Eugenie Marlitt
Reichsgräfin Gisela
Eugenie Marlitt

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27

Welch eine unerwartete Wendung der Dinge! Der verfemte Portugiese war der Löwe des Festabends geworden. Freilich stand er auf einem Boden, der auf und ab schwankte wie die Schiffsplanke, und die aufgescheuchten Wespen summten nur weniger laut und hörbar um sein Haupt. Das wußte niemand besser als die schöne Hofdame. Sie warf ihm einen langen, bedeutungsvollen Blick zu. »Lasse dich nicht beirren!« warnten die dunklen Augen.

Gisela, die bisher schweigend neben dem Fürsten gestanden und nicht ein einziges Mal gewagt hatte, den Portugiesen anzusehen, während er sprach, fing diesen Blick auf – er durchfuhr ihr Herz wie ein Dolchstoß... Sie wollte ja nie heftig werden; aber wie schoß ihr jetzt das empörte Blut nach den Schläfen! Wie in der Kindheit, da sie selbst ohne weiteres ihrer Abneigung Ausdruck gegeben hatte, hob sie auch jetzt die Hand, um das Mädchen dort fortzustoßen. – Worte der tiefsten Erbitterung drängten sich auf ihre Lippen... Wie töricht!... Was gab ihr denn das Recht, sich zwischen diese beiden Menschen zu drängen?... Sah er nicht selbst in diesem Moment hinüber nach der reizenden Zigeunerin und erwiderte den langen Blick so ausdrucksvoll, daß das liebliche Gesicht bis unter die dicken, braunen Locken errötete?... Die zwei waren wohl längst einig!...

Wie konnte sie es überhaupt wagen, sich neben jenes Mädchen zu stellen? An dem Namen der Hofdame haftete kein schlimmer Leumund, sie war sehr schön, galt für geistreich und handhabte die gesellschaftlichen Formen mit unvergleichlicher Grazie... Pfui, wie häßlich!... Sie mit dem bleichen Gesicht, mit der tiefen Unwissenheit hinter der Stirn und dem ungelenken Benehmen, sie empfand Neid, blassen Neid gegen jene schöne, gefeierte Rose!...

Das unschuldige Herz, das ja bis dahin nie geliebt, hatte keine andere Erklärung für das heiße Gefühl der Eifersucht.

Sie wandte die Augen ab von dem schreiend roten Käppchen mit den Perlenbehängen, das sich so anmutig hin und her bewegte, und sah über das Lichtmeer hinweg in den dunklen Weg hinein, der nach Greinsfeld führte. Eine tiefe Sehnsucht nach dem finsteren, schweigenden Wald erfaßte sie... Fort, fort, alle diese Larven im Rücken lassen und die unausgesprochenen Qualen, die ihr in Kopf und Herzen wühlten, in der Dunkelheit verbergen!... Eilige Flucht aus dieser sogenannten Welt, in die sie nur geblickt hatte, um sofort von grellen Blitzen getroffen und verwundet zu werden! Tausendmal lieber in finsterer Nacht mit bedrohtem Leben an den schauerlichen Abgründen der Steinbrüche vorüberwandeln, als hier gleichsam an der Martersäule stehen, diese schmetternde, jubelnde Musik hören und die lächelnden Gesichter sehen zu müssen, während in den schmerzenden Augen die mühsam verhaltenen Tränen brannten!...

Sie hatte mit Enthusiasmus den Gedanken ergriffen, die Menschen lieben zu wollen – wie schwer war es auszuführen! Konnte sie diese eitle, gleisnerische Menge lieben, die, Falschheit im Herzen und auf den Lippen, ihr reines Wollen unmöglich verstand?...

In den Steinbrüchen war es dunkel und todeseinsam, nicht einmal die kleinen Vogelaugen blickten tröstlich auf die heimwärts Fliehende, sie schliefen wohlgeborgen in den Nestern und Felsennarben. Drunten lagen die armen Blumenleichen, die er mit unbarmherziger Hand von sich geschleudert hatte, und am Wegrand zitterten die elastischen Nesselzweige, die ihr Kleid streifte – diese einzige Bewegung hauchte Leben in die Einöde... Und der Fuß des jungen Mädchens schritt wieder über die Stelle hinweg, wo es eine so schmerzliche Demütigung erlitten hatte. Der Weg war schrecklich, aber er führte ja in das Heim zurück, dort konnte sie die Türen verschließen und sich für immer verbergen vor Menschenaugen und Menschenstimmen...

