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Der Kreisel

Aus dem Hause dieses Schreiners – oder Zimmermanns oder was er sonst für ein geräuschvolles Gewerbe treiben mochte – erscholl das Hobeln und Hämmern immer schon am frühen Morgen. Nicht minder emsig aber schlug er zu jeder Tageszeit auf seine kleine Tochter los. Die Mutter pflegte ihm zu helfen, wobei sie Schimpfworte und Flüche nicht sparte, wenn dann die beiden grobknochigen Unholde sich schäumend vor Wut auf das zarte blondlockige Geschöpfchen warfen, um es mit Latten und Besen, am ausgiebigsten aber mit ihren schrecklichen Fäusten zu bearbeiten, schwoll das Geschrei und Gepolter zu einem wahren Höllenspektakel an.

Die Wohnung meiner Eltern hatte den Vorzug, der des Schreiners gegenüber zu liegen. Die Kammer, wo ich meine Schularbeiten erledigte, ging auf den schmutzigen Hof hinaus, der oft genug der öffentliche Schauplatz jener scheußlichen Mißhandlungen war. Die kleine Ursula kannte ich oberflächlich, eigentlich nur vom Sehen. Das Grauen vor der Lieblosigkeit, die sie umgab, mitfühlende Scham vor ihrem kindlichen Elend, hielt mich davon zurück, sie anzusprechen. Sobald ich von meinem Pulte aus, das am Fenster stand, eine der Prügelszenen sich entwickeln sah – wobei die Kleine mit aufgehobenen Händchen und tränenüberströmtem Antlitz, doch ganz lautlos das Strafgericht über sich ergehen ließ –, flüchtete ich mit zugedrückten Augen und verstopften Ohren in den äußersten Winkel und wartete in ohnmächtigem Zorn ab, bis es draußen wieder still geworden. Lugte ich dann ängstlich durch eine Vorhangspalte hinab, so konnte ich des öfteren bemerken, wie Ursula, als wäre nichts geschehen, aus den Steinplatten zwischen Haus und Schuppen ihren Kreisel trieb. Ganz versunken schien sie in das Spiel. Ihr blasses, trauriges Gesichtel belebte sich allgemach, und die Peitsche schwingend, umtanzte sie mit zierlichen Sprüngen den Kreisel wie eine Waldelfe das surrende Insekt. Soeben noch das Opfer roher Fäuste, hilflos aufjammernd, voll tiefsten Herzeleides, und nun auf einmal entrückt in eine stille Welt harmlosen Spieles, die kindliche Miene verklärt von einem Rausche seligster Selbstvergessenheit!

Weniger die Züge meiner kleinen Nachbarin als dieser seltsame Ausdruck, der gerade nach den heftigsten Mißhandlungen am stärksten hervortrat, blieb mir unauslöschlich im Gedächtnis, auch nachdem ich schon lange die Stadt verlassen und mich unter der Menge der übrigen Menschen, die alle von gröberem Kaliber waren, herumgetrieben hatte.

Es kam die Zeit, da ich Soldat wurde und mit meinen Kameraden, munteren Husarenoffizieren, von unserer Garnison gelegentlich hinüberfuhr nach einer thüringischen Residenz, das dortige Hoftheater zu besuchen. Nicht die Schauspiele und Opern waren es, die uns lockten, sondern das wohlgepflegte Ballett, zu dessen Mitgliedern in Beziehung zu treten keinerlei Schwierigkeiten für uns hatte. Der Intendant, ein wohlwollender, verständnisinniger Herr, handhabte die Disziplin nicht allzu streng, so daß die jungen Kavaliere einzeln oder paarweise während der Proben oder nach der Vorstellung hinter den Kulissen auftauchen und sich mit einer Hand voll Rosen in den Garderoben ihrer Angebeteten melden lassen durften.

Eines Abends zeigte mir dort vom Parkett aus mein Kamerad Wendelin von Poschwitz die Dame seines Herzens. Man gab irgendein märchenhaftes Tanzpoem, in der eine Gruppe leichtgeschürzter Charitinnen, mit Frühlingsblumen bekränzt, sich im Reigen um geweihte Duellen tummelte. Eine von ihnen, und zwar die reizendste war, wie ich sofort erkannte, Ursula. Daß sich Wendelin sterblich in sie verliebt hatte, nahm mich nicht wunder. Sie war zu einer engelhaften, nur etwas durchsichtigen Schönheit herangewachsen, auf ihrem süßen Madonnenantlitz lag beim Tanzen wieder jener Ausdruck seliger Entrücktheit, der mich schon bei dem Kinde so überrascht und bezaubert hatte, damals als sie sich vor den elterlichen Schlägen hin zu ihrem hüpfenden Kreisel rettete.

