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(Washington: 29. April-20. November 1918.)
Auf dem englischen Schiff war ich wieder in Europa und Amerika; nicht nur nach internationalem Recht, – die ganze Umgebung der Reisenden war europäisch oder amerikanisch. Schönes Wetter und ruhige Fahrt gewährten mir Erholung (ich pflege nicht seekrank zu sein). Dem Meere, den Wellen, den Strömungen, der Witterung, den Farben der Flut und des Himmels widmete ich ziemlich viel Aufmerksamkeit wie immer – darin besteht eben teilweise die Erholung; ich habe notiert, am 24. April, die sogenannte Mittagslinie, 181 Grad ö. L. passiert zu haben. Ich erinnerte mich Jules Vernes Reise um die Erde, des unerwarteten Gewinns eines Tages.
In der Schiffsbibliothek fand ich manch einen englischen Roman und las mit Interesse die Jubiläumsschrift über Ch. Brontë von May Sinclaire, einer mir wohlbekannten Schriftstellerin.
Auf dem Schiff befand sich u. a. auch Mr. Wright von der Petersburger amerikanischen Botschaft; wir hatten Gelegenheit, immer von neuem die russischen Zustände zu erörtern.
Viel Zeit widmete ich der Rekapitulation der ganzen Lage seit dem Tage, an dem ich England verlassen hatte. Rußland war also endgültig vom Kriege ausgeschaltet und durch erzwungenen Frieden gebunden; die russische Offensive (Kerenskijs) 1917 war zu spät gekommen. Die Deutschen selbst – Ludendorff – hatten gefürchtet, sie würde sich früher einstellen und dadurch gefährlich sein. Die russische Niederlage und die Revolution hatten den Sturz des Zaren herbeigeführt, der verlorene Krieg dürfte – so ließ sich erwarten – nach Nikolaus auch Wilhelm und Karl und ihr System hinwegfegen. Europa wäre vom Absolutismus befreit, die Demokratie im Gewinn und die Freiheit der kleinen Nationen dadurch besser verbürgt. Andererseits lag das Minus darin, daß Rußland nicht mehr kämpfen konnte und seine innere Entwicklung unsicher, vielleicht sogar bedroht war.
Die Deutschen fuhren nach der Besetzung Polens mit der Besetzung der Randstaaten fort; sie nahmen allmählich Riga, die Inseln Ösle, Moon, Dago ein (vom September bis Oktober 1917), kamen nach Finnland (2. April 1918) und schlugen dort die Bolschewiken, die Finnlands am 19. Juli 1917 proklamierte Selbständigkeit nicht anerkannten. (Auch das ist ein Beweis, daß die Deutschen nicht vorbehaltlos für die Bolschewiken waren.) Schritt für Schritt hatten die Deutschen seit Gorlice Polen und dann die Randstaaten eingenommen, der pangermanische Drang nach Osten schien in diesem Teile Europas gestillt zu sein. Deutschland erkannte dort die kleinen Staaten an, die unter seiner Patronanz entstanden waren; Kurland wurde am 15. März 1918 anerkannt, Litauen am 23. März, Lettland am 9. April und Estland am 10. April; die beiden letzten meldeten sofort (13. April) ihre Zugehörigkeit zu Deutschland an.
Die Ukraina hatte Frieden geschlossen, indem sie in Wirklichkeit dem Druck des stärkeren Kompaziszenten unterlegen war. Ebenso Rumänien.
Die Deutschen und Österreicher waren Herren von Polen. Das polnische Land war schon im Sommer 1915 besetzt worden und befand sich in deutsch-österreichischer Verwaltung; plötzlich entstand (unter dem Warschauer Gouverneur General von Beseler) der deutsche Plan, eine polnische Halbmillionenarmee aufzustellen; deshalb wurde das Königreich Polen errichtet (5. November 1916), aber die polnische Armee verwirklichte sich nicht, und Deutschland rang lange, wenn auch unter dem Mantel der Einigkeit, mit Österreich um die Vorherrschaft in dem neuen Königreich. Rußland hatte in der polnischen Frage seit Anbeginn große Fehler begangen; es schränkte die ersten Versprechungen ein – die Zensur erlaubte nicht einmal, über die Autonomie zu schreiben! – die Proklamation des unabhängigen polnischen Staates durch die Provisorische Regierung kam am 30. März 1917 zu spät.
Eine ähnliche Ein- und Unstimmigkeit herrschte zwischen Deutschland und Österreich in der rumänischen Frage.
Dagegen hatte sich nach Vertreibung des Königs Konstantin Griechenland (27. Juni 1917) den Alliierten angeschlossen.
England setzte seinen Siegeslauf in Asien fort, die Türken verloren im Winter viele Mann durch Hunger und Krankheit. In England rief der Unterseebootkrieg ziemlich schwere Befürchtungen hervor, aber Ende 1917 begannen die Deutschen selbst, an seiner Wirksamkeit und Opportunität zu zweifeln; sie hatten anfangs wenige Unterseeboote gehabt, doch mit ihnen Eindruck hervorgerufen.
Im November 1917 machte England den vorzüglichen Zug, daß es sich für einen jüdischen Nationalstaat in Palästina erklärte, – dadurch gewann es die Zionisten und auch die nichtzionistischen Juden der ganzen Welt.
In Frankreich verspürte man den Zuwachs der amerikanischen Armee schon seit Juni 1917, aber der deutsche Druck war stets gefährlich. Nivelles drang mit seinem Plan, die deutsche Front durchzustoßen, nicht durch. Ende Mai 1917 hatte es in der französischen Armee größere Explosionen infolge Unzufriedenheit mit der Leitung gegeben; sie wurden jedoch unterdrückt. Im Kommando vollzogen sich abermals Änderungen: Generalissimus wurde Pétain (15. Mai 1917), der Gegner des Planes Nivelles, der immer an eine größere Aktion gedacht hatte; im Frühjahr (24. April 1918) wurde Foch als Oberkommandant der alliierten Armeen eingesetzt. Ein früherer Versuch, die Leitung zu vereinigen, hatte sich nicht ganz bewährt, doch war im November (1917) der Oberste Militärrat der Alliierten gebildet worden. Die einheitliche Führung war längst nötig gewesen; jetzt um so mehr, als die Deutschen sich nach Erledigung Rußlands zu einer großen Offensive anschickten. Sie begann am 21. März und schien anfangs so siegreich, daß die Franzosen wiederum daran dachten, die Regierung aus Paris zu verlegen. Aber der Mißerfolg von Amiens, dem Hauptziel des deutschen Angriffs, bewies den Deutschen ihr Fiasko oder wenigstens das Scheitern ihres strategischen Planes und die weitere Unentschiedenheit der »großen Schlacht« in Frankreich.
Politisch war in Frankreich am 16. November 1917 das energische Regime Clémenceaus eingeführt worden, der Premier und Kriegsminister in einer Person wurde; zur Charakteristik der inneren Lage Frankreichs erwähne ich die Ausweisung Malvys, des früheren Innenministers (7. August), die Erschießung des Redakteurs Duval (15. August); der ehemalige Premier und Finanzminister Caillaux wurde verhaftet (14. Januar 1918), Bolo Pascha erschossen (5. Februar). Allerdings sei daran erinnert, daß das Gesetz gegen den Defaitismus und seine Friedenspropaganda vom Parlament schon vor Clémenceau abgestimmt worden war (26. Juni 1917). Italien ermannte sich nach der Niederlage bei Caporetto. Österreich hatte seinen Sieg über die Italiener mit Hilfe der Deutschen errungen – offenbar genügte Österreich allein weder militärisch noch strategisch mehr. Wir wissen nun, daß der Angriff im Oktober (ich hatte den Versuch seit allem Anfang an erwartet) den Zweck verfolgt hatte, die Italiener so zu vernichten, daß der Feind über die Alpen in Südfrankreich eingebrochen wäre; Italien reorganisierte jedoch mit Hilfe englischer und französischer Truppenteile seine Armee.
Charakteristisch für die militärische und politische Gesamtlage waren die erwähnten zahlreichen Friedensverträge, die Deutschland mit seinen östlichen Gegnern abschloß; diese Friedensverträge, namentlich der mit Rußland, schienen mir Vorboten des Friedens auch im Westen zu sein. Tatsächlich wurden im Jahre 1917 und in den ersten Monaten des Jahres 1918 viele Friedensversuche von beiden Seiten, insbesondere von den Zentralmächten unternommen. Deutschland und seine Verbündeten hatten den westlichen Alliierten ein offizielles Angebot schon am 12. Dezember 1916 gemacht; danach eine ganze Reihe geheimer Angebote. Ihre Zahl läßt sich wohl nicht genau feststellen; sie gingen entweder direkt von den entscheidenden Stellen aus oder von einflußreichen Persönlichkeiten, die der Zustimmung dieser Stellen sicher waren.
Österreich trat nach dem Tode des alten Kaisers (Anfang Dezember 1916) mit der Entente in geheime Verhandlungen, die sich bis ins Frühjahr 1918 hinzogen. Ich will davon bald eingehender sprechen; inzwischen weise ich hier auf die symptomatische Bedeutung dieser Verhandlungen des neuen Kaisers hin, die durch Vermittlung seines Schwagers Sixtus erfolgten und ein Jahr später von Clémenceau öffentlich enthüllt wurden. Sie sprachen für die Schwächung der Zentralmächte; sie zeigten auch, daß zwischen Österreich und Deutschland nicht mehr jene Einmütigkeit bestand wie unter Franz Joseph. Czernin malte Österreichs Schwäche offiziell (ia. April 1917) in seinem vertraulichen Bericht an den Kaiser aus; diesen Bericht erhielten die Alliierten, wie man sagt, infolge Erzbergers Indiskretion, – Erzberger selbst bestreitet dies. Czernins Memorandum bietet gewiß eine Erklärung für Karls Friedensverhandlungen; wir werden sehen, daß sie nicht vereinzelt waren, daß Österreich eigentlich das ganze Jahr 1917 hindurch den Weg zu allen Alliierten suchte.
