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Frau Cornelia v. S., in ihren Kreisen mit Bewunderung »endlich einmal eine echte Mondäne« genannt, ist vor Kurzem gestorben. Gegen Ende ihrer noch unveröffentlichten – sehr welterfahrenen und natürlich auch sehr geistreichen – Memoiren gibt sie folgendes sonderbare Erlebnis zum besten:
Vor vier Wochen fand der Basar für das Heim verwahrloster Kinder statt. Eigentlich wollte ich absagen; denn ich fühlte mich schon damals gräßlich elend und enerviert, aber Franz-Pold, der Unermüdliche, beschwatzte mich noch. Er wollte Staat mit mir machen, wollte sich mit mir zeigen und (sagte er in seiner neckischen Bildersprache) den bösen Zungen die eherne Stirn bieten. Ich ging also. Aber ach! Niemand kümmerte sich sonderlich um uns. Enfin! Ich bin nicht mehr die Jüngste, und die Leute haben sich nun auch an den letzten meiner Anbeter gewöhnt. Nein, es war wirklich nichts. Immer dieselbe Enttäuschung, dieselbe schale, halb spöttische Liebenswürdigkeit derer, die nach uns kommen! Dazu war ich wirklich schon krank; im Hinterkopf hämmerten mir taufend kleine Teufel jeden klaren Gedanken in winzige Scherben, und eine unerträgliche Hitze stieg mir vom Herzen aus in den Hals hinauf. Dort, auf dem Basar, habe ich denn sie, die der grausamste meiner Plagegeister werden sollte, zum erstenmal gesehen – oder vielmehr wiedergesehen.
Wie einer der niedlichen weißen Backfische, die ihrer Mutter beim Verkauf assistierten, kam sie in der Hauptallee mir entgegen, auffällig nicht nur dadurch, daß sie ganz allein und scheinbar fremd dahinschlenderte, sondern auch durch ihr altmodisches Spitzenkleidchen mit dem Gürtel aus himmelblauem Velvet und den Ponyfransen, die ihr fast bis auf die starken, schwarzen Brauen niederhingen. Sie kam mir so wunderlich bekannt vor, sie gefiel mir ausnehmend, und doch fuhr mir zugleich der Schreck in die Glieder, weil ich spürte, daß da irgend etwas mit ihr und mir nicht in Ordnung war. Dieses bildhübsche junge Mädchen war mir ganz unheimlich vertraut, als hätte ich gestern noch etwas Schreckliches oder auch unsagbar Schönes mit ihr erlebt. Meine Nerven aber waren so kaput und mein Gedächtnis so geschwächt, daß ich sie nirgend unterzubringen wußte. Vor Mattigkeit schloß ich die Augen – da war sie verschwunden.
Dann kam der Abend, wo ich nach dem Rout beim russischen Botschafter ahnungslos und sogar leidlich bei Kräften in mein Boudoir trete und die Birnen am Guéridon einschalte – um etwas ganz Unfaßliches zu erblicken. Was finde ich vor? Die Kleine, die ich fast schon vergessen hatte, steht am geöffneten Bücherschrank und kramt unter den französischen Romanen. Sofort weiß ich, daß dies eine Sinnestäuschung sein muß, daß es auch damals auf dem Basar schon eine war. Denn keine Seele kommt von selbst zu mir herein, kein lebendiger Mensch ist imstande, mit seiner bloßen Erscheinung mir einen solchen namenlosen Schrecken einzujagen.
Eine halbe Stunde vorher hatte ich zwei von den neuen Pastillen genommen, zum erstenmal gleich zwei auf einmal. Da hatte ich also die fatale Nebenwirkung, vor der mich der Doktor warnte! Sie beruhigen nur vorübergehend, hinterher bekommt man Halluzinationen.
Gut, sage ich mir, mit solch albernem Spuk will ich schon fertig werden, ich bin doch keine abergläubige Matrone; meine vielgerühmte, sogar von Dichtern besungene Intelligenz ist stark genug, Gespenster aufzulösen in ihr natürliches und wohlverdientes Nichts.
Mit lauter, deutlicher Stimme lege ich dem Eindringling – im Grunde aber nur für mich selbst – die Frage vor: »Wer sind Sie? Woher des Weges? Was haben Sie in meinem Bücherschrank zu stöbern?«
Das Kind schielt mit einem rührend ängstlichen Blick zu mir herüber und antwortet: »Ich suchte gerade nach meinem alten Liebling › Sans famille‹.«
Mir wird, als ob mich jemand packt und im Kreise herumwirbelt.
Das waren doch meine eigenen Augen, die da so scheu zu mir herüber und neugierig die Wände entlang wanderten! Das war meine Stimme, war das Gesicht, die Frisur, das Flügelkleid meiner fünfzehn Jahre! Und Malots » Sans famille« war damals – Gott wie lächerlich! – meine spannendste Lektüre gewesen.