Fort! Fort!

Quer über den Festplatz konnte sie freilich nicht gehen; sie mußte im Waldesdunkel die Wiese umkreisen, wenn sie den gegenüberliegenden Greinsfelder Weg erreichen wollte. Langsam und scheu wandte sie sich um und forschte im Dickicht nach einer Stelle, wo sie unbemerkt entschlüpfen konnte.

Da tauchte plötzlich ein Gesicht vor ihr auf, ein Gesicht mit harten, dunklen Zügen, das sie kannte und fürchtete – es war der alte, strenge Mann aus dem Waldhause. Er trug einen kleinen Koffer, den er auf die nächste Bank stellte; sein finsterer Blick streifte an der jungen Dame vorüber und heftete sich sehr beredt auf den Portugiesen, vor dem bereits der zurückgekehrte Lakai stand und mit einer entsprechenden Handbewegung die Anwesenheit des alten Soldaten meldete.

»Ah, die Brillanten!« scholl es von allen Seiten.

Sofort bildete sich ein dichter Kreis um den alten Soldaten und seine kostbare Bürde... Für diesen Augenblick war Giselas Flucht vereitelt. Der Fürst stand neben ihr, und die Gräfin Schliersen ergriff schmeichelnd ihre Hand und zog sie dicht an sich heran.

Oliveira schloß den Koffer auf. Der Inhalt war freilich angetan, Frauenherzen zu berauschen; und der stille Gedanke aller, der Brasilianer wolle mit seinen Schätzen prunken, wurde zur Gewißheit... Wer aber Gelegenheit hatte, in sein gesenktes Gesicht zu sehen, der wußte sofort, daß der Seele dieses Mannes augenblicklich nichts ferner lag als die Eitelkeit – ein so furchtbarer Ernst, eine so finstere Entschlossenheit lag auf der düstergefalteten Stirn.

Er nahm mit raschen Händen ein schwarzes, mit Juwelen beladenes Samtpolster um das andere aus dem Koffer und legte es achtlos auf die Seite. Neben ihm stand die Baronin Fleury mit halbgeöffneten Lippen und vorgebeugtem Oberkörper. Allmählich begann ein leiser Triumph in ihren Augen zu funkeln. Sie sah allerdings glitzernde Wunderdinge aus dem Koffer emporsteigen, die ihr unerstättliches Herz klopfen machten, allein es waren lauter antike Schmuckstücke, die »der Sammler« da angehäuft hatte – nicht ein einziges erinnerte an ihren »hübschen Gedanken«... Hatte sich der Portugiese hinsichtlich des »Corpus delicti« doch getäuscht?

Da hob er, bedeutend langsamer als zuvor, ein großes Etui hervor und schlug fast zögernd den Deckel zurück.

Ein Ausruf der Überraschung ertönte von allen Lippen, und die schöne Exzellenz wich bestürzt zurück.

Bis auf das kleinste in ihren Locken glitzernde Staubfädchen getreu kopiert, lag der Fuchsienkranz auf dem Samtpolster – aber er hatte einen Vorzug: die »gräflich Völdernschen Familienbrillanten« erloschen neben dieser funkelnden Steinpracht.

Und der Kranz lag nicht allein – ihn umkreiste dasselbe Halsband, das dort auf dem weißen, stürmisch atmenden Busen Titanias blitzte, und die Agraffe, die den silberdurchwobenen Schleier auf ihrer Schulter festhielt, leuchtete auch hier mit ihren großen bläulichen Brillanten.

