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(Tokio: 6.-20. April 1918.)
Von Wladiwostok wollte ich mit dem Schiff direkt nach Amerika reisen, aber wegen verschiedener Hindernisse mußte ich die Mandschurische Bahn benutzen und durch ganz Korea bis zum Meere nach Fusan fahren und von dort mit dem Schiff nach Japan. Ich reiste am 1. April über Charbin und Mukden. Am 6. kam ich in Schimonoseki an, am 8. war ich in Tokio und damit eigentlich wieder in Europa, denn ich konnte dort sofort wieder Beziehungen zu den europäischen Gesandtschaften anknüpfen.
Amerika wurde von Mr. R. S. Morris, England durch Sir Conyngham Green vertreten. Mr. Morris ersuchte mich um ein Memorandum über den Stand Rußlands und des Bolschewismus für den Präsidenten Wilson und legte mir dazu mehrere Fragen vor; ich beantwortete sie mit einer kurzen Darlegung über die Notwendigkeit einer überlegten Politik der europäischen Staaten in Rußland. Ich gebe hier den Wortlaut des kurzen Memorandums wieder, das nach den Darlegungen über Rußland keiner weiteren Erklärung bedarf, es sei denn des Hinweises auf das Datum und den Stand der Dinge zu der Zeit, als ich meine Anschauungen so formuliert habe.
Privat.
Vertraulich.
Geschrieben am 10. April 1918 in Tokio.
1. Die Alliierten sollten die bolschewikische Regierung anerkennen (de facto – über die Anerkennung de jure braucht nicht diskutiert zu werden); die Botschaft des Präsidenten Wilson an ihre Moskauer Versammlung war ein Schritt in dieser Richtung: werden die Alliierten zu den Bolschewiken in einem guten Verhältnis stehen, so werden sie Einfluß auf sie ausüben können. Die Deutschen haben sie anerkannt, indem sie Frieden mit ihnen schlossen (ich kenne die schwachen Seiten der Bolschewiken, aber ich kenne auch die schwachen Seiten der anderen Parteien – sie sind weder besser noch fähiger).
2. Die monarchistische Bewegung ist schwach; die Alliierten dürfen sie nicht unterstützen. Die Kadetten und die Sozialrevolutionäre organisieren sich gegen die Bolschewiken; ich erwarte von diesen Parteien keinerlei größeren Erfolg. Die Alliierten haben erwartet, Alex ějev und Kornilov würden am Don einen großen Erfolg erzielen; ich habe es nicht geglaubt und die Verbindung mit ihnen abgelehnt, obwohl ich von den Führern eingeladen worden war. Ich sage das Gleiche von Semenov u. a.
3. Die Bolschewiken werden sich länger an der Macht erhalten, als ihre Gegner voraussetzen: sie werden so wie alle übrigen Parteien am politischen Dilettantismus sterben, – es ist der Fluch des Zarismus, daß er das Volk nicht gelehrt hat, zu arbeiten, zu administrieren, und die Bolschewiken wurden durch ihren Mißerfolg bei den Friedensverhandlungen und in der Bodenfrage geschwächt, aber andererseits gewinnen sie Sympathien, weil sie arbeiten lernen und weil die übrigen Parteien schwach sind.
4. Ich würde glauben, daß eine Koalitionsregierung (der sozialistischen Parteien mit der kadettischen Linken) nach einiger Zeit die allgemeine Zustimmung erlangen könnte (allerdings auch mit den Bolschewiken in der Regierung).
5. Eine dauernde demokratische und republikanische Regierung in Rußland wird einen großen Druck auf Preußen und Österreich ausüben (Sozialisten und Demokraten); das ist ein Grund, warum die Deutschen und Österreicher gegen die Bolschewiken sind.
6. Alle kleinen Nationen im Osten (Finnländer, Polen, Esten, Letten, Littauer, Tschechen und Slowaken, Rumänen usw.) brauchen ein starkes Rußland, sonst werden sie auf Gnade und Ungnade den Deutschen und Österreichern ausgeliefert sein: die Alliierten müssen um jeden Preis und mit allen Mitteln Rußland unterstützen. Unterwerfen die Deutschen sich den Osten, so unterwerfen sie sich sodann den Westen.