In Deutschland hatte der Reichstag am 19. Juli 1917 mit 214 Stimmen gegen 116 (bei 17 Stimmenthaltungen) die Friedensresolution angenommen, in der nach russischem Vorbild ein Frieden ohne Annexionen und politische und wirtschaftliche Vergewaltigung gefordert wird; aber auch das offizielle Deutschland näherte sich ebenfalls geheim den Alliierten. Bethmann Hollweg war bereit, mit Frankreich unter Verzicht auf Elsaß-Lothringen oder einen Teil davon Friedensverhandlungen zu führen; so wurde wenigstens in Wien behauptet und von österreichischen Agenten verbreitet. Über einen französisch-deutschen Versuch sind Einzelheiten bekannt; Freiherr v. d. Lancken, ein ehemaliger Beamter der Pariser deutschen Botschaft, damals in Belgien tätig (er hat Miß Cavell erschießen lassen!) knüpfte durch verschiedene Personen Beziehungen zu Briand an; es kam so weit, daß er am 27. September bereits verabredungsgemäß Briand in der Schweiz erwartete, doch dieser traf nicht ein. Die Affäre hatte ihr Nachspiel in der Polemik Clémenceaus gegen Briand.
Im Monat Oktober (6.) wandten die Deutschen sich über Spanien an England; doch führten auch noch andere Wege aus Deutschland nach England (über Haag u. a.).
Verschiedene Verhandlungen wurden zwischen Deutschland und Rußland geführt. Ich habe zwei dem Zaren gemachte deutsche Angebote erwähnt; anscheinend richtete Rußland im Oktober 1916 an Deutschland Angebote, im Dezember Deutschland an Rußland. Im Jahre 1917 verhandelte Bethmann Hollweg noch während des zarischen Regimes über einen Separatfrieden (im Februar); dann folgte während der Provisorischen Regierung der Versuch mit Miljukov. Andere Verhandlungen führte in skandinavischen Ländern der bulgarische Gesandte in Berlin, Rizov, – ich bin nicht sicher, ob er dabei nicht mehr Initiative zeigte als der deutsche Kanzler; Deutschland verhandelte in der Zeit des Waffenstillstandes durch Erzberger mit Rußland (auch in Stockholm). Auch Kerenskij machte durch Vermittlung des Polen Ledvinski, des Vorsitzenden der polnischen Liquidationskommission, Friedensangebote.
Es ist schon bekannt, daß Kaiser Wilhelm im Herbst 1917 einem milderen Frieden geneigt war, als im Dezember 1916 angeboten worden war; er konferierte Anfang Juli mit dem Nuntius Pacelli, von dem sofort die Rede sein wird, und ersuchte den Papst um energische Friedenspropaganda. Trotzdem trat aber Bethmann Hollweg zurück (13. Juli), weil Hindenburg und Ludendorff sich gegen ihn gewendet hatten, damit das Friedensangebot des Reichstags nicht als Schwäche ausgelegt werde. De facto brachen jedoch Ende Juli in der deutschen Flotte Revolten aus, und Ludendorff selbst wankt bald darauf.
In England war Lloyd George in dieser Zeit (Sommer 1917 bis Sommer 1918) durch die Lage auf dem Kriegsschauplatz, besonders durch die Möglichkeit, daß die deutschen Unterseeboote die Lebensmittelzufuhr stören könnten, beunruhigt. Er fürchtete, wie ich schon erwähnt habe, England werde nicht genug Mannschaften aufbringen und verfocht daher den Plan, gegen die Türkei energisch vorzugehen (was wirklich geschah) und in Frankreich inzwischen nur in der Defensive zu verharren. Ich weiß nicht, wessen Kopf dieser Plan entsprungen war; ich erfuhr, daß hervorragende Heerführer der Alliierten – selbst Foch – ihm zustimmten. Die Leser erinnern sich gewiß, wie nach der friedensfreundlichen Rede Lloyd Georges (5. Januar 1918) Oberst Repington öffentlich gegen ihn auftrat; der englische Premier beschuldigte den Obersten des Hochverrates. Die Bereitwilligkeit Englands zum Frieden wurde auch durch das pazifistische Hervortreten Lord Lansdownes, Wimborns u. a. gekennzeichnet. Was Lloyd George betrifft, so beteiligte er sich an den geheimen Verhandlungen Sixtus' mit Österreich, wenn auch sehr vorsichtig; ich habe im Frühjahr 1917 in Londoner informierten Kreisen gehört, daß Lloyd George an Frieden denke und daß er den Deutschen beträchtliche Zugeständnisse machen würde.
In Zusammenhang damit sei auch daran erinnert, daß 1916 und 1917 die Möglichkeit japanischer Truppensendungen nach Europa diskutiert wurde; strittig war, ob sie zur See oder über Sibirien kommen sollten. Der Plan fand Anhänger und Gegner, nicht nur in Amerika.
Wichtig war die Friedensaktion des Vatikans vom 1. und 30. August 1917 und die daran sich schließende diplomatische Korrespondenz aller Staaten; die alliierten Regierungen waren durch den Vatikan in keiner Weise gewonnen worden. Seine Friedensnote war unbestimmt, und die führenden alliierten Regierungen nahmen sie deshalb nicht als Grundlage für Friedensverbandlungen an. Der Vatikan verhandelte aber neben seiner öffentlichen Aktion damals auch geheim sehr nachdrücklich mit Deutschland und den Alliierten. Er sondierte durch die englische Regierung die Friedensbedingungen; durch Vermittlung des Münchner Nuntius Pacelli, mit dem Wilhelm vorher selbst verhandelt hatte, verständigte der Vatikan (30. August) den deutschen Kanzler Michaelis davon, daß England die wahren Absichten Deutschlands, vor allem die bezüglich Belgiens, kennenzulernen wünsche. Die Antwort Deutschlands lautete unbestimmt und war daher unannehmbar.
Sehr wichtig wurde die Botschaft des Präsidenten Wilson an den Senat (8. Januar 1918), in der Wilson sein Programm in den bekannten vierzehn Punkten zusammenfaßte; für Deutschland lehnte Hertling, für Österreich Czernin es in einer Form ab, die die dauernde Verblendung Berlins und Wiens bewies. Ich will zu dieser Kundgebung Wilsons bald zurückkehren.
Auf die Friedensversuche der sozialdemokratischen Parteien, der deutschen und der österreichischen, denen die russischen Sozialisten vorangegangen waren, habe ich schon aufmerksam gemacht; ich ergänze dies durch den Hinweis auf die Konferenz der Internationale in Stockholm (Juni 1917), wo auch unsere tschechischen sozialdemokratischen Parteien vertreten waren (Habrman – Němec – Šmeral). Dr. Šmeral verfocht seine Austrophilie, erklärte aber, daß 95 % unserer Arbeiterschaft und überhaupt des tschechischen Volkes mit mir gehen, nicht mit ihm; die öffentliche Erklärung aller drei Sozialdemokraten, in der ein selbständiger tschechischer Staat im Rahmen eines föderativen Österreich-Ungarn gefordert wurde, war gegen den Plan der österreichischen Sozialdemokraten gerichtet, die den Völkern nur eine Kulturautonomie versprachen. Das war die erste offizielle Stimme aus Böhmen, die jenseits der Grenzen laut wurde. Das Bekenntnis Dr. Šmerals veröffentlichten wir in allen Blättern mit guter Wirkung. Ich sandte Professor Maxa nach Stockholm, um dort unsere Abgeordneten über unsere günstige Lage in Rußland und in Europa zu informieren. Abgeordneter Habrman bereitete sich damals vor, für immer im Ausland zu bleiben; mir schien jedoch, daß er daheim besser wirken könne, als jenseits der Grenzen, und darum ließ ich ihm bestellen, er möge zurückkehren und darauf drängen, daß man in der Heimat keine Kompromisse und Konzessionen mache und uns nicht mehr desavouiere.
Die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie, ihre allmähliche Scheidung in zwei Richtungen und Parteien, war charakteristisch für das Jahr 1917; zu Beginn des Jahres 1918 fangen schon die politischen Streiks an, in Wien (16. Januar), in Berlin (28. Januar); in Deutschland organisieren sich Arbeiterräte.
Wenn ich die Gesamtlage überblickte, konnte ich nur zu dem Schluß gelangen, daß die Entscheidung nahe; Rußlands Ausscheiden aus der Reihe der Kämpfenden – der Einfluß des Bolschewismus auf die sozialistischen Parteien in Europa – die Erstarkung des Pazifismus – die Ermattung der kämpfenden Armeen und die sichtbare Unzufriedenheit der Truppen – die Schwierigkeit, einen entscheidenden Sieg an der Front zu erringen, – die geheimen und öffentlichen Friedensverhandlungen, – all dies drängte zu der Erkenntnis, daß der Krieg nicht mehr lange dauern werde. Und die weitere Folgerung aus den bisherigen Kriegsereignissen war, daß die Entscheidung zu unseren Gunsten ausfallen werde; das war nicht nur eine Hoffnung, sondern eine in mehr als dreijähriger kritischer Beobachtung gewonnene Überzeugung. Gewiß gab es auf Seiten der Alliierten genug Nachteile, sie hatten viele und sehr schwere politische und strategische Fehler begangen; aber das war auch auf deutscher und österreichischer Seite geschehen. Es blieb nur ein gewisser Zweifel darüber, ob die amerikanische Truppenexpedition nach Frankreich den Krieg nicht noch bis ins Jahr 1919 verlängern werde.