»Welch ein schändlicher Betrug!« stieß die junge Frau zornbebend hervor. »Siehst du, Fleury« – wandte sie sich an ihren Gemahl; er befand sich nicht mehr an ihrer Seite – Seine Exzellenz stand an einem entfernten Büfett und stürzte ein Glas Wein hinunter. Er wurde alt und stumpf, der Mann, er zeigte für nichts mehr das wahre, feurige Interesse wie ehedem – war es ihm doch sogar unangenehm geworden, seine schöne Frau diamantengeschmückt zu sehen... Sie stand allein unter all den schadenfrohen Gesichtern. Die ganze furienhafte Leidenschaft dieser Frauenseele, die bis dahin nur Seine Exzellenz und die engen Wände Ihres Zimmers kennen gelernt hatten, war nahe daran, angesichts des Hofes hervorzubrechen.

»Fleury, Fleury!« rief sie mit unbeschreiblichem Ärger hinüber. »Ich bitte dich, komme hierher und überzeuge dich, wie recht ich hatte, gegen das völlig überflüssige Putzen und Reinigen der Steine in Paris zu protestieren!... Du hast es durchgesetzt, und diese treulosen Franzosen haben die Gelegenheit benutzt, die köstlichen Formen zu stehlen... Oh, hätte ich sie doch nicht aus den Händen gegeben!«

Jedes dieser schneidend scharf betonten Worte sollte den Besitzer der Brillanten beleidigen. War er in der Tat vollkommen unempfindlich gegen die anmaßende Art und Weise der gereizten Dame? Kein Zug seines Gesichts bewegte sich, und auf die Frage des Fürsten, wo er diesen Schmuck erworben habe, versetzte er lakonisch: »In Paris.«

Der Minister kam langsam über den Platz. Welch ein Gegensatz zwischen diesem steinernen Gesicht und den fieberhaft erregten Zügen der schönen Titania!... Es gehörte ein sehr scharfer Blick dazu, das leichte nervöse Zucken an den schlaffen Augenlidern zu entdecken...

»Ich kann dir nicht helfen, liebes Kind, das Unglück ist nun einmal geschehen, und du wirst dich trösten müssen«, sagte er in seiner ganzen kaltlächelnden Ruhe und Diplomatengleichgültigkeit. Er warf auch nicht einen Blick auf das Etui, das die Gräfin Schliersen in den Händen hielt, während der Fürst die Pracht der Steine bewunderte. »Übrigens können dir diese Nebenbuhler weiter nicht gefährlich werden«, fuhr er mit einem leichten Achselzucken fort, »Herr von Oliveira verwahrt sie, wie es scheint, als Kuriosum, und da er sie selbst nicht tragen kann, so werden sie schwerlich deinen Weg wieder kreuzen.«

Sie wandte ihm zornig den Rücken. So wie sie ihn kannte, war er trotz seiner ausgezeichneten Maske in diesem Augenblick furchtbar erregt. Weshalb zeigte er seine gerechte Empörung nicht und behandelte im Gegenteil den abscheulichen Betrug wie eine Kinderei?...

Bei den letzten Worten Seiner Exzellenz sahen sämtliche junge Damen sofort nach dem Portugiesen, der, die lodernden Augen starr und unverwandt auf das Gesicht des Sprechenden gerichtet, wie eine erzene Bildsäule dastand... Was fiel dem Minister ein, zu behaupten, weil dieser majestätische Fremde die Steine nicht selbst tragen konnte, sie würden nun auch für immer in der Gefangenschaft des Kastens bleiben müssen? War es nicht ein naheliegender Gedanke, daß er über kurz oder lang ein beglückendes junges Wesen an seine Seite ziehen und als »sein besseres Ich« mit all diesen wundervollen Schätzen überschütten würde?...

