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Neuntes Kapitel

Professor von Heines bewohnte in seiner Heimatstadt keines der alten Häuser, die er zuweilen besungen hatte. Das seine kannte weder Giebel noch hallenden Flur. Sieben Speicher übereinander, Säle zum Empfang der ganzen Stadt und geheime Hängeböden, wo die Mägde mit dem Kopf an die Decke stießen, dies alles fehlte bei ihm so gut wie ganz. Der heimgekehrte Weltwanderer hatte am Brunnenmarkt ein fast neues Gebäude erworben. Es war viereckig, mit Ölfarbe gestrichen, und in seinen Fenstern glänzten Spiegelscheiben. Aus solchen Fenstern ließen sonst die zur Ruhe gesetzten Handwerksmeister ihre langen Pfeifen hängen.

Die kleinen Zimmer ähnelten den Salons in Handelsschiffen, viel Portieren, viel Bilder blau in blau. In einem der unteren wartete Gabriele, bis die Greisin, die hier Dienst tat, zurückkam. Jetzt durfte sie gleich hinter dem großen Schrank die kleine Wendeltreppe hinaufsteigen. »Lassen Sie ihn nur immer still sitzen«, flüsterte die Alte ihr durchdringend nach.

Er saß dann auch droben, bis über den Leib in sein Plaid gehüllt. Sein Gesicht blieb bleich mit gelben Zügen, obwohl er Gabriele zu Ehren Profil und Knebelbart kühn warf. Keine Maske half, er fühlte es selbst.

»Nehmen Sie Platz«, sagte er traurig.

Sie sah sich um. Zu seinem Schreibtisch hinan führte eine Stufe. Vor dem Schreibtisch, aber in einigem Abstand von ihm, lief ein vergoldetes Gitter. Platz zu nehmen war nur diesseits des Gitters erlaubt. Auf einen kleinen braunen Polstersessel mit Fransen hatte er gradezu hingewiesen. Sie nahm ihn auch ein. Jetzt erblickte sie Heines von unten, zur Hälfte sogar nur durch sein goldenes Gitter.

Sie stotterte etwas, indes er gar nichts sagte. Noch blieb ihr viel Verwirrung aus ihren vorigen Auftritten – und hier jetzt wieder dieser ungeheure, wahrhaft bedrückende Abstand, obwohl alles einzelne lächerlich wirkte.

Ihm selbst aber war in diesem Augenblick einzig und allein seine Lächerlichkeit bewußt.

Er konnte sie nicht ändern. Er mußte diese Maske samt dieser Krankheit zur Schau tragen. Ihm war auferlegt, durch Äußerungen einer vordringlichen Persönlichkeit aufzufallen, zu sprechen wie ein Schauspieler auf der Bühne und unter seinen weißen Augenbrauen hervor hochfahrende Blitze zu senden gleich Zeus. Womit hatte er seine Tage verbracht? So fragte er an einem Tag wie diesem, beim Nahen atmosphärischer Störungen, schlimmer Erkenntnisse und wenn es ihm davor graute, seine Arbeit auch nur aus der Schublade zu ziehn.

Während diese Dame schon auf der Wendeltreppe war, hatte er es doch schnell noch getan. Er hielt den Gänsekiel, als hätte sie ihn beim Schreiben unterbrochen, und seine Maske machte ihr das beleidigte Erwachen des Entrückten vor. Ihr damit die Rede verschlagen zu haben, war seine Genugtuung, aber es demütigte ihn auch, weil er es diesmal hatte spielen müssen. Tausendmal wäre es reine Wahrheit gewesen.

Er warf mehrmals sein Profil, dabei sah er vor seinem Fenster, in den kleinen, seitwärts gewendeten Spiegelscheiben, die ein Spion hießen, das Leben der Straße. So spärlich es war, ihm schien es tätig, zweckerfüllt, ja, er erkannte tief, daß jene anderen Menschen unterwegs oder in ihren Kontoren, ihren Warenlagern, die Welt und die Wirklichkeit inne hatten. Ihm selbst zerlief alles wie Schein.