7. Eine fähige Regierung könnte die Ukrainer dazu bringen, sich mit einer autonomen Republik zu begnügen, die einen Teil Rußlands bildet; das war der ursprüngliche Plan der Ukrainer selbst, erst später erklärten sie ihre Unabhängigkeit, obgleich die unabhängige Ukraina in Wirklichkeit eine deutsche oder österreichische Provinz sein wird; die Deutschen und Österreicher verfolgen mit der Ukraina dieselbe Politik wie mit Polen.
8. Es sei daran erinnert, daß der Süden Rußlands der reiche Teil des Landes ist (fruchtbarer Boden, das Donbecken, das Schwarze Meer usw.), der Norden der arme: die russische Politik wird nach dem Süden gravitieren.
9. Die Alliierten müssen einen gemeinsamen Plan haben, wie Rußland zu unterstützen ist.
10. Die Regierungen der Alliierten dürfen ihre Beamten in Rußland nicht ohne Direktiven lassen; mit anderen Worten: die einzelnen Regierungen müssen einen klaren Plan über Rußland haben.
11. Die Japaner werden, hoffe ich, nicht gegen Rußland sein; das würde den Deutschen und Österreichern passen; im Gegenteil, die Japaner sollten mit den Alliierten gemeinsam kämpfen, der Riß zwischen Japan und Deutschland würde sich erweitern.
12. Nirgends in Sibirien sah ich (vom 15. März bis 2. April) bewaffnete deutsche und österreichische Gefangene; in Sibirien ist die Anarchie nicht größer, als in Rußland.
13. Die Alliierten müssen die Deutschen und Österreicher in Rußland bekämpfen:
a) Es organisiere sich eine Gesellschaft, die das Getreide (Weizen usw.) zusammenkauft und dort verkauft, wo es gebraucht wird: dadurch werden die Deutschen das Getreide nicht erhalten können. Aber die russischen (ukrainischen usw.) Bauern werden ihr Getreide nicht für Geld verkaufen, weil das für sie nichts wert ist, sie brauchen Waren (Schuhe, Kleider, Seife, Instrumente usw.)
Da die Deutschen und Österreicher keine Fabrikate haben, haben die Alliierten beste Gelegenheit, sich des russischen Marktes zu bemächtigen. Der Plan erfordert nur Energie und Organisation: das in diesem Geschäft angelegte Kapital kehrt zurück.
b) Deutsche und österreichische Agenten werden sich auf Rußland stürzen; eine notwendige Gegenaktion muß organisiert werden (amerikanische und andere Agenten müssen Muster bringen, vielleicht eine kleine Reiseausstellung ausgewählter Fabrikate, illustrierte Kataloge usw.).
c) Die Deutschen üben Einfluß auf die russische Presse nicht so sehr durch ihre besonderen journalistischen Agenten aus, sondern durch ihre Kriegsgefangenen, die in allerlei Blätter im ganzen Lande schreiben (nicht so sehr in den großen Städten).
In gewissem Maße arbeiten unsere tschechischen Gefangenen dagegen, aber die ganze Aktion muß organisiert werden.
d) Die russischen Eisenbahnen müssen gepflegt werden; ohne Eisenbahnen wird es keine Armee, keine Industrie geben usw.
e) Die Deutschen haben russische Papiere zusammengekauft, um in Zukunft die Industrie zu kontrollieren.
f) Es ist bekannt, daß die Deutschen ihren Einfluß auf die Kriegsgefangenen ausüben, indem sie z. B. die Gefangenen aus der Ukraina für eine ukrainische Armee ausbilden usw.; die Alliierten könnten auf die deutschen Gefangenen, soweit diese in Rußland bleiben (durch die Presse, besondere Agenten usw.) Einfluß ausüben.
g) Es ist mir gelungen, in Rußland aus tschechischen und slowakischen Gefangenen einen Korpus von 50 000 Mann zu organisieren; ich habe mit der französischen Regierung vereinbart, sie jetzt nach Frankreich zu senden. Die Alliierten können durch den Transport dieser Armee helfen: es sind ausgezeichnete Soldaten, wie sie in der erneuten Offensive im verflossenen Juni bewiesen haben.