Vielleicht kreiste diese Betrachtung auch hinter der Stirn der Gräfin Schliersen. Sie nahm lächelnd den Kranz vom Polster, und ehe Gisela sich dessen versah, fühlte sie die schweren, kalten Steine auf der Stirn... Sie ahnte nicht, daß ihr in diesem Augenblick der Preis der Schönheit und des höchsten Liebreizes von allen stillschweigend zuerkannt wurde; sie sah auch nicht, wie ein unbezähmbarer Ausbruch leidenschaftlicher Zärtlichkeit sekundenlang die düsteren Züge Oliveiras durchstrahlte – unfern stand die schöne Hofdame, sie schüttelte unwillig die braunen Locken, der tiefe Verdruß spiegelte sich in ihren Augen und schmollte in den herabgesenkten Mundwinkeln; sie hatte bereits Rechte an das Eigentum des Mannes dort, aber sie waren noch nicht öffentlich anerkannt; und nun mußte sie es stillschweigend leiden, daß eine fremde Stirn mit dem Diadem geschmückt wurde! Bei diesem Gedanken griff Gisela hastig nach den tödlich-kalten Steinen und legte sie mit zitternden Händen auf das Polster zurück – in Gesicht und Gebärden lag der Ausdruck eines heftigen, energischen Widerspruches.

»Um Gott, liebes Kind!« – rief die Gräfin Schliersen erschrocken und ergriff besorgt ihre Hand.

»Da siehst du ja diese, ›ungesunde Kraft‹, Leontine!« rief die Baronin Fleury triumphierend – sie vergaß über dieser Genugtuung selbst ihr eigenes Herzeleid. »Gisela hat eine Abneigung gegen die Steine, und du wirst dich eben überzeugt haben, daß schon allein eine solche Berührung genügt, ihre Nervosität bis zu einem beängstigenden Grade zu steigern.«

Die Gräfin Schliersen reichte dem Portugiesen schweigend mit fest zusammengekniffenen Lippen das Etui hin. Der Fürst aber, der augenscheinlich wünschte, die Diamantenstreitfrage beigelegt zu sehen, zeigte ein lebhaftes Interesse für die antiken Schmuckgegenstände; sie gingen von Hand zu Hand, wobei Oliveira kurz erklärte, wie er sie aufgefunden hatte und woher sie stammten, dann wanderten sie zurück in den Koffer.

»Schöne Elfenkönigin, Sie haben nun erreicht, was Sie so lebhaft wünschten«, sagte der Fürst zu der sich tief verbeugenden Baronin Fleury, während Oliveira den Koffer schloß. Er sprach halb scherzend, zum Teil aber auch mit ziemlich ernstem Nachdruck: »Ich will hoffen, daß das Ergebnis nicht nachteilig auf die Laune gewirkt hat, meine Gnädigste... Und nun wollen wir sehen, was die Büfette enthalten«, wandte er sich an seine Gäste. »Dann mag Herr von Oliveira seine interessante brasilianische Geschichte erzählen, vorausgesetzt, daß uns die heimtückischen Wolken da oben nicht vorher die Fackeln auslöschen.«

Das Gewitter war allerdings im Anzuge. Auf dem Wasserspiegel des Sees, der bis dahin glatt und unbewegt jedes Lichtlein widergestrahlt hatte, hüpften jetzt Feuerfunken – ein schwaches,. kaum hörbares Säuseln zog durch die Waldwipfel, und das Fackellicht, das kerzengerade in die Höhe gestiegen war, flackerte beunruhigt.

Alle diese drohenden Anzeichen wurden vergessen über dem verlockenden Knall der Champagnerpfropfen, dem Gläserklirren und den begeisterten Hochs, die dem Durchlauchtigsten Festgeber gebracht wurden.

Gisela hatte es abgelehnt, dem Fürsten an das Büfett zu folgen. Sie hoffte, jetzt den günstigen Moment zu finden, wo sie entfliehen konnte, aber wie täuschte sie sich! Frau von Herbeck wich und wankte nicht von ihrer Seite... Die kleine, fette Frau war von überströmender Liebenswürdigkeit – sie fühlte sich ja so glücklich! Seine Exzellenz hatte ihr eben zugeflüstert, daß er ihr unbedingt vertraue und morgen früh vor seiner Abreise noch eine »vertrauliche Unterredung« mit ihr wünsche; er hatte es ihr aber auch zur strengen Pflicht gemacht, für den Rest des Festabends wie ein Argus über ihre Schutzbefohlene zu wachen.