Dichten war das Höchste. Dichten war ohne Wesen und Wert. Gebieterisch tritt an die Mitlebenden heran, aber erbleiche und sei im tiefsten getroffen, vergessen sie auch nur aus Übermüdung einmal die Weihe, die dich einzig aufrecht erhält. Verlange von ihnen Schlichtheit, Reinheit – du, mit deinem müßigen, im Grunde gelockerten Wandel! Stell Forderungen, immer Forderungen an sie. Verzeih kein Abweichen. Was verzeihst du dir selbst? Du vergißt aus deinem ganzen Leben kein Versagen, keine Kränkung. Bevor diese Dame erschien, saßest du hier einsam und gabest Laute wie ein träumender Hund, weil schlimme Erfahrungen von ehemals dich in Gedanken anfielen.

Nach einer langen Minute Schweigens bemerkte der Schlechtgestimmte, daß er der Dame doch werde begegnen müssen. Zu diesem Zweck bedachte er, daß sie ihn verehrte – und daß sie damit recht habe. Aufgabe der Menschen war, ihn zu verehren. Es war sogar ihre einzige, wir wollen glauben echte Beziehung zu ihm. Sie hatten nicht nötig, seine Außerordentlichkeit zu begreifen, ihnen ward sie bestätigt durch seine Titel, den Adel, den Ruhm. Er kehrte zurück aus zwecklos oder zu höchsten Zwecken durchstreifter Ferne. Sie sahen ihn umwittert von Tragik, Einsamkeit, Geschichte. Ihre Kinder gaben ihm auf der Straße die Hand.

»Frau Konsul West«, sagte er feierlich. »Ich errate, weshalb Sie kommen.«

»Ist das so schwer?« fragte sie, rang zitternd vor Anstrengung alles nieder, was sie verwirrte, und sprach wie eine Dame, ja, gradezu gütig.

»Ihnen schien, als wir Sie bei uns sahen, zuletzt nicht wohl zu sein. Oder mußten wir sogar selbst, in unserer Unerfahrenheit, Sie verstimmen? Ach, Professor von Heines«, sagte sie zutraulich, »was können dumme Menschen daran ändern, daß Sie Genie haben und ein schönes Stück namens Eugénie schreiben.«

»Ich denke nicht daran!« rief er launenhaft. Er war hellrot, schnob und sah eine herrliche Erleichterung seines Gemütes nahen.

Frau Konsul West fühlte die Lage mit. ›Tobe dich aus‹, dachte sie, indem sie laut behauptete:

»Ein Dichter bricht sein Wort nicht.«

»Woher wollen Sie das wissen?« schrie der Greis hinter seinem goldenen Gitter.

Der Abstand, der heilige Abstand war verlorengegangen, er warf sogar sein Plaid ab. Sie nahm an, er werde aufspringen, ja, vielleicht Schaden nehmen. ›Lassen Sie ihn nur immer still sitzen‹, hatte seine Dienerin ihr nachgeflüstert; daher ward sie auf einmal demütig.

»Verzeihen Sie einer Unglücklichen!« begann sie – und weitergeleitet von ihrem eigenen Ton:

»Noch keine Stunde ist es her, daß eine andere Frau mich aus meinem Hause, von Mann und Kind vertreiben wollte.«

Sie sah, daß sie sich verriet. Wenn nun dies wenigstens ihn fesselte!

Aus Sorge um ihn war sie aufgestanden. Vom eigenen Jammer überwältigt, fiel sie wieder in ihr Polstersesselchen.

»Jetzt kommen Sie mir mit Szenen«, klagte der Greis.

Sie blieb aber vorgebeugt, ihr Nacken zuckte und sie murmelte unbeirrt.

»Wäre ich doch nie in diese Stadt geraten!« murmelte sie. »Hätte ich diese Menschen nie gekannt, hätte nie gewünscht, daß sie mich lieben, mich verstehn! Sie sind übelwollend, das ist es. Sie greifen lieber an, als daß sie Freunde wären. Gegen mich haben sie den Klatsch.«

Jetzt weinte sie hörbar. Plötzlich hob sie das nasse Gesicht gegen ihn auf.

»Der Dichter, den ich verehre, nennt uns angefault.«

»Das ist nicht wahr!« rief er, untröstlich über alle Widerwärtigkeiten, die sein Ausspruch nach sich zu ziehen drohte.

Sie nickte nur; es hieß: sie kenne leider die Wahrheit.

Jetzt war er untröstlich, ihr Unrecht getan zu haben – Unrecht, selbst wenn alles wäre, wie er gesagt hatte. Denn ihre Tränen ergriffen sein Herz.