Es gab nämlich politische und militärische Fachmänner, die glaubten, daß der Krieg bis ins Jahr 1919 dauern werde; selbst Marschall Foch erwartete noch im Herbst 1918, nach den ersten Siegen über die Deutschen, die Entscheidung im Frühjahr 1919. Nach der Gesamtlage urteilte ich jedoch, daß der Krieg 1918 enden werde, und darum eilte ich aus Rußland nach dem Westen.
Über die Mehrzahl der geheimen Friedensverhandlungen in den Jahren 1917 und 1918 herrscht bisher keine Klarheit, die Tatsachen sind von den teilnehmenden Persönlichkeiten nicht geschildert worden. Ich habe dies und jenes erfahren, in der Regel nur so viel, daß wieder geheim verhandelt werde, man nannte die Verhandelnden, Einzelheiten waren aber nicht festzustellen; mir genügte das Faktum – die Folgerung daraus zog ich mir selber, ich glaube die richtige: daß der Krieg kaum über 1918 hinaus dauern werde. Ich will an dem Falle Sixtus zeigen, wie ich die Friedensverhandlungen verfolgte; ich telegraphierte aus London am 20. April 1917 an die Unsrigen nach Paris wie folgt: »Liebe Freunde, gebet acht – angeblich wird abermals ernstlich über einen Sonderfrieden mit Österreich verhandelt. Das Haupt der Regierung ist deswegen dort eingetroffen. Alle haben anscheinend den Krieg satt. Für uns Selbstverwaltung usw., ein ein wenig verkleinertes Österreich.«
Wir waren Ende 1917 und Anfang 1918 auch schon für den Frieden vorbereitet. Unser großes Plus bildeten die Legionen. Durch ihren Erfolg in Rußland wurde die Formierung der Legionen in Frankreich beendigt und in Italien beschleunigt. In Frankreich hatten wir im Jahre 1916, wie ich dargelegt habe, den großen Plan einer nationalen Armee entworfen, und zwar in Übereinstimmung mit der französischen Regierung; Štefánik war darum offiziell nach Rußland geschickt worden. Wie es ihm erging und warum, habe ich geschildert. Seit Mai 1917 setzte ich die Arbeit in Rußland fort; wie und mit welchem Gelingen, habe ich auch schon beschrieben.
Als mit der Formierung der Armee in Rußland ernstlich begonnen worden war, hatte ich Dr. Beneš aufgefordert, mit Frankreich Verhandlungen wegen unserer Armee einzuleiten und mit der französischen Regierung einen Vertrag zu schließen. Zugleich trachtete ich, nach Frankreich wenigstens einige Transporte auszurüsten; das geschah. Die Transporte enthielten einen Teil unserer Gefangenen aus Rumänien. Auch aus Amerika, wo Štefánik 1917 die Musterung organisiert hatte, kam ein Teil der Freiwilligen nach Frankreich. Die Verhandlungen des Dr. Beneš mit der französischen Regierung hatten Erfolg. Schon im August wurde ein Übereinkommen getroffen, und nach weiteren Verhandlungen erließ die Regierung am 16. Dezember ein Dekret über die Errichtung unserer Armee in Frankreich. Die definitive Abmachung des Dr. Beneš mit dem Premier Clémenceau erfolgte im Januar und Februar 1918. Bereits diese Abmachungen sicherten uns selbst für den schlimmsten Fall bedeutende Vorteile bei den Friedensverhandlungen.
In Italien gab es etwas größere Schwierigkeiten. Wir Tschechen waren den Italienern wenig bekannt, und die antisüdslawische Propaganda gewann stets breitere Kreise. Štefánik und Beneš arbeiteten in Italien sehr nachdrücklich, und ich verhandelte überall, insbesondere in Rußland, mit den italienischen Gesandten. Im Januar 1917 erhielten wir die Erlaubnis, die Tschechen und Slowaken in einem Lager zu sammeln. Fortwährend bemühten wir uns um die Formierung des Heeres. Darin kam uns der Vorfall von Carzano im September 1917 zugute. Dort hatte nämlich (an der Tiroler Front) der Offizier Pivko, ein Slowene, in aller Stille den Übergang seiner Soldaten zu den Italienern angestiftet. Unter den Überläufern gab es eine ansehnliche Anzahl von Tschechen. In Italien machte das Eindruck und warb Sympathien für die Slawen; die Wiener Blätter schrieben über den »Verrat« von Carzano, im Parlament reichten die Deutschen eine Interpellation ein. Bald darauf, im Oktober, wurde von Italien der Nationalrat anerkannt und die Errichtung von Arbeitsabteilungen bewilligt, die Überläufer von Carzano blieben größten Teils an der italienischen Front und kämpften im Oktober 1917 auf dem Monte Zebio und bei Asiago. Seit Februar 1918 begannen die Gefangenenmusterungen – sie wurden von Sychrava und Osuský durchgeführt –, die Formation der Armee war erreicht. Den ersten Vertrag zwischen der italienischen Regierung und dem Nationalrat über die Errichtung der tschechoslowakischen Armee in Italien schloß Štefánik mit Orlando am 21. April 1918.
Unter solchen Umständen wurde in Rom am 8. April 1918 der Kongreß der unterdrückten Völker Österreich-Ungarns abgehalten, gerade an dem Tag, an dem ich in Tokio ankam. Welche politische Bedeutung er hatte, werden wir gleich sehen.
Die Nachrichten, die ich über die Zustände in Böhmen und Wien erhalten hatte, waren befriedigend. Auf das Desaveu im Januar folgte die schon erwähnte erste Kundgebung unserer Abgeordneten im April, dann vor allem das Manifest unserer Schriftsteller im Mai; ich spürte eine Ermunterung der Parlamentspolitik heraus und erklärte mir die politische Belebung im Frühjahr 1917 mit dem Einfluß der russischen Revolution. Diese mußte den Monarchismus schwächen und den Republikanismus stärken. In ähnlicher Weise hatte die russische Revolution nach dem Kriege mit Japan bei uns gut gewirkt. Die staatsrechtliche Erklärung in dem während des Krieges zum erstenmal einberufenen Parlament (30. Mai 1917) lautete noch für Österreich und die Habsburger; das Programm eines Staatenbundes, bestehend aus den Nationalstaaten, wurde aufgeworfen. Die Erklärung verursachte uns draußen keine Unannehmlichkeiten, denn neben der deutlich platonischen Anerkennung des Gesamtreiches, der Dynastie und des Bundesstaates wird in ihr der Kampf um den tschechischen Staat und den Anschluß der Slowakei betont. Überhaupt konnte uns das Parlament jetzt nicht mehr schaden, ich dachte mir, im Gegenteil. Das sah man sofort nach der Interpellation der sozialdemokratischen Abgeordneten wegen Beschlagnahme der Stockholmer Entschließung u. a. Sehr wichtig und für uns draußen vorteilhaft war der Beschluß der Abgeordneten vom 23. Juli in Wien; die, wenn auch unscheinbare Mehrheit (von drei Stimmen) verwarf die Teilnahme an den Verhandlungen über die Änderung der Verfassung. Wenn ich nicht irre, übten auf diesen Entschluß die aus Stockholm mitgebrachten Auslandsnachrichten Habrmans. Dr. Rašín und Dr. Kramář wurden aus dem Kerker entlassen; sie konnten ihre Abgeordnetentätigkeit nicht aufnehmen, aber das war besser, Dr. Rašín konnte sich völlig Prag und der Arbeit widmen. Sehr gelegen kam mir die Interpellation der Deutschen im Parlament (5. Dezember 1917) über unsere Illoyalität; ich wußte, daß der tschechische Abgeordnetenverband seit Ende September 1917 vollzählig war, und erblickte in dieser Einmütigkeit einen Beweis, daß sich die Unsrigen der nahenden Entscheidung ebenfalls bewußt geworden waren.
Die Deklaration vom 6. Januar 1918 befriedigte mich, wenn auch die darin ausgesprochene Billigung der früheren Erklärungen Zugleich die Annahme der anläßlich der Eröffnung des Parlaments abgegebenen Erklärung bedeutete; das wurde jedoch in dieser Unbestimmtheit draußen um so weniger verstanden, als der übrige Inhalt eigentlich mit unserem Auslandsprogramm übereinstimmte. Mir sagte die Unbestimmtheit, daß eine klar habsburgische und österreichische Politik in den eigenen Reihen und vielleicht bei der Mehrzahl der Abgeordneten auf Widerstand stoße. Übrigens betonten der österreichische Ministerpräsident und dann der Minister des Äußern den »hochverräterischen« Charakter der Deklaration.
Der Deklaration vom Dreikönigstag folgte der persönliche Angriff Czernins; der schadete ihm in England und Amerika (persönliche Schmähungen sind in diesen Ländern längst verfehmt), und uns nützte er, da Czernin in seiner Wut die Nation anklagte, mit mir übereinzustimmen. (»Auch innerhalb der Grenzen des Reiches gibt es solche Masaryks.«)
Von uns im Ausland wußten die Unsrigen daheim schon genug; sie hatten von Zborov erfahren, und Abgeordneter Habrman, der Gefangene Pšenička u. a. hatten ausführliche Nachrichten gebracht, – ich erwartete kein Desaveu mehr, wenn die Lage an der französischen Front auch mehr als unangenehm war. Der feierliche Schwur am 13. April verhieß es, und freudvoll war für mich die Nachricht über die erste revolutionäre Handlung der Slowaken in Lipt. Sv. Mikuláš unter Führung Šrobárs.