Nun hatte sie das junge Mädchen auf eine Bank genötigt, die hart an den Saum des Waldes stieß, und von der aus man den ganzen Festplatz bequem übersehen konnte. Die Gouvernante saß am anderen Ende der Bank neben einer alten Freundin, die sie jahrelang nicht wiedergesehen hatte. Beide Damen ließen sich von einem Lakai Speisen herantragen, und während sie den köstlichen Leckerbissen wacker zusetzten, fanden sie nicht genug Worte für die beispiellose Unverschämtheit des fremden Eindringlings, des Portugiesen. Er war ein Abenteurer, ein Prahler erster Sorte – wer konnte denn wissen, wo er alle diese Kostbarkeiten aufgerafft hatte?... Übrigens ließ es sich Frau von Herbeck nicht nehmen, daß der »ganze Kram« unecht sei, er habe einen zu »unnatürlichen Glanz« gehabt – ein Kind hätte das neben den unvergleichlichen gräflich Völdernschen Familiendiamanten herausfinden müssen. Seine Exzellenz hatte aber auch den Schwindler vortrefflich ablaufen lassen – er hatte ihn und seine Brillantenausstellung nicht eines Blickes gewürdigt.

Gisela legte müde wie ein krankes Kind den Kopf an die Banklehne. Eine rauschende Musik scholl herüber und verschlang die Fortsetzung der geistreichen Unterhaltung... Wie elend und verlassen fühlte sich diese junge, mit sich selbst ringende Seele!... Sie hatte vorhin schweigend die hämische Bemerkung der Stiefmutter hingenommen, sie war des Kampfes müde, und schließlich war es sehr gleichgültig, was die Welt von ihr dachte... Binnen weniger Stunden verschwand sie für immer wieder von diesem heißen Boden und wurde vergessen, vergessen von allen... Sie redete sich in eine dumpfe Resignation und Gleichgültigkeit hinein – bis jetzt waren es noch verunglückte Versuche... Wie ein Magnet zog das rote Käppchen, das dort drüben aus der Menge wie ein neckischer Kobold auf und nieder tauchte, ihren verfinsterten Blick immer wieder auf sich; jedesmal schoß ihr das Blut siedend nach dem Herzen und raubte ihr den Atem, wenn eine hohe Männergestalt sich neben den reizenden braunen Lockenkopf drängte. Sie täuschte sich stets, er war es nicht – und doch, welche Qualen litt sie immer wieder von neuem!

Sie wollte nichts mehr sehen und lehnte den Kopf zurück. Aus dem Dickicht kam ein Zweig herüber und legte seine breiten, kühlen Blätter schmeichelnd auf ihre fiebernde Stirn. Sie schloß die brennenden Augen, aber im jähen Aufschrecken hob sie sofort die Wimpern wieder...

Der Portugiese stand hinter ihr und rief ihren Namen. Sie blieb regungslos, wie versteinert sitzen – es war seine Stimme, allein wie erschütternd verändert klang sie!...

»Gräfin, hören Sie mich?« wiederholte er lauter, während gewaltige Akkorde von drüben her erbrausten.

Sie neigte langsam den Kopf, ohne ihm das Gesicht zuzuwenden.

Der Portugiese trat dicht an die Bank heran und bog sich zu dem jungen Mädchen nieder.

»Sie machen es nicht besser als die Leute da drüben, Gräfin«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Sie lassen sich durch die rauschende Musik betäuben und vergessen, daß der Gewittersturm in seinen Anfängen bereits durch die Wipfel fährt.«... Er hielt inne... »Wollen Sie wirklich abwarten, bis der Regen niederstürzt?« fuhr er dringender fort, nachdem er vergeblich auf einen Laut von ihren Lippen gewartet hatte.