Wir können einen zweiten Korpus von derselben Größe organisieren: das muß geschehen, damit unsere Gefangenen nicht nach Österreich zurückkehren, wo sie gegen die Alliierten an die italienische oder französische Front geschickt werden würden.
Die Alliierten sind übereingekommen, uns die nötigen Mittel zu verschaffen. Auch in Frankreich haben wir schon eine kleinere, zum Teil aus Rußland gesandte, zum Teil aus Flüchtlingen formierte Armee; und ich hoffe, daß wir ebenfalls in Italien eine Armee bilden werden.
Die Bedeutung der ganzen tschechischen Armee in Frankreich ist offenkundig: ich muß anerkennen, daß Frankreich die politische Bedeutung der Sache von allem Anfang an begriffen und unsere nationale Bewegung mit allen Mitteln unterstützt hat. Minister Briand war der erste Staatsmann, der unserer Nation öffentlich die Hilfe der französischen Republik versprochen hat. Und er war es, dem es gelungen ist, der Antwort an Wilson die ausdrückliche Forderung einzufügen, die Tschechoslowaken zu befreien (die Tschechoslowaken sind die westlichste slawische Barrière gegen Deutschland und Österreich).
Unter den gegebenen Umständen haben 100 000, ja nur 50 000 ausgebildete Soldaten eine große Bedeutung.
14. Meine Antwort auf die oft wiederholte Frage, ob in Rußland eine Armee formiert werden könne: in 6-9 Monaten kann, sagen wir, eine Million Mann formiert werden.
Die Rote Armee bedeutet nichts, und die Bolschewiken haben die Offiziere (der ehemaligen zarischen Armee) aufgefordert, in ihre Armee als Instruktoren einzutreten. (Für die Armee braucht man Eisenbahnen.)
Anmerkung: Der heutige »Advertiser« (11. April) bringt diese Nachricht:
»Die Freiwilligen legen die Waffen nieder. Der nach Frankreich ziehende tschechoslowakische Korpus von Trockij angehalten.
Moskau, 5. April. – Als Ergebnis einer Vereinbarung zwischen Trockij und dem französischen Botschafter lieferte die Armee der tschechoslowakischen Freiwilligen, die nach Frankreich zog, ihre Waffen den Sowjetbehörden ab. Die Offiziere wurden mit Ausnahme des Generals Dieterichs, der den Korpus nach Frankreich begleitete, entlassen.«
Die Nachricht ist sehr günstig: die nach Frankreich ziehende Armee braucht keine Waffen zu haben, weil sie in Frankreich neu ausgerüstet wird; die Offiziere, die erwähnt werden, sind in unsere Armee eingetretene russische Offiziere.
*
Diese Ansichten trug ich (mündlich) auch dem französischen Gesandten M. Regnault vor.
In der englischen Botschaft erfuhr ich, was in Europa vorging.
Ich besuchte auch den japanischen Minister des Äußern. Den Japanern waren wir – selbstverständlich – in jener Zeit wenig bekannt. Ich gab dem Sekretär des damaligen provisorischen Ministerium Shidehari ein (russisch geschriebenes) Memorandum ab und ersuchte besonders den englischen Botschafter und ebenso den amerikanischen, sich bei der japanischen Regierung für uns einzusetzen. Wir brauchten die japanische Hilfe für die Fahrt unserer Truppenteile von Wladiwostok gegebenenfalls durch Japan und für die Versorgung mit Kleidung, Schuhen und allem übrigen, was man in Rußland und Sibirien nicht bekam. Mit allen sprach ich darüber, wie Schiffe zu beschaffen seien.
