicht hinüber.
Vereinzelte Vorbeigehende versuchten unter dem breiten Hut ihr Gesicht zu erspähen, da begann sie vor Angst zu laufen in der abschüssigen Gasse. Eine Haustür stand noch offen. Gabriele flüchtete hinein.
Sie gelangte in einen Vorflur, hierauf folgte erst die verschlossene Glastür, hinter der das Haus ganz dunkel lag. Aber auch die Seitenwand des Vorflurs hatte ein Fenster, es war breit und unverhängt. Wer sah ihr daraus entgegen? Herr Pidohn.
Sie fuhr zurück, sie drückte sich hinter die Haustüre. Herr Pidohn freilich sprach, indes er heraussah, ruhig weiter mit den drinnen anwesenden Personen. Er schien nichts zu erblicken. Endlich bedachte Gabriele, daß sie im Dunkeln stand, ihn aber alle Gasflammen umgaben. Er lehnte großartig an einem hohen Pult, kühne, kraftbewußte Bewegungen begleiteten seine Worte. Er diktierte und rief Befehle dazwischen. Eine Anzahl Angestellter hastete umher oder schrieb verzweifelt. Alles sah aus, wie von dringlichster Wichtigkeit beseelt.
Haus und Straße stockfinster, Gabriele aber blickte in einen grellen Zauberkasten. Hatte Pidohn vor dieser Zeit überhaupt einen Geschäftsraum gehabt? Fast erwartete man, daß dies ganze Wesen, unsicherer Herkunft wie es war, mit einem Schlage vom Dunkel verschluckt werde und nie gewesen sei. ›Grade hier mußte ich eintreten?‹
Mitten aus dem Feuer seiner Tätigkeit brach Herr Pidohn auf, ein junger Mann brachte ihm laufend Mantel und Hut. Eilig schritt er dem Hintergrunde zu, jemand sprang ihm voraus, ja, hinter der gläsernen Flurtür erschien ein Licht. Gabriele verlor den Kopf, sie fand nicht fort. Im letzten Augenblick, als schon die Flurtür klirrte, verschwand sie.
Erst nach der nächsten Querstraße stand eine Laterne, sie hoffte, ungesehen um die Ecke zu gelangen. Vielleicht war es ihr auch geglückt, nach zwanzig Schritten aber ließ sich nicht mehr leugnen, daß dies eine Sackgasse war. Entsetzt sah sie umher, trübes Licht drang nur durch eine einzige Scheibe. Das verrufene Wirtshaus! Pidohn als Trunkenbold! Grade hier setzte ein vereinzelter Schrei ein, ein Frauenschrei. Er nahm kein Ende. Gabriele kehrte um und rannte, auf die Gefahr, dem schnell als Trunkenbold maskierten Pidohn in die Arme zu laufen.
Nur abwärts! Aus der Enge fort, abwärts zum Hafen, endlich nahm freiere Luft sie auf. Auch gingen Wächter vorbei. Sogleich sagte Gabriele sich, daß sie dumm sei. Wozu die selbstgeschaffenen Ängste? Nichts davon mußte wahr sein. Auch den diktierenden Pidohn behandelte sie als reine Eingebung ihrer erregten Sinne. Freilich wehrte er sich. ›Sie werden mir doch noch in die Arme laufen‹, sagte er deutlich – einen halben Schritt hinter ihr und mit ziemlich glaubhafter Stimme; aber sie wußte durchaus, daß sie es selbst war.
Sie atmete und sah sich lieber den Hafen an. Die Schiffe lagen schwarzgetürmt, man bemerkte keine Wasserfläche, so breit war dieser Fluß nicht. Sie dachte: ›Es gibt so breite Flüsse, daß der ganze Himmel darin Platz hat.‹ Da hielt sie an, es roch nach Wein – genau wie in dem Hafen am anderen Ende der Reise, die sie kannte.
Die Fässer hier! Sie waren ausgeladen aus jenem Schiff, hatten dieselbe Reise gemacht wie einst sie selbst, lagen nun hier und erwarteten ihr Schicksal. Sie dachte: ›Auch ich werde einmal leer sein, einmal zerbrochen werden‹, – dachte es aber leise, kaum vernehmbar ihr selbst, indes sie eins der Fässer streichelte.
Sie fühlte, daß der leichteste Teil des Lebens endete, ach, schon zu Ende war. Sonst war nichts deutlich, was vorging. Sie trotzte: ›Ich will nichts wissen, will wieder glücklich sein.‹ Morgen, so beschloß sie, sollten die beiden Leutnants samt der Kusine mit ihr Krocket spielen, sie schaukeln, ihr dienen. Nichts sollte geschehen sein ... Auf einmal ging sie wahrhaftig einen Schiffssteg hinan! Erstieg den Steg zu dem Schiff, das die Weinfässer gebracht hatte. Herrlicher Übermut, auch dies steht dir frei! Es kann noch immer anders kommen. Du bist gekleidet wie ein armes Mädchen, sie nehmen dich mit, du arbeitest in der Küche, eines Morgens geht die Sonne über deiner anderen Heimat auf.