»Ich kann nicht gehen, ohne wenigstens Frau von Herbeck zu benachrichtigen«, entgegnete sie. »Sie würde mich jedenfalls auslachen, wollte ich ihr den Grund angeben. Sie sehen selbst, man glaubt allgemein nicht an einen Ausbruch des Gewitters.«

Sie wandte den Kopf nur ein wenig seitwärts nach ihm hin, ihre Augen blieben gesenkt. Fast ohne es zu wissen, vermied sie jede Bewegung, die die Aufmerksamkeit der lebhaft plaudernden Gouvernante auf sich ziehen konnte – mehr instinktmäßig suchte sie zu verhindern, daß das mißtrauische, gehässige Auge der kleinen, fetten Frau auf den Mann falle, der mit so tiefbeklommener Stimme zu ihr sprach.

Er streckte den Arm aus und deutete hinüber nach dem Fürsten, der in der Nähe des einen Bufetts saß. Der Minister stand vor diesem und hielt ein volles Glas in der Hand. Seine Exzellenz war von einer so auffallend übersprudelnden Lebendigkeit, daß man in diesen Gesten, in dem lächelnden Mienenspiel vergebens nach der Maske des Diplomaten suchte. Er brachte wahrscheinlich einen Toast voll Witz und Laune aus, der nur für das Ohr Seiner Durchlaucht und einiger danebenstehender Kavaliere berechnet war – der kleine, auserwählte Kreis lachte, und unter dem Austausch verständnisvoller Blicke stieß man die Gläser aneinander.

»Sie haben recht, dort will man nicht an das Gewitter glauben, das in den Lüften hängt«, sagte der Portugiese gepreßt; »aber es werden Blitze niederfahren –« Er unterbrach sich und bog sein Gesicht abermals so tief zu der jungen Dame nieder, daß sie seinen Atem leicht an ihren Wangen hinstreifen fühlte. »Gräfin, kehren Sie nach Ihrem stillen Greinsfeld zurück!« flüsterte er weich und bittend. »Ich weiß es, die schweren Wolken da oben haben auch einen Blitz für Sie!«

Das klang dunkel, wie eine Prophezeiung... Welche Widersprüche enthielt das Benehmen des seltsamen Mannes! Er betonte fast bei jedem Begegnen die Feindseligkeit ihr gegenüber, und doch hatte er sie vor dem Sturz in die Steinbrüche bewahrt, und jetzt mochte er sie vor dem Ausbruch des Wetters unter das schützende Dach ihres Heims retten... Und warum gerade sie?... Dort tauchte ja eben das rote Käppchen auf... Oh, der schöne, braune Lockenkopf brauchte nicht so viel Zeit zur Flucht! Das Waldhaus war so nahe, man rettete »sein Kleinod« im Augenblick der Gefahr unter das Dach des eigenen Heims!... Eine unsägliche, nie gefühlte Bitterkeit erfüllte ihr Herz!

»Ich werde es machen wie die anderen und ruhig hier bleiben«, versetzte sie finster, mit fast harter Stimme. »Hat das Wetter da oben wirklich einen Blitz für mich, so habe ich auch den Mut, ihn zu erwarten.«

Sie fühlte, wie die Banklehne unter seiner Hand erzitterte.

»Ich glaubte, ich spräche zu der Dame, die gestern willig an meiner Hand geschritten ist«, sagte er nach einem augenblicklichen Schweigen. Gisela meinte eine tiefe Gereiztheit aus diesen unsicheren Tönen herauszuhören. »An Sie wende ich mich trotz der mir eben widerfahrenen entschiedenen Zurückweisung noch einmal... Gräfin, es ist das letzte Mal, daß ich neben Ihnen stehe. Binnen einer Stunde werden Sie wissen, daß ich ein grausamer Gegner bin –«

»Ich weiß es bereits.«

»Sie wissen es nicht, wenn Sie diese Anklage auch noch so bitter hinwerfen... Ich bin ein schlechter Schauspieler gewesen; ich habe meine Rolle vergriffen, vergessen... Und nun, da die Hand den Dolchstoß ausführen muß, zittert sie... Ich kann nur noch einmal sagen: Fliehen Sie, Gräfin!«

Jetzt wandte sie sich um, und die heißen Augen hefteten sich fest, aber mit herzzerreißendem Blick auf das Gesicht des unerbittlichen Warners.