Am 29. April, fast am Morgen, legten wir in Victoria und nachmittag in Vancouver an. Hier empfing ich ein Kabeltelegramm aus Wladiwostok über Klecandas Tod ... Herr Schelking, ehemaliger Beamter des Petersburger Ministeriums des Äußern, erwartete mich; mit seinen Nachrichten und Hinweisen hatte er in Petersburg unseren Leuten viele, wichtige Hilfe gewährt, als sie gegen Stürmers und Protopopovs Politik arbeiteten. Wieder diskutierten wir über Rußland, die Ursachen seines Sturzes und die Zukunftsaussichten.
In Vancouver trafen einige Landsleute für ihre Organisationen (Herr Bosák für die Slowaken) und Herr Pergler ein, den mir die amerikanischen Landsleute als Sekretär bestellt hatten; ich hatte aus Tokio um ihn gekabelt, um die lange Reise von Vancouver sofort zur Arbeit auszunützen. Herr Pergler blieb während der ganzen Dauer meines Aufenthaltes in Amerika bei mir und arbeitete mit großem Fleiß; er hatte sich schon vor meiner Ankunft an unserer Bewegung beteiligt.
Am 30. April verließ ich Vancouver und fuhr durch Kanada nach Chicago. Die Reise dauerte beinahe fünf Tage; ich unterbrach sie in St. Paul wegen einer Zusammenkunft mit Landsleuten, deren mehrere ich bereits von meinem früheren Aufenthalt kannte.
In Chicago kam ich am 5. Mai an. Hier begann schon eine neue Phase meiner Tätigkeit, und zwar sofort in großem Maßstab.
In Chicago hatten mir die Landsleute nach amerikanischer Art einen auffallenden Empfang bereitet. Chicago war nach Prag die größte tschechische Stadt und das Zentrum unserer Finanzaktion. Hier lebte Herr Štepina, den ich gleich von Venedig aus mit Briefen um Geld zu bombardieren angefangen hatte; Dr. Fisher stand an der Spitze des Nationalverbandes; Vojta Beneš bereiste unsere Kolonien und sorgte um das Gelingen der Sammlungen für unsere Befreiung. Es war unseren Leuten geglückt, fast ganz Chicago zu gewinnen, nicht bloß die slawischen Kolonien, die sich uns anschlossen, sondern auch die Amerikaner. Vom Bahnhof zum Hotel bewegte sich ein riesiger Zug, die Stadt war von unseren nationalen und den slawischen Farben überflutet. Dieser Anfang war glänzend und wurde zum. Vorbild für andere Städte, in denen wir tschechische und slowakische Kolonien besitzen. Im Festzug wurden auf der Straße tschechische und englische Reden gehalten. Dann folgten größere und kleinere Versammlungen, tschechische oder tschechisch-amerikanische. Ich mußte ein zweitesmal (Ende Mai) nach Chicago kommen und Versammlungen für die einzelnen Organisationen veranstalten; damals hielt ich Versammlungen und Reden in einigen amerikanischen Institutionen wie in der Universität, im größten journalistischen Klub usw. In Chicago hatte ich im Jahre 1902 Vorlesungen an der Universität gehalten und unter Tschechen und Amerikanern viele Freunde gewonnen; der jetzige Präsident Mr. Judson war mir in sehr liberaler Weise behilflich.
Später erlebte ich ähnliche Empfänge und Versammlungen in New York, Boston, Baltimore, Cleveland, Pittsburg, Washington. Überall wurden die Versammlungen und Umzüge so veranstaltet, daß sie das Interesse der Amerikaner erweckten; unsere Trachten, Fahnen und Wappen und die künstlerische Gestaltung der Umzüge gefielen und machten so auf unsere Befreiungsaktion aufmerksam, die auf diese Weise für die breitesten Schichten der amerikanischen Bevölkerung augenfällig wurde. Ich habe vor dem Krieg genug gegen die Fahnenspielerei gewettert – in Amerika überzeugte ich mich davon, daß ich übertrieben hatte –, ich war doch nur auch ein Professor gewesen (»ein Kantor«) und hatte nicht abgeschätzt, daß ein gut arrangierter Umzug nicht weniger wert sei als ein angeblich weltumstürzender politischer Artikel oder eine Parlamentsrede ... Ich erinnere mich lebhaft, wie mir in Chicago auf dem Wege mit dem Umzug der Ausspruch des bekannten Predigers Spurgeon einfiel, er wolle sich auf den Kopf stellen, wenn er damit die Aufmerksamkeit auf eine gute Sache lenken könne, – mit den Füßen nach oben in der Kirche, warum nicht auf der Straße?
Auch in Amerika gab es, wie in den anderen Kolonien, anfangs persönliche und politische Streitigkeiten; Amerika war neutral, die deutschen, österreichischen und magyarischen Einflüsse machten sich stark geltend; daher hegte man auch in unserer Kolonie Mißtrauen gegen die revolutionäre Aktion, und es gab ziemlich viele Austrophile. Aber unsere Richtung schlug durch, der Nationalrat wurde seit Beginn als führendes Organ unserer Bewegung anerkannt. Es gab noch einzelne, die die österreichische Orientierung verfochten, doch sie fielen nicht mehr ins Gewicht. Die Hauptstreitigkeiten waren bereits früher in öffentlicher Diskussion erledigt worden. Die Affäre Dürich hatte eine gewisse Erregung hervorgerufen: Štefánik sprach darüber in Versammlungen und Vereinen; Dürich wurde vom Herrn Horky verteidigt. Die Affäre war unliebsam, verursachte jedoch keinen politischen Schaden.
Es ist natürlich, daß Amerika auf unsere Kolonien einen großen und vielfach entscheidenden Einfluß ausübte, als es an Deutschland den Krieg erklärte (6. April 1917). Bis zur Kriegserklärung waren viele in Zweifeln befangen; nach ihr gab es keine Zweifel mehr, die Einmütigkeit der politischen Anschauungen festigte sich. Der Einfluß dieser Tatsache äußerte sich auch, wie ich schon gezeigt habe, bei den Sammlungen für unsere Aktion.
Zwei Ergebnisse verdienen besondere Erwähnung.
Zunächst, daß unsere Katholiken einträchtig mit den Freidenkern und den Sozialisten vorgingen; wer weiß, wie die beiden Richtungen in früherer Zeit zueinander standen, erkennt mit Freude die einigende Kraft der Freiheitsbewegung an. Die Katholiken hatten sich schon ein Jahr vorher (18. November) in Chicago auf ein Memorandum geeinigt, das für den Papst Benedikt XV. bestimmt war; es wurde dem päpstlichen Delegaten übergeben, der das Werk des »Nationalverbandes tschechischer Katholiken« billigte und versprach, es dem Papst zuzustellen. In der Denkschrift wurde die Selbständigkeit der Tschechoslawen und die Befreiung der tschechoslowakischen Nation in den historischen Ländern und in der Slowakei gefordert.
Ich beteiligte mich selbst am katholischen Kongreß in Washington am 20. Juni. Ich beleuchtete meinen religiösen Standpunkt gegen alte Vorwürfe, vor allem, wie und warum ich entschiedener Gegner des politischen Katholizismus, wie er sich in Österreich und Ungarn durch das Wirken der Habsburger entwickelt hatte, geworden sei. Ich äußerte mich für die Trennung von Staat und Kirche nach amerikanischem Vorbild. Gerade die amerikanischen Katholiken begriffen, daß die Unabhängigkeit vom Staat der Kirche in keiner Weise zum Schaden gereiche. Ich versprach, mich für die Trennung ohne Kampf einzusetzen; was bei dieser Trennung die Kirchengüter betrifft, lehnte ich die Beschlagnahme ab. Als der Exekutivausschuß des »Nationalverbandes tschechischer Katholiken« in Amerika am 25. Oktober 1918 beschloß, Vertreter in die Tschechoslowakische Republik zu entsenden, um die Geistlichkeit und das katholische Volk über das Wesen der Trennung zu belehren, begrüßte ich diese Absicht sehr erfreut (mit einem Schreiben vom 15. November). Ich bemerke noch, daß auch der »Verband der slowakischen Katholiken« in Amerika die Regelung des Verhältnisses der Kirche zum Staat im Sinne der amerikanischen Trennung empfahl, allerdings mit Rücksicht auf die slowakischen Zustände (am 27. November).
Die anderen wichtigen Verhandlungen vollzogen sich in Pittsburg zwischen Slowaken und Tschechen. Am 30. Juni unterzeichnete ich das Abkommen (»Das tschechoslowakische Abkommen« – nicht Vertrag!) zwischen Slowaken und amerikanischen Tschechen. Dieses Abkommen wurde zur Beruhigung einer kleinen slowakischen Fraktion geschlossen, die von weiß Gott was für einer Selbständigkeit der Slowakei träumte; die Ideen einiger russischer Slavjanophilen, Štúrs und Vajanskijs, hatten auch unter den Slowaken in Amerika Wurzel gefaßt. Dagegen hatten sich unsere Tschechen und Slowaken auf das Abkommen geeinigt, in dem für die Slowakei eine eigene Administrative, ein Landtag und Gerichte gefordert werden. Ich unterschrieb das Abkommen ohne Zögern, weil es eine lokale Abmachung der amerikanischen Tschechen und Slowaken untereinander war; es ist von amerikanischen Staatsbürgern unterschrieben, nur von zwei Nichtamerikanern (nachträglich erhielt es in unerlaubter Weise weitere Unterschriften). In dem Abkommen wird festgesetzt, daß die legalen Vertreter des slowakischen Volkes selbst über die Einzelheiten des slowakischen politischen Problems entscheiden werden. Ähnlich habe ich in der eigentlichen Unabhängigkeitserklärung festgesetzt, daß diese nur ein Versuch sei, die künftige Verfassung zu kennzeichnen, und daß über die Verfassung selbst endgültig die legalen Vertreter des Volkes entscheiden werden. Das geschah durch die Annahme unserer Verfassung nicht bloß durch die Tschechen, sondern auch durch die Slowaken; dadurch sprachen sich die legalen Vertreter der Slowakei für die vollständige Einheit aus, und dieses auf die Verfassung geleistete Gelübde bindet nicht allein die Slowaken, sondern gleichfalls die Tschechen und allerdings auch mich. Für die Einheit hatten sich die Vertreter der Slowaken am 30. Oktober 1918 in Turč. Sv. Martin, und vorher, am 1. Mai, also vor dem Pittsburger Abkommen, in Lipt. Sv. Mikulás erklärt. Um diese Einheit geht es, – die Autonomie ist eine ebenso berechtigte Forderung wie der Zentralismus, aber die Hauptaufgabe besteht darin, das richtige Verhältnis zwischen beiden festzusetzen.