In dem Augenblick, als sie nickend die Lider schloß, streckte der alte Dichter die rechte Hand von sich, schon gewärtig des erschütternden Ereignisses, wenn die beiden feuchten Sterne sich wieder zeigten. Sie erblickte dies noch, als sie die Augen öffnete, und hatte ihn dafür lieber.

»Was man Ihnen hinterbracht hat, ist ein schweres Mißverständnis«, versicherte er, die Hände gefaltet.

Da widersprach sie nicht mehr. Sie sagte im Ton einer unerwarteten Erkenntnis: »Wir sind uns schon in meiner Heimatstadt begegnet!«

 

Angesichts seiner Überraschung bestätigte sie schnell:

»Oh! Es ist lange her, ich war ein Kind, Sie hatten noch braunes Haar. Es war im öffentlichen Garten, Sie wissen, bei dem Teich, über den die Brücke führt. Ich kämpfte mit einer Gans.«

Er betrachtete sie so neugierig, daß ihr sofort Genaueres einfiel – das ganze Erlebnis, und der Herr, der darin auftrat, bekam die glaubwürdigen Züge eines stark verjüngten Heines.

»Eine Gans aus der Herde, ich hatte sie gejagt, jetzt richtete sie sich gegen mich. Ich stieß mit den Füßen und schrie, da kamen Sie des Weges, ja, Sie selbst. Sie wedelten mit Ihrem Plaid, bis die Gans davonlief. Dann gaben Sie mir die Hand. Jetzt sehe ich Ihr Gesicht von damals. Sie vergißt man nicht.«

Sein Herz, so alt es war, klopfte. Er lächelte kaum noch zweifelnd.

»Schließlich könnte es wahr sein«, murmelte er.

»Ich habe es Ihnen nicht früher sagen wollen, als bis wir einmal allein wären«, schloß sie und ließ ihre Stimme zittern. Sie war ein wenig bewegt, weil er es sichtlich noch mehr war. Ihn bewegte es, wie sehr er grade vorhin noch seinen Abstand vom Leben bereut hatte, und wie es jetzt doch zu ihm fand bis in Atemnähe!

Hier lächelte er merkwürdig schlau.

»Dann kam der Aufseher, vergessen Sie das nicht! Der Aufseher des Gartens war Zeuge gewesen, als Sie die Gans neckten, und er nahm Sie mit. Ich konnte Ihnen nicht helfen. Er war schon alt, der Aufseher. Haben Sie den alten Mann vielleicht zum besten gehalten?«

Sie faßten einander ins Auge, beide sowohl überrascht wie wohlwollend.

»Das wäre das«, bemerkte er wohlwollend. »Sie sind eine kleine Komödiantin.«

»Und Sie?« rief sie, stieß unvermutet die goldene Pforte auf und drang zu ihm ein. Er konnte seine Papiere nicht mehr schützen, sie warf sie herum, bis der Titel offen lag.

»Eugénie!«

Sie las und triumphierte.

»Und was beweist das«, plötzlich hatte er angefangen, mit ihr Französisch zu reden.

»Es ist mir nicht gelungen. Es wird nicht aufgeführt.«

Schon hatte er die Schublade geöffnet, die beschriebenen Blätter wären darin verschwunden. Sie rang sie ihm ab, sie brauchte im Ernst ihre Kraft. Als sie hatte, was sie wollte, und abgewandt blätterte, brachte er etwas atemlos hervor:

»Woher nehmen Sie nur den Mut, mich so anzufassen?«

Es war reines Staunen.

»Natürlich mußte es Ihnen mißlingen«, warf sie hin, »denn Sie schreiben darüber: Ein deutsches Spiel.«

»Hier endet Ihr Recht«, erklärte er feierlich, »denn hier beginnt mein Glaube.«

»Gut. Aber wer spielt Ihnen die Eugénie wie eine Deutsche. Was heißt deutsch, wenn über uns das Unglück kommt?« fragte sie lauschend.

»Ihm gewachsen zu sein durch Lauterkeit und Ernst«, erwiderte er, – worauf sie sich hinwandte und ihm neugierig zusah.

»Haben Sie das Unglück gekannt?« raunte sie – geheim und nebenbei.

Da er beschämt den Mund hielt, – aber warum schämte er sich, er glaubte doch statt des Unglücks, dem er immer entgangen war, die Tragik zu kennen. Nun, er schwieg, und sie sprach weiter geheim.