»Nein, ich gehe nicht!« stieß sie bebend hervor, während es wie ein irres Lächeln um ihren kleinen, fieberisch zuckenden Mund glitt. »Sie haben die Rolle des Verachtenden nicht schneidend genug durchgeführt, sagen Sie, mein Herr!... Ich kann Ihnen aber zu Ihrer Beruhigung versichern, daß diese Verachtung gefühlt worden ist... Ich gehe nicht! Stoßen Sie nur zu!... Ich habe in wenigen Tagen leiden gelernt – ich weiß nur zu gut, was Seelenschmerzen sind!... Sie selbst haben mich bereits an die Dolchstöße gewöhnt! Sie sollen sehen, ich lächle dazu!«

»Gisela!«

Wie ein Aufschrei kam der Name von seinen Lippen. Er ergriff mit beiden Händen das Haar, das golden über ihre Schultern wogte, und preßte mit einer leidenschaftlichen Bewegung sein Gesicht hinein.

Dieser eine Augenblick verwandelte die majestätisch-düstere Erscheinung des Mannes, als brause der prophezeite Gewittersturm droben in den Wipfeln auch bewältigend über sie hin.

»Sie haben mich schwach gesehen, und nun will ich es auch ganz sein«, sagte er, den Kopf langsam hebend, indem das Haar seinen Händen entglitt. »Man sagt, durch die Seele des Ertrinkenden ziehen im letzten Augenblick noch einmal alle Wonnen und Schmerzen seines ganzen Lebens; ich stehe auch vor einem entscheidenden letzten Augenblick, und da mag es noch einmal auftauchen, was die Wonne und Qual meines Lebens ist.«

Er neigte sich wieder tief über das Mädchengesicht, das sich ihm in atemlosem Aufhorchen voll zuwandte – man hätte meinen können, Puls- und Herzschlag stehen still unter dieser regungslosen Spannung der Seele... Oliveiras Blick suchte in unverhohlener Leidenschaft die Augen des jungen Mädchens.

»Und nun sehen Sie mich noch einmal so an wie gestern, da wir neben dem Abgrund standen«, fuhr er fort. »Für lange, namenlose Leiden nur diese eine glückliche Sekunde!... Gräfin, mein Leben im Süden war ein wildbewegtes, ein Leben voller Kämpfe und gefährlicher Abenteuer. Ich suchte im Ringen mit den Elementen und mit den wilden Bestien des Waldes das Aufschreien eines inneren Schmerzes zu ersticken... Ich bin den Tigern und Bären nachgegangen, habe ihnen, mit dem unbezähmbaren Wunsch, sie zu töten, Tag und Nacht aufgelauert. Ich kenne das Behagen der Mordlust einem überlegenen Feinde gegenüber; nie aber habe ich den Mut gehabt, ein Reh niederzuschießen – ich fürchtete die Seele in seinem brechenden Auge!...«

Er schwieg. Ein beglücktes Lächeln spielte um seinen schöngeschwungenen Mund – die zwei Mädchenaugen sahen ja mit dem heißgewünschten Ausdruck hingebender Zärtlichkeit unverwandt zu ihm empor... Ein tiefes Aufatmen hob seine breite Brust, das Lächeln erlosch. Er strich mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen himmlischen, verlockenden Traum wegwischen. Dann fuhr er mit tonloser Stimme fort: »Ich bin berufen, verschwiegene Sünden an das Licht zu ziehen, einen überlegenen Feind, eine Geißel der Menschheit anzugreifen und zu vernichten; aber das Schicksal zeigt auch gebieterisch auf ein armes Reh mit seinen unschuldigen Augen, auf ein liebliches Geschöpf, das meine erste und einzige, meine unsterbliche Liebe ist, und fordert: ›Du sollst es mit eigener Hand verletzen, es soll schmerzlich leiden durch dich!‹ Gisela«, flüsterte er in ausströmender Zärtlichkeit dicht an ihrem Ohr, »ich habe vor dem Waldhause Ihre Beschuldigung des Jähzornes schweigend hingenommen – es war etwas anderes – ich konnte es nicht ertragen, daß die Arme des Knaben mein Heiligtum, die vergötterte Gestalt umschlangen, die ich nie berühren durfte. Ich habe in den Steinbrüchen unter tausend Schmerzen der Entsagung Ihre kleinen Hände weggestoßen, während meine ganze Seele mit verzehrender Sehnsucht danach verlangte, Sie nur ein einziges Mal an mein Herz zu ziehen; ich habe noch vor wenig Augenblicken dort drüben, in Ihrem Anblick verloren, gestanden, von dem berauschenden Gedanken fast überwältigt, Sie in meine Arme nehmen und hinüber in mein einsames Haus retten zu dürfen... Das sind Gedanken und Wünsche, die an Wahnwitz streifen – ihre Vermessenheit wird grausam gestraft. Ich weiß ja nur zu sicher, daß Sie mich binnen einer Stunde von sich stoßen werden, als einen Vandalen, der Ihre Heiligenbilder in den Staub gerissen hat!...«