Jetzt muß ein regelrechtes Gespräch zwischen mir und meinem jugendlichen Ebenbilde stattgefunden haben. Zwar fühlte ich mich eigentümlich schläfrig und benommen, wie in Trance, aber ich erinnere mich an Einzelheiten unserer Unterhaltung, namentlich daran, daß sie mir meinen Kindernamen Nely als den ihren nannte und besonders eifrig nach einem längst verschollenen Pagen Lorenzl Liebenfels, meinem ersten Courmacher, fragte, worauf ich ihr erwiderte, daß Lorenzl ein fader Patron und ein Patschi gewesen sei, der sich nicht herangetraut hätte; Nely aber widersprach mir – ganz gekränkt, als ob sie noch immer mit ihm rechne: »Er ist eben respektvoll und delikat, sonst aber ein süßer, fescher Bub. Nur ein bißl Courage muß man ihm machen.«
Wer redete so daher mit dem hellen und doch so traurigen Stimmchen? War das nicht doch ein Eindringling, war ich es selbst, ich die alternde Cornelia, oder die Nely, die es schon seit einem Menschenalter nicht mehr gab? Anfangs versuchte ich noch, mit Humor der tollen Sache beizukommen. Krampfhaft scherzte ich über die wiederauferstandene Nely und mich selbst. Jedoch die Erscheinung vor mir wurde nur immer bleicher und auch immer gereizter davon. Sie bekam scharfe, abgespannte Leidenszüge, und ihre Worte wandten sich gegen die Cornelia mit großer Bitterkeit. Da ward mir angst und bange, schlimmer als zuvor. Kein Zweifel: ich selbst war das Phantom, das mich besuchte. Die Ähnlichkeit war ja ganz unverkennbar. Die Bilder aus meiner Jugend, so schlecht sie auch sonst gerieten – denn Maler wie Photographen scheiterten mit ihrer Kunst stets an der ewig wechselnden Beweglichkeit meines Ausdruckes –, mit der Spukgestalt stimmten sie doch wunderlich überein. In meiner Verwirrung, meiner Pein nahm ich noch zwei Pastillen auf einmal und verfiel sogleich in einen dumpfen Schlaf.
Als ich wieder erwachte, zeigte die Pendule auf ein Uhr. Vor dem Bücherschrank, an derselben Stelle, stand noch immer die Gestalt.
Ich schleppe mich zur Tür und klingele der Zofe.
»Sagen Sie, Anna,« fragte ich atemlos, »steht dort jemand oder ... oder täusche ich mich?«
Die Anna reißt verwundert ihre dummen Augen auf: »Gnädige Frau, ich sehe nichts.«
»Mir scheint nämlich ... ich glaube, mir ist nicht ganz wohl. Kleiden Sie mich aus, Anna, legen Sie mich zu Bett!«
»Soll ich den Herrn Doktor rufen, gnädige Frau?«
»Nein, lassen Sie nur! Keinen Arzt!«
Eine Stunde lang ließ ich die Zofe an meinem Bette sitzen. Es half nichts, hinter ihr stand Nely, regungslos wie eine Statue, und starrte mich fragend, immerzu fragend und wie voll stummer Vorwürfe an.
Dann schicke ich die Zofe hinaus, springe aus dem Bett – ans Telephon und rufe Franz-Pold. Der Diener antwortete mir, er sei im Klub. Fiebernd vor Nervosität lasse ich mich mit dem Klub verbinden. Eine halbe Stunde später ist der allzeit Getreue bei mir.
Franz-Pold galt mir von jeher als der rechte Mann für unmögliche Situationen; denn er reißt Witze.
Vom Bett aus weise ich nach dem Bücherschrank: »Du sollst mich ein bißchen aufmuntern, lieber Freund. Mir ist nämlich kreuzelend zumute. Stell' dir vor: ich sehe Gespenster.«
»Ach wo!« meint er ganz ernsthaft und klemmt das Monokel ein. »Buchstäblich wo denn? Und dann wieso denn?«
»Schau, dort am Bücherschrank!«
»Kann nichts entdecken – bedaure. Aber freilich, deine schönen Augen werden mehr sehen als meine alten schlechten.«
Meinem Verlangen entsprechend trat er bereitwillig an den Bücherschrank, genau dorthin, wo ich die Erscheinung zu sehen glaubte. Sie rückte stumm zur Seite und stand nun neben ihm.
Nein, nicht einmal Franz-Pold konnte mir in dieser beispiellosen Lage helfen. Mit ein paar ratlosen Phrasen bedauerte er mich, bot mir Eau de Cologne und Baldriantropfen an. Ich schickte ihn also wieder weg.
Nun galt es, mit Nely – mit mir selber – aus eigenen Kräften fertig zu werden, so oder so.
Ich reiße mich zusammen, nehme Haltung an, fühle ihr kühl und höflich auf den Zahn: »Weißt du, daß du und ich eine und dieselbe sind?«
»Das glaub' ich wohl,« gibt sie zur Antwort und läßt, wie niedergeschmettert von der Erkenntnis, das bleiche, gemarterte Antlitz vornüberfallen.