»Wenn es sich meldet, hat man Abscheu und große Angst. Nachher, wer hätte es geahnt, bekommt es eine Anziehung wie das schönste Spiel. Man denkt immer: das bist du nicht selbst. Darin liegt der Reiz.«

Er erinnerte sich.

»Damals ging von Ihnen jener finstere Mann fort. Er war mir ein Gegenstand der Verachtung. Aber hätte ich ohne diese wirkliche Begegnung meinen Napoleon und meine Eugénie in ihrer höheren Wahrheit erschaut? Mystische Zusammenhänge gibt es im dichtenden Geist. Danken Sie Gott, mein Kind, daß Ihre Unschuld sich davon nichts träumen läßt.«

Er sank tiefer ein, er bekam Gramfalten.

»Ach! Meinesgleichen muß die seltenen Stunden der Erleuchtung zumeist büßen mit langer Ohnmacht. Ich habe seither niemals wieder begriffen, wie Eugénie das Unglück lieben konnte – grade sie ihren vom Schicksal geschlagenen Mitschuldigen!«

Dabei fragte er sich:

›Hätte ich dies eingestehen dürfen?‹

Ihn tröstete nur ihre Unschuld.

»Ich habe gelesen«, sagte sie, »daß Eugénie bei Ihnen vom Himmel spricht. Sogar mit der Hölle droht sie ... Das tut sie aber in Wirklichkeit nicht.«

»Was maßen Sie sich an!«

»Zischen Sie nur! Darum droht doch Eugénie ihrem Mann nicht mit der Hölle. So fromm ist sie gar nicht.«

»Sogar auf Reisen war ihr erster Weg zur Kathedrale. Ich weiß es von Ihnen selbst.«

»Dann hören Sie auch, was sie dort tat. Sie stand einfach in einer Mauernische und hörte die steinernen Tiere singen. Nicht nur die Vögel, alle Tiere hatten singende Stimmen.«

»Die Religion«, behauptete er, »ist das düstere Gegengewicht ihres Leichtsinnes.«

»Leichtsinn –« wiederholte sie. »Ich erinnere mich. Sie ließ sich schaukeln in einer Laube von zwei Offizieren. War das verboten?«

»Sie kennen Geheimnisse«, sagte er duldsam.

Er entschloß sich.

»Es sei. Ich will Ihnen folgen, Kind. Vielleicht wird, was meiner Eugénie am Ende zustößt, ergreifender, wenn sie am Anfang nichts war als ein leichtes Ding. Einst auf meinen Sängerfahrten las ich meine lieblichsten Verse in den Augen junger Griechinnen. Gut. Jetzt lese ich in Ihren.«

»Verse – das wollte ich sagen: keine Verse für mich!«

»Das mir?« rief er.

Aber sie äußerte sogleich noch andere Zweifel.

»Immer Ihre Griechinnen! War denn keine dabei, die Ihre richtige Freundin war?«

Der Alte errötete.

»Wie Sie es sagen!«

»Nicht in Versen«, gab sie zu.

»Sie wissen, daß ich vermählt war und die einzig Geliebte im Kindbett verlor. Es ist so lange her, aber alle wissen es, denn ich habe mein tragisches Leiden den immer tönenden Klängen des Alls hinzugefügt. Nun hört Ihr's!« sagte er getragen und tief ernst.

Sie forschte:

»Und seitdem – nichts?«

Er murmelte:

»Nach so vielen Gedichten des Schmerzes! Durfte ich da noch? Man hätte es mir nie verziehen. Mein Ruhm wäre befleckt gewesen.«

Auch setzte er, wie durch ein Versehen, hinzu:

»Keine dachte bei mir daran.«

»Ich hätte es versucht«, sagte sie – aus Güte, und auch um zu erfahren, was käme.

Es kam, daß der arme Alte zuerst erstarrte, dann zitterte, dann aufsprang.

Er griff sich an die Stirn, mit der zweiten Hand aber nach ihr. Es wäre nicht schlimm gewesen, nur sah sie gleichzeitig Tränen aus seinen soeben noch pathetischen Augen fallen. Dies erschreckte sie so sehr, daß sie ihm davonlief.