»Ich werde Sie nie von mir stoßen – das weiß ich. – Soll ich durch Sie leiden, so mag es geschehen... Und wenn die ganze Welt Sie um deswillen mit Steinen bewirft – ich werde nicht einen anklagenden Blick für Sie haben.«

Sie schob sanft lächelnd, während Tränen in ihren Augen funkelten, die kleine Hand durch das Gitter der Banklehne und hielt sie ihm hin – er sah es nicht, er hatte das Gesicht in beiden Händen vergraben. Als sie wieder niedersanken, war sein Gesicht so fahl und blutlos, daß es aus dem dunkeln Gebüsch förmlich gespensterhaft hervorleuchtete; aber es trug auch wieder das frühere feste Gepräge einer finsteren Entschlossenheit.

»Gräfin, seien Sie hart gegen mich!« sagte er ruhiger. »Nicht diese holde Sanftmut – ich kann sie nicht ertragen... Das, was ich unter allen Umständen tun muß, erscheint ihr gegenüber nur um so teuflischer... Ich habe Sie vorhin vor einem unvermeidlichen Blitz gewarnt – ich kann ihn nicht von Ihrem Haupte abwenden, aber ich will auch nicht, daß er Sie unvorbereitet, unter allen jenen Gesichtern dort trifft... Kehren Sie nach Greinsfeld zurück... Gehen Sie und – vergessen Sie mich, der ich verurteilt war, Ihren Weg auf eine so furchtbare Weise zu kreuzen... und nun leben Sie wohl – für alle Zeiten!«

Sie sprang auf.

»Gehen Sie nicht!« rief sie. »Ich kann nicht hart sein... Ich will mit Ihnen sterben, wenn es sein muß!...«

Bei diesen herzerschütternden Tönen wandte er sich jäh um. Mit einer fast wilden Gebärde streckte er die Arme nach ihr aus, als wolle er sie in der Tat erfassen und in sein einsames Haus retten; aber auch ebenso schnell ließ er die Arme wieder sinken. Gleich darauf war er im Gebüsch verschwunden.

Dagegen fühlte sich die junge Dame plötzlich von rückwärts ergriffen, und zwei Arme preßten sich wie ein Schraubstock um ihre zarte Taille... Frau von Herbeck war durch die heftige Bewegung ihrer Schutzbefohlenen aus ihrem immer interessanter und lauter werdenden Zwiegespräch aufgerüttelt worden.

»Um Gottes willen, Gräfin, haben Sie eine Vision?... Was ist Ihnen?« rief sie mit allen Zeichen heftiger Erregung in den Zügen.

Auch ihre Freundin war herzugesprungen und nahm besorgt die Hände des jungen Mädchens zwischen die ihren.

»Nichts – lassen Sie mich!« stieß Gisela heraus und wand sich los.

Frau von Herbecks zweiter erschrockener Blick galt den Exzellenzen. Sie atmete erleichtert auf – dort hatte niemand das auffallende Gebaren der jungen Gräfin, das ihr selbst ein unlösliches Rätsel blieb, bemerkt. Man amüsierte sich vortrefflich; der Champagner war ausgezeichnet und die Laune des durchlauchtigsten Festgebers eine durchaus rosenfarbene.


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