Leider regte sich auf dem Schiff ein Schatten und erschreckte sie. Mit einem Sprung verließ sie die Bretter. Sie kehrte unverzüglich in die Stadt zurück.
Sie gelangte auf dem nächsten Weg zum Dom. Sie hatte es nicht vorausgesehen, ein Platz eröffnete sich plötzlich. Um die Kirche lag ein schwacher Lichtkreis. Von Schatten schwer drangen die Straßen in die Tiefen der Stadt, und es war still. Die Mauer der Kirche erging sich in überraschenden Winkeln. Einmal schob sie einen freien Pfeiler weit von sich. Aus der Höhe blickte ein grauer Tierkopf, ob Fledermaus oder Katze. Er rührte sich nicht, aber sie sah so lange hin, bis seine Augen aufgingen.
Hiernach bemerkte sie an der Kirche noch anderes Getier, speiende Drachen, einen Löwen, der mit dem Schweif schlug, bereit, ihr zu folgen. Denn dies hatte ein anderer Löwe einst tun wollen, als sie selbst ein Kind war und sich in den Winkel einer anderen Kathedrale drückte. Der Traum kürzlich, jener Traum von ihrer Kindheit, hatte ihr die vergessenen Tiere nicht zeigen wollen. Hier erschienen sie ihr in Wirklichkeit. Es war, wenn man wollte, dieselbe Kirche. Sie war, wenn sie wollte, dieselbe Gabriele.
Die Uhr schlug. Senkrecht über ihr stieß die Uhr mit voller Kraft den tiefen Klang in die dunklen Lüfte. So erfuhr die Abenteurerin, daß sie zu spät nach Hause kommen werde.
Bis in den belebtesten Teil der Stadt fehlte wenig. Hier war hinter ihr ein Wagen. Er rumpelte und fuhr im Schritt. Sie sah sich um, er bildete ein hohes, schwarzes Gestell, das schwankte. Auch die Pferde waren schwarz, auch der Kutscher. Sie erkannte ihn, sie blieb stehn. Das Gefährt war neben ihr und es war leer; da fragte sie:
»Nehmen Sie mich mit, Herr Pagels?«
Er besann sich, dann hielt er an. Es geschah langsam, knarrte und stieß, es geschah im Halbschlaf.
»Sie sind wohl das Mädchen von Konsul West«, sagte der Kutscher. »Bis zu meinem Stall können Sie mitfahren.«
Sie stieg ein. Im Schritt rumpelten sie weiter. Aus der Straße, die zum Kasino der Herren führte, näherte sich eine Gruppe, sie glaubte ihren Mann darin zu erkennen. Um so tiefer drückte sie sich in das Dunkel der Kutsche. Beim Stadttor bog der Wagen in einen Hof. Sie verließ ihn, statt eines Abschiedsgrußes sagte sie:
»Herr Pidohn fährt wohl auch nicht mehr spazieren?«
Der Kutscher antwortete:
»Der hat mehr zu tun. Ich fahre ihn nur immer in der Stadt umher. Aber morgen nachmittag will er nach Suturp.«
›Morgen nachmittag?‹ wiederholte sie für sich und lief schon. Sie gelangte auch noch vor dem Konsul nach Hause. Die häßliche Jacke war ungesehen beseitigt, sie stieg hinauf zu dem Kinde. Es schlief allein, sein Mädchen saß mit den anderen in der Küche drunten, noch unter dem Erdgeschoß. Alle waren weit fort und hatten das Kind allein gelassen, am weitesten fort aber war seine Mutter gewesen. Wie sie es bereute! Sie hätte anstatt alles anderen, das sie getan hatte, den Abend hier am Bettchen verbringen sollen!
Ihr Kind wäre eingeschlafen bei dem Klang ihrer Stimme, es würde jetzt Träume haben, die sie ihm vorgeträumt hätte.
Es hatte aber nur seine eigenen. Sie selbst war in andere verwickelt gewesen. Ihr schauderte ein wenig, sie schloß das Fenster. So waren sie beide geborgener.
Das Kind rührte sich, flüchtig erwacht öffnete es die Augen und lächelte sie an. Da ergriff sie es stürmisch und weich, zog es zu sich hinan; ja, ganz Mutterglück, flüsterte sie ihm in sein blondes Haar:
»Wir sind nicht reich, aber sehr wohlhabend.«
Es lächelte nochmals, gleich darauf war es in ihren Armen wieder eingeschlafen. Von drunten rief der Konsul nach ihr.