In Japan knüpfte ich auch, wie überall, Beziehungen zur Journalistik an. Einige Tage hatte ich Schwierigkeiten mit der Tokioter Polizei; sie nahm an meinem englischen Paß Anstoß; die Blätter schrieben von mir unter meinem Namen, der Paß aber lautete auf einen andern. Ich wunderte mich nicht, daß die Polizei in Tokio sich diese Ungereimtheit erst nach mehreren Tagen zusammenreimte; in London war mir dasselbe geschehen. Dort hatte ich zwar einen Paß auf meinen Namen, aber einen serbischen, und die Polizei verstand nicht, wie sich das mit der Wirklichkeit vertrage. Ich las schon an der Londoner Universität vor, Ministerpräsident Asquith hatte mich durch seinen Vertreter eingeführt, doch die Polizei meines Bezirkes war tagelang beunruhigt. Der heilige Bureaukratius ist überall gleich – übrigens war's ganz in Ordnung, daß die Beamten ihre Pflicht taten.
In Japan las ich die Rede Czernins vom 2. April. Der persönliche Angriff Czernins überraschte mich nicht; wichtig war, daß der französische Minister Painlevé und dann vor allem Clémenceau den österreichischen Lügen über die Friedensangebote Österreichs ihre kategorischen Erklärungen entgegensetzten und daß der Brief des Prinzen Sixtus von Bourbon vom 31. März 1917 veröffentlicht wurde. Österreich log, der Kaiser selbst benahm sich unschön und feig, und die Affäre endigte mit dem Rücktritt Czernins am 15. April 1918. Für uns erlangte, wie ich noch darlegen werde, diese Episode eine große Bedeutung, da sie die Unzuverlässigkeit und Falschheit Österreichs für die Alliierten in so eindringlicher Weise dokumentierte.
In Tokio bekam ich auch einige Nachrichten über den Kongreß der unterdrückten Völker Österreich-Ungarns in Rom (8. April 1918); davon sowie von dem wichtigen Abkommen in Korfu (20. Juli 1917) will ich mehr in der zusammenfassenden Betrachtung unseres Verhältnisses zu den Südslawen sagen.
Mein zweiwöchiger Aufenthalt in Japan hat meine Erkenntnis Japans nicht besonders bereichert. Meine ganze Aufmerksamkeit war dem Schicksal der Legionen, dem Kriege und dem erwarteten Frieden zugewendet. Ich besuchte in Tokio den einen oder andern Tempel der verschiedenen Konfessionen, besichtigte vieles, was zugänglich war, kann aber nicht sagen, Japan studiert zu haben. Mich interessierte der wirtschaftliche Zustand Japans, über ihn trachtete ich mich zu belehren; ich wollte sehen, wie der Krieg sich im regsamen Japan wirtschaftlich auswirkte. Die Tatsache, daß England und in gewissem Maße auch Frankreich durch den Krieg von der gewohnten Wareneinfuhr in den fernen Osten abgehalten waren, gab den Japanern natürlich die Möglichkeit, ihr Geschäft in Asien, bis nach Ägypten auszudehnen.
Mit Interesse besichtigte ich die Buchhandlungen und Kunstgeschäfte. Es gelang mir, hübsche japanische Holzschnitte und manches europäische Buch zu erwerben. Der Einfluß der deutschen Literatur, namentlich der medizinischen, war in den Buchhandlungen offenbar; ich fand einen Bücherantiquar, der hauptsächlich mit deutschen Büchern handelte.
Am 19. April 1918 übersiedelte ich nach Yokohama. Ein glücklicher Zufall fügte es, daß der große Dampfer »Empreß of Asia« nach Kanada abfuhr; das Schiff war für einen Militärtransport von Amerika nach Europa bestimmt. So gelangte ich sehr schnell nach dem amerikanischen Festlande; wir fuhren am 20. April mittags ab und liefen schon am 29. April in Victoria und Vancouver ein.