Als der Vorhang gefallen war, nahm mich Wendelin mit nach ihrer Garderobe. Ich erneuerte die alte Bekanntschaft, die eigentlich nie eine gewesen war, wobei ich erfuhr, daß Ursula bald nach meinem Wegzug aus der Stadt, zunächst eigentlich gegen ihren Willen, in die Ballettschule gebracht worden war – ein durchreisender Komödiant hatte den Eltern, die froh waren, den verhaßten Wechselbalg loszuwerden, die Wege dazu gewiesen – und nun schon seit mehreren Jahren unter der Fuchtel eines Brettertyrannen stand, dessen Temperament dem ihres Vaters zum Verwechseln ähnlich sah. Noch wütender aber als der Jähzorn dieses Alten verfolgte sie die Mißgunst ihrer Kolleginnen, und Wendelin selbst führte zähneknirschend einige Beispiele an, wie die von körperlichen Reizen und infolgedessen auch von Courmachern weniger begünstigten Balletteusen gegen Ursula, das Aschenbrödel, mannigfache Ränke spannen, sie mit Verleumdungen und Beschimpfungen peinigten, ihr Kleider und Schuhe verdarben, kurz einen unermüdlichen Vernichtungskampf führten, der die waffenlose Kleine schließlich entnerven und aufreiben mußte.

»Aber wie können Sie sich dem auf die Dauer aussetzen wollen, Fräulein Ursula?« fragte ich. »weshalb beschweren Sie sich nicht beim Intendanten? Lassen Sie doch den ganzen Krempel hier im Stich!«

»Meinen Sie, ich brächte sie dazu!« rief Wendelin ganz verzweifelt. »Täglich biete ich ihr an, sie herauszunehmen. Sie schlägt mir's ab! In ihrer übermenschlichen Geduld, mit ihrem Taubengemüt führt sie das Jammerleben weiter.«

Ursula erwehrte sich unserer Vorstellungen mit ihrem sanftesten Lächeln: »Im Grunde ist es nicht so schlimm. Es läßt sich schon aushalten; es vergißt sich auch wieder – solange ich noch tanzen kann.«

»Der Tanz ist ihre Leidenschaft,« bemerkte Poschwitz nicht ohne Bitterkeit, »der Tanz allein! Dagegen komme ich nicht auf.«

»Ach nein, Herr Wendelin, nicht meine Leidenschaft, wahrhaftig nicht!« Und sie blickte in zärtlicher Wehmut zu ihm auf, während sich ihre Hände seinen Liebkosungen entzogen. »Aber ein bißchen Trost findet man doch darin oder eigentlich ... mehr als Trost, wenn ich dort drüben vor der Rampe stehe ... das Orchester spielt ... der Einsatz kommt ... im Takte folgt ein Pas dem andern, man dreht und wiegt sich und schwebt hinaus ins Weite ... das ist eine Welt für sich ... eine schöne, himmelferne Welt ...! Da sagt man sich: alle menschliche Bosheit und Erbärmlichkeit ist nur dazu geschaffen, daß wir die Augenblicke ausgenießen, wo sie tief unter uns versinkt.«

Wendelin von Poschwitz kam nicht los von seiner kleinen Tänzerin. Er war ein lieber, warmherziger Junge, aber von jener Sorte, die sich durch passiven Widerstand zu den tollsten Plänen entflammen läßt. Daß sein Werben den Eindruck auf Ursula nicht verfehlte, merkte er natürlich besser als alle anderen. Sie liebte ihn und zog sich doch scheu vor ihm zurück – aus keinem anderen Grunde, als weil sie bemerkte, daß ihm die Sache allzu nahe ging. »Das ist keine Liebschaft mehr,« sagte man im Regiment, »das ist eine verteufelt ernste Liaison! wenn's der Kommandant gut mit ihm meint, so läßt er ihn versetzen.« Wohlmeinende Freunde mochten auch Ursula die Lage des jungen Offiziers in diesem Lichte dargestellt haben. Ich selbst hielt mich zurück, weil ich kommen sah, was ich durchaus für kein Unglück hielt: daß Wendelin sich entschloß, Ursula zu seiner Frau zu machen. Wer sie näher kannte, konnte ihn nur beglückwünschen; denn diese Tänzerin war nicht nur ein entzückendes Mädel mit der Seele einer Heiligen, sondern auch ein vornehmer, feingebildeter, der höchsten Ehrerbietung würdiger Mensch, eine vollendete Dame, wie es in der Gesellschaft wenige gibt.

