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Es war ein Frühlingsabend von bezaubernder Schönheit; der Himmel klar, voll leuchtender Welten; der Äther ein kristallenes Gefäß, gefüllt mit dem Dufte erster Blüten; der Wald ein dunkles Paradies des Schlummers und der Träume, ein heiliger Hain. Unter dem frischen Laube hervor zirpten noch die letzten Vogelstimmen, lockten und begrüßten sich, selig, allein zu sein, weit ab von dem Getöse der Menschen, das in der Ferne langsam erstarb.
Aber vereinzelt trieb selbst hier, um die Stunde des Friedens, dieser und jener sein Wesen aus verschiedenen Gründen.
Frau Beate, eine sehr hübsche Witwe, liebte die Natur und begab sich deshalb vor ihrem einsamen Abendbrot rasch noch auf einen Spaziergang in den Waldpark, um den herrlichen Abend recht auszugenießen. Ungeniert, im hellen Spitzenkleid, mit ihrem Gartenhut und einem dünnen Spazierstock in der Hand, sprang sie aus ihrer Villa über die Straße und betrat, leise vor sich hinträllernd, einen der Promenadenwege. Nachdem sie etliche Minuten stillvergnügt dahingewandelt und bereits dem Innern des Waldes mit seinem Dickicht nahe gekommen war, begegnete ihr ein Gendarm.
Frau Beate und der Gendarm musterten sich schon aus der Ferne mit ironischen Blicken. Sie kannten einander nicht, gingen sich auch gar nichts an, aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb waren sie sich von vornherein sehr unsympathisch. Frau Beate hatte keinen anderen Eindruck, als daß dieses plumpe, in Kommißuniform gepreßte Wesen überaus häßlich sei; sie ärgerte sich, daß dies nun ebenfalls zum männlichen Geschlecht gehöre, ganz unberechtigterweise eine würdevolle Haltung zur Schau trage, sich sogar erlauben dürfe, durch seine Anwesenheit solch holde Landschaft zu verunzieren und somit ihren Naturgenuß zu stören. Der Gendarm dagegen legte sein breites Gesicht, je näher er kam, in um so dienstlichere Falten; denn offenbar sah er vor sich eine jüngere Frauensperson, die auffallend gekleidet zu später Stunde allein im Waldpark streifte. Um den geschwollenen Säbelmann ein wenig zu reizen, blickte Frau Beate mit herausforderndem Spott, so recht keck mitten in das grimmige Gesetzesauge, hierdurch seiner Sache noch sicherer gemacht, beschloß der Gendarm, bei ihrer Rückkehr sie anzuhalten und um ihre Papiere zu befragen, vorläufig ließ er sie vorüberziehen.
Nicht lange danach, so begegnete Frau Beate abermals einem Menschen. Aus dem hereinbrechenden Dunkel löste sich die bedrohliche Erscheinung eines zerlumpten Kerls, der einen mächtigen Knotenstock trug und, als er der hübschen Spaziergängerin ansichtig wurde, mitten auf dem Wege stehenblieb, um mit verdächtigem Grinsen sie willkommen zu heißen. Frau Beate fand den Strolch im Grunde angenehmer als den Gendarmen; zum mindesten sah er malerisch aus und benahm sich ohne Gespreiztheit, echt. Dafür jedoch war mit ihm viel weniger zu spaßen, hatte er es nur auf ihre Barschaft abgesehen oder – neigte er zu Zärtlichkeiten? Gleichviel, leichten Kaufes sollte er mit ihr nicht fertig werden; wie eine Löwin wollte sie sich wehren. Immerhin hielt sie es für geraten, umzukehren und langsam dem Gendarmen nachzuschlendern. Auch der Strolch setzte sich wieder in Bewegung und blieb ihr auf den Fersen.
Plötzlich vernahm sie einen merkwürdig klagenden Ton, ganz nahe aus den Büschen, die sie mit dem Ärmel streifte. Unwillkürlich blieb sie stehen und horchte. Da wiederholte es sich, ein qualvolles Wimmern, ausklingend in eine schier endlose Reihe schrecklicher, herzzerreißender Seufzer.
Noch stand sie, zweifelnd, was das zu bedeuten habe, als mitten durch den balsamischen Duft von Harz und Farren eine abscheuliche Fuselwolke an ihr vorüberzog: dicht neben sie war der Strolch getreten. In der Absicht, ein Gespräch zu beginnen, knurrte er, räusperte sich und sagte endlich mit schmeichelndem Tonfall: »Geln S', Frailein?«
»Sie! hören Sie doch!« antwortete Frau Beate, ganz vertieft in die immer schwächer werdenden Klagelaute. »Still! hören Sie nur! Das muß ein Mensch sein, hier ist ein Unglück geschehen.«
Auf einmal war ihr alle Furcht vor ihm vergangen; selbst der Fuselgestank belästigte sie kaum.
Verblüfft starrte der Strolch sie an. Dann lauschte auch er: »A Mensch? Dös war scho megli'. Gehn S', Frailein, schaun ma nach!«
Und ohne Zaudern brach er durch das Gestrüpp sich Bahn; ihm nach schlüpfte Frau Beate, unter den Zweigen hinweg, die der Strolch dienstfertig zurückbog.
Diese kurze Beratung und den gemeinsamen Abmarsch hatte aus der Ferne der Gendarm mit angesehen. Was war natürlicher, als daß er spornstreichs, in höchster amtlicher Eile hinterherlief? Er kam gerade noch zurecht, um gemeinsam mit dem verdächtigen Paar eine enge Lichtung zu betreten, bei deren Anblick sich die ganze Sachlage sogleich von Grund aus veränderte.