»So sprich dich doch aus! Was willst du denn?«
»Wissen möcht' ich, was aus mir geworden ist.«
»Sehr einfach – das, was du vor dir siehst. Ich, Cornelia, bin aus dir geworden.«
»Aber ich verstehe das noch immer nicht, ich kann's nicht glauben ... Ich bin nämlich erst aus dir herausgetreten ... Heute sehe ich dich eigentlich zum erstenmal.«
»Was ist Sonderliches an mir zu sehen?« frage ich scheinbar ungeduldig, während mir die Zähne klappern und ich mich hinter meinen Kissen wie gegen einen Angriff verschanze.
Als ein rechtes Kind bleibt sie bei ihrer eigensinnigen Neugier: »Nicht das geringste weiß ich von dir und habe doch ein Recht darauf, alles zu erfahren. Nur ahnt mir allerlei ...«
Und wie ich nun mit geschlossenen Augen, auf etwas Schreckliches gefaßt, daliege, kommt sie langsam näher, läßt sich schließlich auf dem Bettrand nieder und beginnt in einer endlosen, eintönigen Klage auf mich einzureden – immer mit meiner eigenen Stimme, im Tonfall und der Ausdrucksweise meiner Jugend –, redet von ihren Hoffnungen, Aussichten, schwärmerischen Wünschen, von ihrer Sehnsucht, ihrem Glauben, von alledem, was einstmals ich, die kleine Nely, in mir trug und kindlich in mir hegte, vom Schloß und Park der Eltern schwärmte sie vor mir, von unseren weiten, stillen Wiesen, von einsamen Ritten durch den moosigen Wald, vom Hochamt in der Dorfkirche und den Besuchen im Kloster der Servitinnen ...
»Was plagst du mich«, rief ich gereizt, »mit derlei Sentimentalitäten? Man kultiviert sich doch. Gottlob, man wächst heraus aus den Kinderschuhen!«
Da füllten sich ihre Augen wahrhaftig mit Tränen. An alte Kindereinbildungen mahnte sie mich, wie an gebrochene Schwüre. Was aus dem Mann geworden sei, dem sie sich fürs Leben versprochen habe? Wo sich die Kinder befänden, denen sie hätte Mutter werden sollen?
In bitterem Trotz bekannte ich ihr, daß ich mich scheiden ließ, weil mir der Zwang der Ehe nicht behagte, daß mir Kinderstubenluft ein Greuel sei und ich mich stets davor gehütet habe.
Sie rief entsetzt: »Wen liebst du denn? Wen hast du je geliebt?«
Niemals in meinem Leben habe ich so unter Schmerzen lachen müssen: »Nun, selbstverständlich die Männer habe ich geliebt. Doch vielleicht nicht einmal diese, sondern nur – nur dich, Nely, immer nur dich selbst!»
Mit aufgehobenen Händen wehrte sie meine Flattereien von sich ab: »Nicht mich, das Kind! Dich! – dich, Cornelia! Die große Dame vom Salon, die vielbegehrte Tänzerin, immer nur die kluge, elegante, ewig unbefriedigte Cornelia!»
Von diesem Augenblick an, da mir das Kind, nun plötzlich wieder fremd, ein fremder, feindseliger Mensch, weinend vor ohnmächtigem Zorn, seine ganze Verachtung entgegenschleuderte, haßte ich es und fühlte mich zugleich doch so von Sehnsucht zu ihm hingerissen, daß meine Hände nach dem zarten, schemenhaften Körper griffen, ihn unter Liebkosungen zu erwürgen.
Es blieb mir nichts anderes übrig als ein entscheidender Kampf mit Nelys zudringlicher Spukgestalt, ein Kampf auf Tod und Leben, von dem Heimweh nach Nelys Unschuld und holder Kindlichkeit, von der Angst vor den bohrenden, aufwühlenden Fragen des unerbittlichen Doppelgängers mußte ich mich befreien, und wenn ich selbst dabei zugrunde ging ...
Verzweifelt stürzte ich mich auf sie ... sie widerstand mir nicht ... verschwand, zerging, zerrann in meinen Armen. Sekundenlang durchbebte es mich wie wütender Triumph, ließ mich erleichtert aufatmen wie nach einem abgeschüttelten Alp – dann aber spürte ich das Entsetzliche, das ich mir angetan: daß ich Nely, das Kind, erbarmungslos ermordet und dennoch keineswegs beseitigt hatte – unmöglich beseitigen konnte, weil sie mit mir doch eins war und eins bleiben mußte, in alle Ewigkeit ...
Wohl hatte ich sie erwürgt, zugleich aber die Sterbende mit mörderischer Gewalt in mich selbst zurückgetrieben, ihren Leichnam im eigenen Leib begraben. Nun bin ich mit einer toten Spukgestalt vergiftet; an dem Kinde, das in mir verwest, sieche ich dahin.