Als Wendelin ihr seine Hand antrug, widerstand sie nicht länger. Sie hatte nie daran gedacht, die Gemahlin des Majoratsherrn von Poschwitz auf Krostenitz zu werden. Nur daß sich da ein Mensch gefunden hatte, der ihr zum erstenmal in ihrem armen Leben Liebe und Treue bot, ließ sie nicht länger zögern. Dem Geliebten als Weib zu folgen, war ihr Naturgebot, als ungetrübtes Glück empfand sie es nicht.

Da auf den Konsens zu dieser Ehe nicht zu rechnen war, nahm Poschwitz seinen Abschied, und die Verlobung ward veröffentlicht. Das Geschrei der Lehensvettern und Basen war groß. Daß der Majoratsherr einmal heiraten würde, ließ sich nicht gut verhindern, daß es aber obendrein noch eine Tänzerin sein mußte, wurde geradezu als ein Affront empfunden. Allein das Familienstatut hatte diesen Fall nicht vorgesehen, und so mußte man es dulden, daß Fräulein Ursula direkt von den Brettern herab auf Krostenitz als Gutsherrin einzog und ihr künftiger Sohn legitimer Erbe wurde.

Auch die Nachbarschaft verhielt sich anfangs ablehnend. Der schlechte Ruf einer Balletteuse schien ohne weiteres festzustehen. Die alten Damen taten ein übriges, etwaigen Einzelheiten nachzuforschen, und erst als sie nicht mehr umhin konnten zuzugeben, daß es sich hier allerdings um einen »weißen Raben« zu handeln schien, nahmen sie die Besuche des jungen Paares an und erwiderten sie in angemessener Frist.

Ende des Winters, der mich mit strengem Dienst in der Garnison festhielt, fand ich Gelegenheit, mich für einige Tage auf Krostenitz anzusagen. Alles ging dort einen guten, behaglichen Gang. Wendelin jagte viel und ritt mit dem Inspektor über die Felder, Ursula nahm sich mit Feuereifer der Wirtschaft an. Sie führte mich kindlich stolz in den Ställen umher, überwachte die Mägde, die sich, ohne vor ihr zu zittern, willig ihrer milden Herrschaft fügten, und rechnete mir sogar aus ihren Kontobüchern vor. Dann gab es eine Abendgesellschaft, zu der außer dem Landrat und dem Bezirkskommandeur noch etliche Nachbarn nebst ihren provinzmäßigen Damen erschienen, etwas steif zwar und mit betonter Würde, aber doch ausreichend in der Höflichkeit. Es zeigte sich, daß Frau Ursula von Poschwitz auch vortrefflich zu repräsentieren verstand, nämlich in der Form, daß sie frei von Befangenheit jedem ein paar freundliche Worte sagte, im übrigen aber doch die Leute an sich herankommen ließ, denen sie an wahrer Bildung ganz offenbar überlegen war. Ihre Anmut und Bescheidenheit mußte auch die hartgesottensten Pharisäer mit ihrer dunklen Herkunft aussöhnen – hätte man meinen sollen. Tatsächlich aber wühlten unter der Decke gesellschaftlicher Heuchelei Groll und Eifersucht gegen den unebenbürtigen Eindringling weiter.

Wendelin merkte wenig davon. Einerseits nahm man sich gerade vor dem Gatten naturgemäß am meisten in acht, denn in diesem Punkte – das wußten sie alle – ließ er nicht mit sich spaßen – andrerseits war er von der Unantastbarkeit seiner angebeteten Frau so felsenfest überzeugt und in sein gesichertes Glück so ganz versunken, daß ihm nicht im entferntesten der Gedanke kam, seine Standesgenossen könnten es auch nur verstohlen an der gebotenen Achtung fehlen lassen.

Und Ursula? Als ich ihr einmal meinen Glückwunsch aussprach, wie schön und friedlich sich das Leben doch noch für sie anlasse und wie froh sie sein müsse, ihre Kolleginnen für immer los zu sein, zog sie wortlos einen Brief hervor, den sie eben erhalten hatte, einen anonymen Misch mit verstellter Handschrift, in dem ihr unter der Maske guter Ratschläge die Unmöglichkeit, je in der Gesellschaft Fuß zu fassen, vorgehalten wurde.