Man sprach unter den Slowaken und Tschechen davon, daß zu Beginn des Jahres Graf Károlyi nach Amerika gekommen sei, um von der amerikanischen Regierung die Anerkennung der Unteilbarkeit Ungarns zu erlangen; den Tschechen wünschte er angeblich die Freiheit, doch die Slowaken sollten bei Ungarn bleiben. Oberst House benachrichtigte die Tschechen davon, und sie verständigten sich mit den Slowaken, für den Einheitsstaat einzutreten.
Die nachdenklicheren Wortführer der Slowaken begriffen, daß die territoriale Autonomie den Slowaken nichts Gutes bringen würde und eine selbständige Befreiungsaktion der Slowaken mit einem Fiasko enden müßte. Das erörterten wir alles lang und breit in der Versammlung. Ich konnte den Slowaken zeigen, wie unbekannt sie in der politischen Welt waren und was für einen Mißerfolg wir uns zugezogen hätten, wenn sie selbständig aufgetreten wären. Über eine selbständige Slowakei konnte ernstlich gar nicht verhandelt werden; es wäre die Möglichkeit übriggeblieben, daß sie autonom in Ungarn wurde. Das war nach den gegebenen Umständen auch nicht möglich, und so blieb nur die Vereinigung übrig. Alle kleinen Nationen forderten während des Weltkrieges Freiheit und Vereinigung. Die Slowaken und Tschechen wußten, daß ich selbst mich immer für die Slowakei eingesetzt hatte; durch Herkunft und Tradition Slowak, fühle ich slowakisch und habe für die Slowakei stets nicht nur geschwärmt, sondern gearbeitet. In Böhmen waren die Sympathien für die Slowakei immer lebendig. Die Tschechen – Havlíček! – erkannten an, daß die Slowaken und Mähren ihre Nationalität erhalten haben. Ich kenne die Slowakei und die slowakischen Menschen ziemlich gut; ich stand mit der älteren und der jüngeren Generation in Fühlung, mit beiden arbeitete ich an der Wiedergeburt des Landes. Ich weiß gut, wie selbst der Russophile Vajanskij, als es ernst wurde, für die Einheit war, nicht anders als sein Vater und vor diesem schon Kollár u. a. Aber ich weiß auch, wie sich viele Slowaken in ihrer nationalen und politischen Erniedrigung mit Visionen ohne Tat und Arbeit getröstet haben. Wenn manche Russen – auch Lamanskij – an den Slowaken wegen ihrer nationalen Ursprünglichkeit Gefallen fanden, so begnügten sich diese damit, doch gegen den magyarischen Druck bäumten sie sich damit wenig auf.
Während des Krieges war der Romantismus unter den Slowaken in Rußland aufgelebt. Sie waren von den russischen offiziellen Kundgebungen besonders begeistert; sie wiesen darauf hin, daß der Zar in jener Audienz Interesse für die Slowaken gezeigt habe; auch Nikolaj Nikolajevič hatte sie in dem Manifest an die österreichischen Völker erwähnt. Auf die Slowaken in Rußland taten die Ideen Lamanskijs u. a. ihre Wirkung, und manche slowakische Arbeiterträumten infolgedessen von der selbständigen oder einer mit Rußland verbündeten Slowakei; aber es fanden sich auch Leute, die den Anschluß der Slowakei an Polen und sogar an Magyarien verkündeten. In Moskau hatte sich gleich 1915 der »Slowakisch-russische Verein zum Gedächtnis Štúrs« gebildet; dort wurden unter Führung einiger politisch naiver Russen allerhand antitschechische Illusionen eines unklaren und unreifen Panslawismus und Panrussismus geschaffen. Darin waren manche Tschechen mit den Slowaken eins. Schon im Memorandum an den Zaren wird im September 1914 von dem »zweieinigen Königreich« gesprochen; Koníčeks erwähnter Nationalrat der tschechoslowakischen Gemeinden in Paris verspricht (15. Februar 1915) in seiner Botschaft an die Slowakei die vollständige Selbständigkeit der »slowakischen Gegenden« mit eigenem Landtag in Nitra; der Bund der tschechoslowakischen Vereine in Rußland erklärt (31. Mai 1915), daß die Slowakei ihren Landtag, ihre politische und sprachliche Selbstverwaltung haben werde.
In Amerika veröffentlichte die Slowakische Liga, die bis 1919 nur dem Namen nach existierte (die Statuten wurden behördlich erst 17. Mai 1919 genehmigt), als für Amerika der Krieg ausbrach, ihr vorher verfaßtes Memorandum, worin nach dem alten Memorandum von Sv. Martin die Autonomie im Rahmen des ungarischen Staates gefordert wurde; seit einiger Zeit wurde von Einzelpersonen und kleinen Gruppen lokaler Richtung das in Rußland beliebte Programm wiederholt, also der Plan einer selbständigen Slowakei, einer mit Rußland irgendwie verbündeten Slowakei (»Slowakische Föderation« u. a.). In diesem Sinne agitierte in Rußland und in Amerika auch Herr Koniček.
Die große Mehrzahl der Slowaken jedoch und ihre Wortführer in Amerika und in Rußland waren für den einzig vernünftigen und möglichen Plan – den einheitlichen tschechoslowakischen Staat; im Kongreß von Cleveland (Oktober 1915) einigten sich Slowaken und Tschechen auf die Einheit und Zusammenarbeit; auf dem ersten antiösterreichischen Manifest vom 14. November 1915 sind die amerikanischen Slowakenführer mit unterschrieben. Das tschechoslowakische Abkommen von Pittsburg ist eines dieser Programme und, wie man sieht, keineswegs das radikalste.
Mit diesen beiden Aktionen ist aber die Beteiligung der amerikanischen Kolonie am Kriege nicht vollständig charakterisiert; es ist noch nötig, auf ihre politische Propaganda hinzuweisen, die sie seit Beginn des Krieges ausgeübt hat.
Die amerikanische Kolonie trat durch ihre Organisationen bald öffentlich hervor und erlangte auf die amerikanische Öffentlichkeit einen bedeutenden Einfluß. Diese Tätigkeit hat eine um so größere Bedeutung, als Amerika zweieinhalb Jahre neutral war. Der Nationalverband veröffentlichte schon 1916 ein Manifest, worin er dem neutralen Amerika unsere Freiheitsbewegung darlegte; im Mai 1917 überreichte er mit der Liga durch Vermittlung des Obersten House ein Memorandum an Wilson, worin unsere politischen Aspirationen erklärt wurden, im Februar 1918 dem auswärtigen Ausschuß des Senats ein Memorandum, das eine Verwahrung gegen das die Autonomie versprechende Österreich enthielt. Neben der publizistischen Tätigkeit wirkten Zahlreiche politische Versammlungen und Vorträge. So trug die amerikanische Kolonie zur Eroberung der Freiheit nicht nur finanziell, sondern auch politisch bei – auf diese Weise vielleicht noch mehr; es gelang unseren Leuten, den Senator von Jowa, Kenyon, zu gewinnen, der (25. Mai 1917) dem Senat eine Entschließung vorschlug, in der für den künftigen Frieden die Befreiung der Tschechen und Slowaken gefordert wurde; ein Jahr später (31. Mai 1918). stellt der Senator von Utah, King, dieselbe Forderung. Nach meiner Ankunft erwirkte der Verband im Kongreß (29. Juni) die Erweiterung der Novelle zum Einwanderungsgesetz, wodurch unseren Legionären so wie den amerikanischen Freiwilligen, die in die alliierte Armee eintraten, die unbehinderte Rückkehr in die Vereinigten Staaten ermöglicht wurde.
Bald nach meiner Ankunft organisierten wir das Slavy Press Bureau (14. Mai 1918), womit unsre Propaganda ein offizielles publizistisches Zentrum erhielt; Redakteur Tvrzický, Smetánka, auch Vojta Beneš kümmerten sich aufopferungsvoll um unsere Presse und überhaupt um unsere ganze Aktion.