Sie warf die goldene Pforte hinter sich zu. Als er folgen wollte, hielt sie die Klinke fest, das ganze geweihte Gitter kam ins Wanken. Bevor es umfiel, sprang sie die Stufe hinab, warf dem greisen Verfolger einen Stuhl in den Weg und verschwand hinter einer Portiere.

Sie streckte den Kopf vom roten Plüsch umrahmt hervor; da sah sie ihn gebeugten Hauptes dastehn vor seiner alten Dienerin, die auftrat wie das Gericht. Er machte entschuldigende Bewegungen, als habe er es so nicht gemeint.

Jetzt entdeckte die Person den Kopf im Plüsch, die Besucherin mußte hervortreten. Sie versuchte zu lachen, aber im Grunde standen beide, sie und der Alte, schuldbewußt. Die treue Magd sprach:

»Das nennen Sie, ihn ruhig sitzen lassen?«

Hierauf brachte sie ihn hinter sein goldenes Gitter zurück, setzte ihn hin und wickelte ihn ein.

»Sie würden sich wundern, was sonst vielleicht passiert«, sagte sie mürrisch, aber man ahnte ihre Teilnahme.

»Wir wollen artig sein«, versprachen denn auch beide. Zögernd wurden sie allein gelassen.

 

Sie saß, wie anfangs, außerhalb des Heiligtums auf dem braunen Polstersessel mit Fransen.

»Ich war doch wegen wirklich ernster Dinge gekommen. Schreiben Sie mir eine Eugénie, die ich brauchen kann, und keine Verse!«

Seinem Widerspruch kam sie zuvor.

»Ich schenke Ihnen etwas dafür.«

»Was können Sie mir schenken, Kind? Und warum ist dies alles Ihnen wichtig?« fragte er matt, denn sein kranker Leib mahnte ihn an die Vergänglichkeit.

»Jetzt sollten Sie mich meinem Genius überlassen.«

»Schlafen Sie nur!« sagte sie gerührt. »Träumen Sie, daß Sie reich wären. Sie möchten doch reich sein, oder nicht? Haben doch Pidohnsche Aktien, wie jeder sie hat, oder nicht? Wühlen in Gedanken schon in all dem Geld, wie jeder darin wühlt, seien Sie nicht böse ... Denken Sie einmal nach«, sagte sie, »was Sie wählen würden: keine Verse mehr oder kein Geld mehr.«

Er rief:

»Tausendmal lieber kein Geld mehr! Und wie stehn die Aktien?« fragte er in einem.

»Das weiß ich nicht, aber ich sehe Sie Ihr Haus verkaufen. Auch das goldene Gitter, es ist schrecklich. Wie konnten Sie seine Aktien kaufen, da Sie sein Gesicht kennen?«

»Was geht mich sein Gesicht an.«

»Sie nannten es das Gesicht des Unglücks. Jetzt erkennen Sie es so wenig mehr wie alle anderen. Die Lust nach seinem gezauberten Geld hat euch alle blind gemacht. Nur ich bin noch da.«

»Was wissen Sie?«

»Ach, schlafen Sie nur!«

»Mir ist wahrhaftig die Lust dazu vergangen. Wer sind Sie? Frau Konsul West? Eine Teufelin? Sie haben verschiedene Gestalten und hier kündet eine furchtbare sich an.«

»So lernen Sie daraus für Ihre Eugénie! Ach! Ich bin nicht furchtbar. Er ist es.«

»Pidohn? Sie scheinen ihn zu kennen. Man hört, es sei nicht leicht.«

»Ich bin verloren«, sagte sie plötzlich in einem Ton, als sei höchstens ihr Handschuh verschwunden; aber das Grauen erfüllte ihre Augen ganz.

Sie verließ ihren Platz. In der Pause des Schweigens drückte sie zuerst die eine ihrer geschlossenen Hände an den Mundwinkel, dann auch die andere, – denn ihr fiel immer mehr Grauen ein.

Wie es für sie stand, ward völlig gegenwärtig. Über sie kam, was sie getan hatte, noch tun mußte, noch gewillt war zu tun; wohin sie drängte, wohin ihre Ängste sie trugen; wie sehr sie allein war, nur mit einer schwachen, gekrampften Faust am Mantel dessen, der sie im Flug durch schwarze Lüfte entführte ... Sonst war dies nicht immer wirklich, denn sie fühlte es nicht. Sie fühlte nicht alles auf einmal, nicht alles ganz. Jetzt war es da, und sie brach nieder.