Auf dem feuchten Rasen lag hingestreckt ein elendes Kind, ein armes halbwüchsiges Mädel, mit dem Tode ringend, in seinem Blute. Auf dem Rücken lag es, ganz still, die Augen geschlossen, als hätte es den Schlaf erwarten wollen. Der linke Ärmel war sorgfältig aufgestreift; dicht über dem Gelenk der kleinen, mageren Hand aber befand sich ein tiefer Schnitt, dem unaufhaltsam das helle, dünne Blut entströmte. Die andere Hand hielt krampfhaft ein schartiges, blutgetränktes Messerchen.
Frau Beate, der Strolch und der Gendarm knieten vor dem unglückseligen Wesen nieder und schickten sich an zu eiliger Hilfe.
Von ihrem Kleide trennte Frau Beate eine Schnur und unterband damit den verletzten Arm, von ihrem Unterrock riß sie einen Streifen feiner Leinwand, die gefährliche Wunde zu bedecken. Der Strolch, anfangs ratlos, zog unter einem verständigen Einfall seine Flasche hervor und flößte mit Erlaubnis des Gendarmen der Verschmachtenden etwas Kornschnaps ein, wodurch sich ihre Kräfte sichtlich hoben; das beängstigende Röcheln ging in ruhigere Atemzüge über.
Inzwischen untersuchte der Gendarm den Fall kriminaliter, fand unter den Kleidern einen abgezehrten, mit Schwielen bedeckten Körper, sichere Kennzeichen von bitterem Hunger und grausamen Schlägen, auf der Brust ein Glasherz, das Bildnis eines jungen Herrn enthaltend, endlich einen Zettel mit zwei verwischten Zeilen: »Seids mir nicht bös! Unter den Menschen is nimmer auszuhalten, weils wie die wilden Bestien sind.«
»Sie hat es selbst getan,« bestätigte der Gendarm und wiegte schwerfällig seinen grauen Schädel. »Da, lesen Sie nur, gnädige Frau!« –
Ja, jetzt redete er sie mit »gnädige Frau« an, die verdächtige Person, und wußte selber nicht, warum. Dem Strolch aber klopfte er vertraulich auf die Schulter: »Alter Freund, kennst mich noch? Jetzt darfst zugreifen beim Holzfrevel! vorwärts!«
Und beide Männer brachen Äste und Zweige ab zu einer Bahre, hoben das Kind daraus und trugen es, geführt von Frau Beate, nach deren nahe gelegenem Hause.
Sorgsam, ihre Last nicht zu erschüttern, hielten sie gleichen Schritt, voran der Gendarm, hinten der Strolch, daneben her die junge Witwe, die mit nassem Tuch die heiße Stirn der Bewußtlosen emsig kühlte.
Wie sich die breite Rückseite des Gendarmen so behäbig hin und her wiegte, bildete Frau Beate sich ein, daß er gewiß ein geplagter Familienvater wäre, der, wenn er auch nicht zur Verschönerung der Landschaft diene, doch wohl am Feierabend, unter seinen Kindern sich ganz stilgerecht ausnehmen könne, unmilitärisch und voll gutmütiger Späße. Und hinter ihr der Strolch – was hieß das überhaupt: ein »Strolch«? Ein schlecht gekleidetes Individuum mit schlimmen Absichten. – Aber vielleicht hatte er nur betteln wollen und nicht einmal das ... Die feine Dame nur ein bißchen erschrecken oder ärgern, gerade wie sie es selbst zuvor mit dem Gendarmen im Sinne gehabt ... Nun schleppte er doch so brav mit an der Bahre, und auf seinem verquollenen Säufergesicht lag wahrhaftig ein Strahl von ungeheucheltem Mitleid.
Also zogen sie einträchtig ihre Straße. Niemand begegnete ihnen als ein Köter, der sie wütend anbellte, und ein altes Weib, das bei dem seltsamen Anblick sich bekreuzigte.
Frau Beate ließ die Bahre durch ihren Garten tragen, durch den Hausflur bis in ihr Wohnzimmer, und während sie einen Dienstboten nach dem Arzt schickte, bereiteten die beiden Männer dem armen Mädchen auf dem Divan ein weiches Bett. Da lag es nun noch immer regungslos in tiefer Ohnmacht.
Auf dem Tische stand das Abendessen für Frau Beate hergerichtet, Brot und Fleisch und guter Wein. Der Strolch betrachtete es mit kaum verhaltener Gier. Doch fand er selbst, daß es nun an der Zeit sei, sich zu empfehlen, und auch der Gendarm wollte sogleich wieder aufbrechen, seine dienstliche Meldung zu machen.
»Nein!« widersprach Frau Beate. »Ausruhen müssen Sie sich schon einen Augenblick in meinem Hause! Zwei so seltene Gäste hat man nicht alle Tage beisammen.«
Daher setzten sie sich denn selbdritt zu einem Imbiß nieder.
»Nun müssen wir auf die Genesung unserer Kleinen trinken!« schlug die Wirtin vor.
Und als die drei Gläser zusammenklangen, öffnete die, der es galt, ihre müden Augen.
Ganz verwirrt blickte sie um sich und sah mit grenzenlosem Staunen auf die drei wunderlichen Gestalten, die an ihrem Lager sich verbrüderten. Dann schien ihr langsam aufzudämmern, was da vorgegangen war; ihr liebes Gesichtel wurde nachdenklich – wandte sich dankbar von dem einen zum anderen – verklärte sich – und mußte am Ende lächeln ...
Da reichte ihr der Strolch den ersten Bissen.