Nach Washington kam ich am 9. Mai; meine Arbeit begann sofort mit mehreren Interviews und der engen Fühlungnahme mit Mr. Charles R. Crane, den ich zum letztenmal in Kiew gesehen hatte. Ich stand mit Mr. Crane seit 1901 in guter Verbindung; er hatte damals einen slawischen Fond für die Universität in Chicago gestiftet, wo ich schon 1902 meine Vorträge gehalten habe. Seither widmete er sich im stillen, aber intensiv den slawischen Dingen; zugleich wurde er durch seine Stellung in der amerikanischen Industrie ins politische Leben seines Vaterlandes eingeführt. Die Einleitung meiner amerikanischen Tätigkeit bildete eine Fahrt mit ihm und seinen Bekannten, dem Landwirtschaftsminister Houston (wie ich erfuhr, dem Schützling des ehemaligen Präsidenten der Harvard-Universität, Elliot) und dem englischen Major Innes, auf das Schlachtfeld von Gettysburg, wo am 3. Juli 1863 Lee von Meade geschlagen wurde. Gettysburg macht als Denkmal des für die nationale Einigung geführten Krieges auf den Europäer einen großen Eindruck. Es gibt da eine Menge großer und kleiner Monumente, keineswegs nur eines oder mehrerer Feldherren; die Demokratie äußert sich auch darin. Nicht ohne Bewegung liest man in Metall Lincolns Botschaft, die den Geist der amerikanischen Demokratie in dem bekannten Spruch: »Aus dem Volke, durch das Volk, für das Volk!« erfaßt. Zur Erinnerung an den Besuch bekam ich eine Kugel, die der Ortspfarrer in einem Grabe gefunden und als abschreckendes Symbol des Kriegsgeistes aufbewahrt hat; als dasselbe Symbol liegt sie bis heute auf meinem Arbeitstisch.
Ich hegte die Hoffnung, in Amerika und insbesondere mit dem Präsidenten Wilson Glück zu haben. Ich bin mit Amerika persönlich und familiär eng verbunden. Schon seit 1878 habe ich das Land wiederholt besucht; die amerikanische Demokratie und die Entwicklung der amerikanischen Kultur überhaupt interessiert mich lebhaft seit dem Beginn meiner wissenschaftlichen und politischen Laufbahn.
Es gibt eine solche und eine solche Demokratie. Die amerikanische Demokratie ist auf religiöser Grundlage entstanden; das zeigen die neueren historischen Arbeiten über die Entwicklung der amerikanischen Republik klar; Tocqeville weist richtig auf die Wichtigkeit des moralischen Einflusses der Religion auf die amerikanische Republik hin. Die große Zersplitterung Amerikas in die vielfältigsten Sekten hat Republik und Demokratie nicht geschwächt; das Sektierertum ist ein Beweis der religiösen Energie und zugleich der modernen Individualisierung. Auch die Katholiken sind in Amerika, ähnlich wie in England, religiös gefestigter als in den katholischen Staaten Europas; darin wirkt die protestantische Umgebung auf sie.
Dieser religiöse Faktor war für die amerikanische Republik gerade bei ihrem Entstehen wichtig: die unzulänglichen Verkehrsmittel in dem riesigen, wenig bevölkerten Gebiet ließen eine durchdringende Verwaltung vom Zentrum aus nicht zu; darum erlangten die einzelnen religiösen Gemeinden und Kirchen durch ihre Organisation und als verbindendes Element große Wichtigkeit.
Die amerikanische Republik ist das Werk von Pionieren; das waren energische Menschen, die ihre Energie schon dadurch bewiesen, daß sie sich daheim vom gewohnten Milieu getrennt und in Amerika nur dadurch zu erhalten vermocht hatten, daß sie ihre Energie und Arbeitsamkeit steigerten. Die Pioniere suchten Freiheit und Wohlstand, – die amerikanische Republik dient bis heute vor allem dem ökonomischen Zweck und Ideal, und dies um so mehr, als sie politische und nationale Probleme nicht hat wie Europa. Independentismus und Puritanismus waren die wahre Religion der Pioniere. Die Verfassung, die im Geiste rationalistischer Rechtsphilosophie, wie sie damals in England und Frankreich verbreitet war, formuliert ist, stellt geradezu einen Kodex des Ökonomismus von Pionieren dar. Die amerikanischen Kolonien waren der englischen Dynastie durch die Auswanderung entfremdet; ohne Dynastie, hatten sie auch keinen Adel, keine Armee und keinen Militarismus. Die Republik entstand auf der Grundlage religiös organisierter Gemeinden, ihre Gründer waren nicht expansive Militärs, sondern Pioniere, vor allem Farmer, ferner Handelsleute und die allerdings unvermeidlichen Juristen. Dadurch unterschied sich der amerikanische Staat von den europäischen, namentlich von Preußen, Österreich und Rußland; auch die französische Republik hat die Einrichtungen des alten Regimes (Adel, Armee) geerbt, die es in Amerika nicht gab und nicht gibt. Der amerikanische Staat ist durch seine Entwicklung in die Ausmaße eines Kontinents gewachsen, aber das hat seine ursprünglichen Eigenschaften nur noch gestärkt. Und insbesondere blieb das Pioniertum durch die allmähliche Einnahme des Westens und Südens ein beständiger sittlicher und politischer Faktor.
Unser Staat würde, darüber habe ich mehr als einmal und auch auf dem Gettysburger Schlachtfeld-Friedhof nachgedacht, Amerika darin ähnlich sein, daß auch wir keine Dynastie haben und gegen eine fremde Dynastie voreingenommen sind; wir haben keinen Adel, keine Armee und keine militärische Tradition. Dagegen ist unser Verhältnis zur Kirche wegen der überlieferten Reformation nicht intim, und darin läge ein Minus, wenn wir uns nicht bewußt würden, daß Demokratie und Republik auf Sittlichkeit beruhen müssen. Unser erneuter Staat, unsere demokratische Republik muß auf einer Idee beruhen, – der neue Staat muß seine von der Welt allgemein anerkannte raîson d'être haben.
Die amerikanische Verfassung hat Besonderheiten, die Beachtung verdienen. Namentlich die Präsidentschaft. Der Präsident hat eine große, von der Verfassung verbürgte Macht; er wählt sich selbst die Regierung, und zwar nicht aus dem Parlament, – der amerikanische Präsident ist nach englischem Muster de facto ein wählbarer konstitutioneller König. Die Mängel des Parlamentarismus, gegen die heute überall protestiert wird, seine Uneinheitlichkeit infolge Anwachsens und Zersplitterung der Parteien könnten im amerikanischen Vorbild ein gewisses Korrektiv haben. Bedeutungsvoll ist auch die Einrichtung, daß die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze dem Urteil der Richter unterliegt, und andere Gewohnheiten.
Eine politische Lehre bietet Amerika uns auch dadurch, daß Republik und Demokratie föderativ sind; es ist das Gegenteil des europäischen Zentralismus, der sich nirgends bewährt hat. Auch die schweizerische Republik, eine kleine Republik, weist auf Autonomismus und föderativen Charakter hin. Aber die amerikanische Föderation und Autonomie muß sich gegen die Zentralisierung, die sich auf Kosten der Autonomie kräftig entwickelt, zur Wehr setzen; und zwischen der Autonomie der Staaten und der Zentralregierung ist noch keine innige Harmonie erreicht worden, die technischen Mängel dieser Disharmonie (Uneinheitlichkeit der Gesetzgebung, überflüssige Pleonasmen usw.) sind nicht überwunden.
Ich will hier das amerikanische Credo anführen, das in den Jahren 1916 und 1917 durch öffentliche Ausschreibung entstanden ist; Präsident Wilson und eine Reihe politisch und publizistisch tätiger Männer unterstützten die Ausschreibung, deren Ergebnis dieses Credo war, das vom William Tyler Page, einem Nachkommen des Präsidenten Tyler, abgelegt wurde. Der Text ist aus verschiedenen geeigneten Sätzen der Verfassung, der Unabhängigkeitserklärung, der Reden hervorragender Staatsmänner zusammengesetzt. Er lautet:
»
Amerikanisches Credo.
Ich glaube an die amerikanischen Vereinigten Staaten als an die Regierung des Volkes, aus dem Volke, für das Volk; deren wahre Macht aus der Zustimmung der Regierten fließt; an die Demokratie in der Republik; an die souveräne Nation vieler souveräner Staaten; an die vollkommene einzige und untrennbare Einheit; gegründet auf den Grundsätzen der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit, für die die amerikanischen Patrioten Gut und Blut geopfert haben.
Darum glaube ich, daß es meine Pflicht gegen mein Vaterland ist, es zu lieben; seine Verfassung zu stützen; seinen Gesetzen zu gehorchen; seine Flagge zu ehren; und sie gegen alle Feinde zu verteidigen.«
In Europa, hauptsächlich in Deutschland und Österreich, wird oft gegen den »Amerikanismus« als eine einseitig mechanistische und materialistische Weltanschauung polemisiert; man weist auf die Allmacht des Dollars, auf den Mangel politischen und staatlichen Sinnes, auf die Unzulänglichkeit der Wissenschaft und Bildung hin – das sind einseitige, übertriebene und gerade vom deutschen Standpunkt unberechtigte Vorwürfe. Als ob in Deutschland nicht der Mechanismus, der militärische, militaristische, staatliche Mechanismus, geherrscht hätte; der Materialismus feierte in Deutschland in der Philosophie und im praktischen Leben Triumphe, die deutsche Wissenschaft und Philosophie ordnete sich dem preußischen, pangermanistischen Gewalthabertum unter. Daß Mitglieder europäischer regierender Familien und Aristokraten aller Länder nach amerikanischen Dollarprinzessinnen zu suchen pflegen, ist bekannt, und der Gothasche Kalender enthält Belege dafür; daß diese Menschen mit dem amerikanischen, absolut unmilitärischen Humanitismus nicht sympathisieren können, ist begreiflich. Wenn es aber als Beweis gegen den amerikanischen Demokratismus angeführt wird, so muß es ebenso gegen den europäischen Aristokratismus angeführt werden. Mir ist die amerikanische Kultur sympathisch, und ich glaube, daß sie unseren Auswanderern, also einem beträchtlichen Teil der Nation, sympathisch ist. In Amerika können und müssen wir nicht nur das Maschinenfach lernen, sondern auch die Liebe zur Freiheit und zur individuellen Selbständigkeit; die republikanische politische Freiheit ist die Mutter der eigentümlichen amerikanischen Naivität und Unverhülltheit im gesellschaftlichen, doch auch politischen und wirtschaftlichen Verkehr. Das Humanitätsideal ist praktisch in vorbildlichen Krankenhäusern verwirklicht (das Pflegewesen!). In Amerika hat sich eine menschenfreundliche, generöse Verwendung von Geld entwickelt, – Amerika bringt in vieler Beziehung schöne Vorbilder der künftigen Kultur hervor.