Ich erschrak, war außer mir vor Empörung, ließ mir aber nichts merken, sondern empfahl nur, das Papier ins Feuer zu werfen und sich an solch kleinliche Niederträchtigkeiten nicht weiter zu kehren.

»Es ist schon der zweite dieser Art,« sagte sie mit schmerzlichem Seufzer, »... als ein leeres Stück Papier gewiß bedeutungslos, aber doch bezeichnend für die Gesinnung, die meines Mannes Kreise mir entgegenbringen.«

»Einzelne boshafte Gemüter gibt es überall,« versuchte ich zu trösten.

»Ach nein, so sind sie alle, mehr oder weniger, alle darauf bedacht, mich von meinem Platze zu vertreiben; nur in der Wahl der Mittel unterscheidet sich der Adel vom Ballett. Ich bin der Menschheit nun einmal nicht angenehm, das ist mein Schicksal.«

»Wenn Sie nur Ihrem Gatten angenehm sind.«

»Man wird nicht ruhen, bis man mich auch ihm entfremdet hat. Wie soll er es ertragen, auf die Dauer an eine Frau gekettet zu sein, die seiner angeborenen Welt im Wege ist! Treffen mich die Herren allein, so werden sie zudringlich, und die Damen grüßen mich nur da, wo es sich nicht vermeiden läßt.«

»Haben Sie Wendelin nie davon gesprochen?«

»Ihm am allerwenigsten! Dann wäre ja der Zweck meiner Peiniger, ihn kopfscheu zu machen, erreicht.«

»Er würde Sie schützen; darin kennen Sie ihn doch.«

»Das eben will ich nicht. Ich muß vielmehr darauf bedacht sein, ihm jede Sorge in dieser Hinsicht zu ersparen, vor jedem peinlichen Zwischenfall ihn zu behüten.«

Die Tränen waren ihr nahe. Auf einmal aber lächelte sie und deutete in aufrichtigem Vergnügen durchs Fenster nach dem Park hinab, wo ein Volk Truthühner, der Hahn gravitätisch sein Rad schlagend, einen vorwitzigen Terrier in die Flucht trieb.

»Ach sehen Sie doch, wie lustig! Wie hübsch, daß es noch Terrier und Truthühner gibt! Und daß ihre Feindschaft die Zwistigkeiten der Menschen untereinander erst in die rechte Beleuchtung rückt! Stundenlang kann ich den Tieren zusehen – am längsten dann, wenn ich wieder einmal unter den Menschen war und der Umgang mit Menschen mir noch in den Gliedern liegt.«

Im Herbst gab es Kindtaufe auf Krostenitz. Es war aber noch nicht der von den Lehensvettern gefürchtete Erbe, sondern vorerst ein kleines Mädchen, das die zarten Glieder, die durchsichtige Samthaut und die dunkelblauen Traumaugen ihrer Mutter hatte. Ich durfte Pate stehen. Im Begriffe, meinen Abschied vom Regiment zu nehmen und ins Ausland zu verreisen, machte ich mich noch für zwei Tage frei und nahm an dem Familienfeste teil.

Es war das letztemal, daß ich Wendelin von Poschwitz sah. Als ich von meiner Reise, die mich oft monatelang ohne Nachrichten aus der Heimat ließ, heimkehrte, fand ich zu meiner Bestürzung das Rittergut Krostenitz in fremden Händen. Wendelin von Poschwitz war tot, Ursulas Adresse unbekannt! Durch frühere Kameraden erfuhr ich das Entsetzliche. In einer Winternacht hatte man der Frau von Poschwitz ihren Gatten auf einer Bahre ins Schloß gebracht – eine Kugel in der Brust, von Wilderern erschossen. Bald danach hatten sich die Agnaten gemeldet, das Majorat in Besitz zu nehmen, und da ein Testament nicht vorhanden war, blieb für Frau und Kind nur eine knappe Summe übrig, die noch zusammenschmolz, als Frau Ursula sich von Advokaten zu einem aussichtslosen Prozeß bereden ließ. Sie selbst war von vornherein jedem Widerstand abgeneigt gewesen. Noch vor dem endgültigen Verlust des Rechtsstreites ging sie mit ihrem Kinde freiwillig von Haus und Hof – niemand wußte, wohin.