Sie schrie zuerst auf, der Alte auf seinem Stuhl erschrak. Jetzt drehte sie sich langsam mit unsicheren Füßen einmal um sich selbst. Jetzt fiel sie, er zweifelte, ob sie sich vielmehr vor jemand hinwarf. Auf demselben braunen Sesselchen, das sie verlassen hatte, mußte mittlerweile etwas Unsichtbares sitzen, denn dorthin rutschte sie. Rutschte und tastete flehend dem Wesen entgegen.

Es mußte sie entsetzlich betrachten, denn sie hielt an, wandte den Kopf weg – ging aber dann doch weiter auf ihren Knien.

Endlich war sie angelangt, ihre erhobenen Hände sanken. Der Alte hörte sie aufschlagen, wie auf ein Paar Schenkel. Er riß die Augen auf. Rechtzeitig merkte er, daß nicht viel mehr fehlte, und auch er hätte die Schenkel gesehn. So gelang es ihm, sich dagegen zu schützen. Diese Dame war sichtlich befangen in [einem] Kreis unbeherrschter Vorstellungen, die ausarten konnten bis zu Gesichten.

›Wir haben keine Gesichte‹, sagte sich der Alte mit stiller Genugtuung. ›Dahin kommt es mit uns nicht.‹

Diese gesicherte Überlegenheit befähigte ihn sogar zu der Entdeckung, daß die Dame in engen, ja, verbotenen Beziehungen zu jenem Pidohn stehen müsse. Er selbst hatte recht gehabt, als er sagte, Haus West sei angefault; mehr Recht, als er damals wußte und wollte. Dort auf den Knien lag eine schuldige Frau und erlitt die Strafe ihrer Nerven, die Strafe, die Gott-Natur ihnen auflegt.

Hier erhob ihr unverständliches Schluchzen sich zu herrlicher Wildheit, er unterschied die Worte.

»Mit dir in das Elend und in den Sturm von Suturp. Untergehn mit dir!«

Er lauschte und war befriedigt. Dies schienen ihm Töne, die sie für seine Szene, die letzte Szene seiner Eugénie, eigens erfand. Er dachte: ›Ich lasse sie gewähren, sie vergilt mir nur, was ich zuerst ihr eingegeben hatte. Ich sehe, daß etwas aus ihr zu machen ist.‹

Sie ward ruhiger. Dann stand sie auf, als wäre nichts geschehen.

»Haben Sie meine Handschuhe nicht gesehn?« fragte sie zerstreut.

»Sie wollen schon gehn? Ich danke Ihnen übrigens für den guten Rat. Jetzt bin ich überzeugt, daß ich meine Papiere verkaufen muß. Nur frage ich mich, warum Ihr Gatte diesen Geschäften noch immer so nahe steht. Ihn müßten Sie doch zuerst warnen.«

»Ihn warnen?« wiederholte sie, noch abwesend. »Wozu? Ich störe ihn lieber nicht. Was ich durchmache, will auch niemand wissen. Wenn ich nur meine Handschuhe fände! Sagten Sie etwas?«

»Ja. Wann probieren wir? Die Eugénie ist morgen fertig. Beruhigen Sie sich, Ihre letzte Szene wird unbedingt in Prosa sein.«

»Das ist die Hauptsache.«

Nochmals, jetzt aber auf seinen Wink, durchschritt sie die goldene Pforte. Er schob ihr einladend den Haufen beschriebener Blätter hin. Sie stützte den Arm leicht, leicht darauf und neigte ihm die Stirn zu, er küßte sie.

»Das war ein Dichterkuß«, sagte er, getragen wie sonst, aber vielleicht zum erstenmal im Laufe seines Lebens und aller seiner Sängerfahrten mit einem Anflug von Spott.

Der Abgehenden rief er nach:

»Morgen nachmittag um halb drei haben wir in Ihrem Garten die erste Probe. Ich bringe die ausgeschriebenen Rollen mit. Damen: Sie als Eugénie und Ihre Kusine, die Ihre Hofdame spielt. Herren: von Kühn, Konsul West, von Kessel, Pidohn.«

Er kannte noch alle Namen seiner Darsteller, sogar die beiden Leutnants! Herrisch rief er:

»Ich rechne fest auf das pünktliche Erscheinen aller!«


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