Ich will und kann nicht behaupten, daß es in Amerika keine Schattenseiten und keine schweren Probleme gebe. In der Literatur wird der Kampf mit den veralteten Formen des Puritanismus und seiner Beschränktheit und Härte schon ziemlich lange geführt (Hawthorne, Scarlet Letter 1850, und auch das ist nicht der erste Angriff) und ebenso mit der amerikanischen Krähwinkelei der kleinen und großen Städte und Landschaften. Die jüngere Kritikergeneration ficht gegen den Mangel an Sinn für die Kunst aller Gebiete, gegen den Mangel an Verständnis für soziale und sozialistische Gesinnung, gegen die Typisierung und die Standardisierung alles geistigen und kulturellen Lebens. Wenn der amerikanische Philosoph Baldwin mit großem Nachdruck das Primat des ästhetischen Bewußtseins (»Pankalismus«) verficht, so kann man daraus folgern, daß es diesen Sinn im amerikanischen Leben nicht gibt.
In der Literatur kann man den Ursprung und die Entwicklung der Dekadenz studieren; eine Reihe von Schriftstellern befaßt sich mit diesem Problem, unter anderen auch die bekannte Schriftstellerin Mrs. Wharton. Von Zeit zu Zeit liest man auch bei uns Nachrichten aus Amerika über gewerbsmäßige Fruchtabtreibung, über die große Anzahl von Scheidungen usw. Denkt man über die Ursachen der Dekadenz nach: in Frankreich soll sie hauptsächlich durch Militarismus verursacht, Frankreich durch seine Kriege und Revolutionen ausgeblutet und geschwächt sein; Amerika dagegen, das Land ohne Armee, ohne Militarismus, ein reiches Land, verkümmert angeblich gerade infolge Friedens und Reichtums! Spricht man außerdem von Amerika als von einem jungen Lande, so muß betont werden, daß Amerika nicht jung, neu ist, – die Bewohner kommen alt aus Europa und erschöpfen sich durch ihre Pioniersenergie. In Europa wird die Dekadenz auch der Übervölkerung und ihren Folgen zugeschrieben, – Amerika hat wenig Bevölkerung und weist trotzdem Merkmale der Dekadenz auf! Wer weiß, wie das Gemisch und Durcheinander der Nationen (»great melting-pot« sagen die Amerikaner) nicht nur moralisch, sondern auch biologisch wirkt? Nervosität und Psychose sind sehr verbreitet, die Zahl der Selbstmorde wächst wie in Europa. Insbesondere wird auf die Nervosität – ich sagte lieber Nervigkeit – der amerikanischen Frau hingewiesen.
Ich war wiederholt in Baltimore und besuchte das Grab Poes: ein Dekadent; der Vergleich mit Baudelaire liegt nahe, obgleich der Unterschied klar ist: Poe weist z. B. nicht die nervöse Sexualität in solchem Maße auf. Mir fiel auch Dostojevskij ein, gewiß auch ein Dekadent; ich dachte darüber nach, daß man auch in der »neuen« und »frischen« amerikanischen und russischen Welt findet, was das »alte« Frankreich darbietet – man wird die gewohnte Klassifikation der Nationen gründlich revidieren müssen.
Alle diese und die übrigen amerikanischen Fragen verfolgte ich stets mit großem Interesse, auch in der schönen Literatur. Ich kam zu Amerika in enge und intime Beziehung in der Zeit (1877), da sich dort ein besonderer Realismus und mit ihm neue Strömungen geltend machten: der durch den Bürgerkrieg entstandene Riß in der Nation war vernarbt, und die Einigung und Kraft äußerten sich in einem kritischen und realistischen Bewußtwerden des besonderen Wesens Amerikas und des Amerikanismus.
Mein Interesse konzentrierte sich seit meiner ersten Berührung mit Amerika auf Howles und seinen Realismus: an ihm ließe sich die These beweisen, daß der Realismus die Methode der Demokratie ist – die Beobachtung und künstlerische Gestaltung des sogenannten alltäglichen, de facto nichtaristokratischen Lebens. Gerade in der Zeit, als ich mich eifriger mit der amerikanischen Literatur zu beschäftigen begann, spielte sich der berüchtigte Vorfall mit Comstock und sein Feldzug gegen die einheimische und fremde Literatur ab. Durch meine persönliche Verbindung mit Amerika wurde ich in lebhaften Verkehr mit den damals lebenden großen amerikanischen Schriftstellern gebracht; im Jahre 1877 und in den zwei folgenden Jahrzehnten lebten und starben die Repräsentanten der älteren Generation – W. C. Bryant, Longfellow, Whittier, Lowell, Whitman, Holmes, Emerson. Durch meine Familienbeziehungen wurde ich zum Studium der älteren Literaten und Geistesarbeiter angeregt, Thomas Paines, Theodore Parkers, der beiden Dana, Daniel Websters u. a. Hawthornes Namen habe ich schon erwähnt – durch seinen Inhalt und künstlerischen Wert reiht er sich an Poe.
In Europa und namentlich bei uns ist die amerikanische Literatur nur stückweise bekannt: zu Unrecht. Ich gebe zu, daß ich an den amerikanischen Philosophen keinen Gefallen gefunden habe, weder an der Richtung Edwards noch der Franklins: auch die neueren Richtungen haben mich nicht interessiert. Der Pragmatasismus James' ist mir erkenntnistheoretisch ebenso unannehmbar wie der Positivismus. Mehr interessierte mich James' Bruder, vor allem durch seine Versuche, den Charakter der Amerikaner (Daisy Miller) und der Europäer zu schildern, – wie ich die geistige Entwicklung Amerikas überhaupt mehr in der schönen Literatur verfolgt habe.
Insbesondere der Kampf gegen den Puritanismus und Calvinismus ragt durch eine modernere, humanere Anschauung hervor. In der Literatur sieht man auch den Kampf gegen die Sklaverei, der dort lange vor dem Bürgerkrieg geführt wurde. Überhaupt läßt sich in der amerikanischen Literatur ein starkes Element des Fortschritts beobachten; der Amerikaner hat keine Furcht vor dem Neuen, er ist sich bewußt, daß sein Staat und seine Nationalität durch Revolution entstanden sind; daher auch die wahrhafte Sympathie mit allen Völkern, die sich befreit haben. Auch wir fanden in Amerika Sympathien um unseres Aufstandes gegen Österreich willen, wie vor uns andere Nationen.
Die Frauenfrage und die Liebe bilden freilich ein wichtiges Thema der amerikanischen Romanschriftsteller; gerade auf diesem Gebiet sieht man das Emporwachsen des amerikanischen Realismus, der sich parallel zum Realismus der europäischen Literaturen und keineswegs ohne seinen Einfluß entfaltet hat.
In der amerikanischen Literatur lernt man natürlich die mannigfaltigen, mehr äußeren Seiten des amerikanischen Lebens kennen. Man kann das Leben der verschiedenen Teile des kontinentalen Staates, den Osten, Westen, die Mitte und den Süden, und die soziale Existenz der besonderen Volksschichten, vor allem der Neger und auch der verschiedenen Einwanderer, studieren. Auch die hervorragenden Phasen der amerikanischen Geschichte und ihre Heroen werden uns (etwas unkünstlerisch) dargeboten; man kann beobachten, wie die amerikanischen Schriftsteller sich allmählich des Wesens des Amerikanismus (in Sprache, Sitten, Gesamtanschauung) und ihres Unterschiedes vom Europäertum und speziell vom Angelsachsentum bewußt werden.
Charakteristisch ist die kurze Novelle – im Zeitalter des Telegraphen und des Telephons wird auch im wissenschaftlichen und literarischen Stil Kürze und Gedrängtheit erreicht, obgleich zu bemerken ist, daß die kurze Erzählung ziemlich alt ist (Poe!). Die kurze Novelle gedeiht ja auch in Europa.
In Europa wurde 1914 der Krieg vorbereitet, während in einer amerikanischen Wochenschrift satirische Gedichte als Stimmen Verstorbener zu erscheinen begannen, die die lügnerischen Lobsprüche auf ihren Grabmälern berichtigen. Im Jahre 1915 erschien die Sammlung als »Spoon River Anthology«. Schon der Titel drückt die Satire auf Amerika, auf seine nicht nur geistige, sondern hauptsächlich sittliche Krähwinkelei aus. Zweieinhalb Hundert Gedichte mit einem Epilog. Mich interessierte an der Sammlung nicht die Poesie (sie enthält vielleicht nicht viel davon), sondern der Aufruhr gegen die bisherige amerikanische Kultur und Zivilisation: philosophische Argumente, die in Europa zur Zeit Voltaires und vor ihm verwendet wurden, dazu ein Widerhall aus Browning und aus Teilen des »Faust«. Die Satire Edgar Lee Masters ist ein Kompendium von Argumenten des jungen – eigentlich jüngsten – Amerika; der Autor lebt in Chicago und verdammt Chicago und die amerikanischen Großstädte; Jesus z. B. ist ihm ein Bauer, der in der Stadt durch die Stadt, durch Bankiers, Rechtsanwälte und Richter, erschlagen wird.