Erst nach längerer Zeit gelang es mir, ihren Aufenthalt zu erkunden. In einer pommerschen Hafenstadt – Gott weiß, wer ihr das angeraten hatte – bewohnte sie still und verlassen zwei dürftige Stuben. Ich eilte zu ihr. Daß ich nur ihretwegen gekommen sei, wollte sie mir gar nicht glauben; so sehr hatte sie verlernt, sich für einen Gegenstand menschlicher Teilnahme zu halten.

Zum Erbarmen sah sie aus, wie zernagt und aufgesogen von Kummer und hoffnungslosem Leid. Zum Unterhalt für sich und das Kind besaß sie kaum das Nötigste. Unter den Bewohnern dieses fremden Nestes niemanden, der sich ihrer annahm, außer etwa einige neugierige Nachbarsfrauen, wie sie mit Tratsch und Gewinsel von Haus zu Haus zu gehen pflegen. Ihr Töchterchen, jetzt zwei Jahre alt, spielte zu ihren Füßen mit einer gestrickten Puppe; scheu und weinerlich blickte es zu dem ungewohnten Besuche auf.

»Nicht wahr, Sie wundern sich, lieber Freund,« sagte Frau Ursula leise, mit müder, halberstorbener Stimme, »Sie wundern sich, was ich noch immer auf Erden zu suchen habe? Ja, es ist wirklich erstaunlich, ich klammere mich fest an dieses trostlose Leben, das mir vom lieben Gott verordnet ist wie eine bittere Arznei, einem Trank, von dem man nur elender statt gesünder wird. Nun ist es wieder mein Kind, das mich hier festhält. Denn wenn ich erst tot bin, was wird dann aus dem armen Würmchen? Armut und Verlassenheit habe ich längst vergessen. Das war mein Los von jeher – auch damals in dem einen, scheinbar glücklichen Jahr mit Wendelin. Da fühlte ich mich arm und in ewiger Unruhe, weil ich den Glauben an dauerndes Glück längst verloren hatte, und die Menschen rings um mich her wie Raubvögel auf mein Ende warten sah. Mein eigentliches Unglück war und ist immer nur die Angst vor dem nächsten Unheil, das irgendwo wieder auf mich wartet. – Sie werden es mir nicht glauben, aber ich habe auf Krostenitz vom ersten Tage an darauf gewartet, daß dieses unwahrscheinliche Glück plötzlich wieder in Scherben ging. Und so warte ich hier auf Krankheit und Tod. Ob es nun mich zuerst trifft oder das Kind – in jedem Falle wird es unsagbar schrecklich und unabwendbar sein. –

Bedenken Sie, ich bin ein verprügelter Mensch – das ist es! Die Menschen sind für mich nichts anderes als Gottes Werkzeug, mich zu prüfen, wieviel ich wohl ertrage. Das erste Werkzeug waren meine Eltern. Aber niemand bekommt mehr aufgebürdet, als er schleppen kann; wunderbar ist das auf Erden eingerichtet. Ich weiß wohl, was ich zu tragen habe, bin aber so sehr, so lange daran gewöhnt, daß ich es kaum mehr spüre – außer der Angst, müssen Sie wissen ... außer der Angst, was nun noch weiter dazu kommen wird ...

... Und dann erweist einem der Himmel doch manchmal gewisse Gnaden ... Gefälligkeiten möchte ich fast sagen, oder kleine Entschädigungen, kurz so etwas wie ein freundliches Entgegenkommen ... das Tanzen zur Musik zum Beispiel, als ich noch beim Theater war, und dann auf Krostenitz, wenn ich als Gutsfrau meine Arbeit tat und Wendelin mich lobte ... ja, und selbst in diesem trübseligen Stübchen hier fällt doch manchmal ein warmer Sonnenstrahl über die Diele ... ein Leierkasten spielt drunten auf dem Hof ein sehnsuchtsvolles Liedel ... oder, was das Allerschönste ist: mein Kind schlingt mir die Ärmchen um den Hals und lacht mir zu ...«

Die Kleine horchte auf. Was die Mutter da von ihr sprach, verstand sie wohl, und gleich war sie dabei, zu tun, was Mutter für das Allerschönste hielt: lachend hob sie die mageren Ärmchen ihr entgegen und spitzte die Lippen zum Kuß ...

Und siehe da, über das verhärmte Antlitz der bejammernswerten Frau huschte wiederum ein Abglanz seliger Selbstvergessenheit. Sie küßte ihr Kind, küßte er mit der gleichen Inbrunst, mit der sie vor Zeiten ihren Kreisel trieb.


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