Nach Masters setzte eine Reihe von Schriftstellern diese literarische Revolution fort. Dreiser schildert Chicago, diesen Titan der Städte, und führt uns den Titan Multimilliardär vor: Sodom und Gomorrha sind eine Zufluchtstätte der Tugenden dagegen, was Dreiser uns darstellt – der sittliche Verfall der römischen Cäsaren, Renaissance-Italiens, Paris, Moskaus, Berlins erreicht nicht die dekadente Perversität Chicagos oder New Yorks. Und Dreisers Anklage ist nicht vereinzelt; ebenso treten Anderson und viele andere auf.
Wenn diese Kritiker Amerikas sich bewußt Realisten nennen, so ist es eine Nachahmung der Russen und Franzosen; ex thesi sind sie Gegner des Romantismus und Idealismus (des neuenglischen Transzendentalismus). Es ist ein Kampf gegen die Kirchen, gegen die Maschine und ihre materiellen und geistigen Folgen, also gegen den Industrialismus, Kapitalismus und Mammonismus, ein Kampf gegen die Beschränktheit, gegen den Pragmatismus in der Philosophie und die Überschätzung der Wissenschaft, ein Kampf für die wahre Freiheit des Gewissens und die Freiheit des Weibes. Tout comme chez nous in Europa. Und die gleichen Fehler – eine radikale Einseitigkeit gegen die Einseitigkeit, Unklarheit und Unbestimmtheit der Ziele, Negativität, eine gewisse, eben amerikanische Oberflächlichkeit, hier und da Schwärmerei für die »freie Liebe« und übertriebener Sexualismus. Dem Puritanismus Mangel an Sinn für Poesie und Kunst und damit für geistigen Fortschritt vorzuwerfen, ist einseitig: das Alte und Neue Testament, das die Puritaner immer wieder lasen, enthält mehr Poesie und Romantismus, als seine ultrarealistischen Gegner; und ich glaube, daß man eine hübsche Doktorschrift schreiben könnte, wie Poe und seine Phantastik und journalistische Sensation in hohem Maße ihren Ursprung in der Entfremdung von Natur und Menschlichkeit haben, die der Puritanismus und nach ihm der Transzendentalismus durch ihre Phantastik gepflegt haben.
Neben diesen »sogenannten Realisten« gibt es eine lange Reihe neuerer Dichter, Realisten und Idealisten, von den letzteren viel mehr, – der Romantismus wurde in Amerika durch die Maschine und den Kapitalismus nicht entwurzelt. Vielleicht wurde er gestärkt, – den Wunderglauben, ein Hauptelement des Romantismus, haben die realistischen Wunder der modernen Mechanik bereichert. (Die Werke von Wells und ihr Einfluß in der amerikanischen Literatur!)
Auch gibt es eine Reihe von weiblichen Schriftstellern, wenn auch verhältnismäßig nicht so viele wie in England; mich interessiert dieses zahlenmäßige Verhältnis, ich kann es mir nicht gut genug erklären. Während ich es jetzt beiseitelasse, möchte ich von den neuen Schriftstellerinnen zwei erwähnen: Miß Willy Cater und Miß Canfield; beide schildern den Westen, eigentlich die westliche Mitte des Kontinents, wohin viele amerikanische Soziologen das Kulturzentrum des neuen Amerika aus dem Osten verlegen. Beide analysieren sie den Puritanismus, aber weniger einseitig und weniger negativ. Miß Canfield versucht ausdrücklich kritisch eine richtigere, reinere Anschauung vom Mann und vom Weibe und ihrem Verhältnis zueinander herauszuarbeiten, als die amerikanischen Dekadenten sie im Gefolge der europäischen Dekadenz bieten; doch erleichtert sie sich die Aufgabe dadurch, daß sie den Mephisto so schwarz malt, daß ihm das amerikanische Gretchen unschwer widersteht. (Miß Cater schildert auch tschechische Auswanderer; wie mir scheint, bei aller Liebe realistisch richtig.)
Interessant ist es, an der amerikanischen Literatur den Einfluß Europas zu verfolgen; insbesondere in der neueren Literatur zeigt sich außer dem englischen Einfluß (dieser war in älterer Zeit entscheidend) ein starker Einfluß des französischen, russischen und skandinavischen Schaffens (während der deutsche Einfluß sich mehr in der Wissenschaft äußert): Amerika europäisiert sich überhaupt so, wie Europa sich amerikanisiert: Amerika neigt von sich aus zur regeren geistigen Kultur, das einseitige wirtschaftliche Interesse und seine Enge werden verurteilt; zugleich amerikanisiert sich Europa gleichfalls aus sich selbst.
Diese Annäherung des neuen Amerika an Europa ist auch politisch bemerkenswert. Man kann den Einfluß der Einwanderer aufspüren, namentlich der Deutschen und der Juden. Andererseits verzeichne ich das Interesse, das Jung-England an Jung-Amerika nimmt, wenn auch dieses sich (vielleicht gerade darum) bewußt gegen das Angelsachsentum stellt, indem es verkündet, daß Amerika nicht mehr angelsächsisch sei. Und es ist nur organisch, wenn in Amerika neben Wells, wie ich sehe, auch Bennett, Cannan, Walpole und Lawrence viel gelesen werden. Daß Amerika sich den Alliierten angeschlossen hat und so sein lebhaftes Interesse an Europa bewies, geschah gewiß auch infolge dieser geistigen Entwicklung und der Wandlung des neuen Amerika, wie sie sich in seiner Literatur äußert.
Übrigens war, wie ich bemerken will, mein Interesse an der amerikanischen Literatur viel mehr politisch als literarisch: wie in Frankreich und England suchte ich in Amerika in der Literatur die Antwort auf die Frage, wie sich die Amerikaner am Kriege beteiligen werden, mit welchem Geist und Glück. Selbst die schärfsten Kritiker und Unzufriedenen kündigten nichts Böses an.
Was ich sah und hörte, bestärkte meine Überzeugung, daß Amerika zu gewichtigem Teil zum Siege beitragen werde. Und besonders interessierte ich mich für die Stärke der nach Europa gesandten Truppen und ihre Ausrüstung. Mit Freude vernahm ich, daß die deutschen Unterseeboote unschädlich seien, die Überfahrt der Truppen und die Ausrüstung tadellos. Ich erfuhr in Amerika in anschaulicher Weise, welch ungeheuere Beteiligung die Industrie am Kriege hatte – es waren erstaunliche Mengen von Waffen und Nahrungsmitteln. Ein Krieg der Massen mit Massen! Die Erzeugung von Gewehr- und Kanonenläufen, Maschinengewehren usw. – all dies vermehrte sich in fast schwindelerregenden Zahlen. Wie rasch wurden Schiffe gebaut! Zu Beginn des Krieges waren beinahe Wunder von der Fabrikation unzähliger Flugzeuge erwartet worden – doch diese Hoffnungen wurden betrogen. Militärs legten mir mit großer Genugtuung dar, wie die Franzosen über ihre technische Geschicklichkeit staunten, als sie sahen, wie rasch sie Bahnen vom Hafen zum Kriegsschauplatz anlegten usw. Auch in Amerika gab es Kriegsreiche und »Haifische«.
Mir imponierte die Verpflegung der amerikanischen Truppen, nicht nur der Offiziere – sie war geradezu luxuriös, wie der Europäer sagen würde, der an aristokratische Armeen gewöhnt ist, die sich vor allem um den Offizier kümmern.
Ich trachtete, so schnell wie möglich in die politische Situation des Landes einzudringen. Praktisch bedeutete das, die einflußreichsten und entscheidenden Persönlichkeiten in der Regierung, im Kongreß und in der Gesellschaft kennenzulernen. Darin wurde mir Mr. Crane ein ausgezeichneter Helfer, denn er kannte fast alle Menschen, die mich interessierten, insbesondere stand er dem Präsidenten Wilson nahe; sein Sohn, Mr. Richard Crane, später der erste amerikanische Gesandte bei uns, war Sekretär des Staatssekretärs des Äußern, Mr. Lansing.
Die Propagandatätigkeit erforderte den Besuch der wichtigsten Städte der Vereinigten Staaten, die Anknüpfung persönlicher Beziehungen und die Erneuerung alter Bekanntschaften. Es ging darum, die öffentliche Meinung zu gewinnen; das ist auch gelungen. Bald konnte ich Interviews und Artikel in den größten und einflußreichsten Tageszeitungen, Wochenschriften und Revuen veröffentlichen. Zu vielen hervorragenden Publizisten aller Richtungen gelangte ich in persönliche Beziehung; als Beispiel erwähne ich Mr. W. Hard, mit dem ich öfter zusammenkam, ferner Mr. Bennett, Mr. Dixon (Boston) und Mr. Martin (Cleveland). Ich gebe die übrigen Namen nicht wieder, um niemand aus der großen Anzahl zu vergessen; ich bin allen, der ganzen amerikanischen Journalistik zu Dank verpflichtet.
Ich besuchte verschiedene Vereine und Klubs (z. B. den schon erwähnten Chicago-Club u. a.). Außer mit der Publizistik war in Washington der Verkehr mit Abgeordneten der beiden Hauptparteien und aller Richtungen gegeben (Mr. Hitchcock, Präsident des Auswärtigen Ausschusses des Senats, u. a.). Es versteht sich, daß ich auch Republikaner aufsuchte; ich trachtete z. B. den Senator Lodge u. a. zu informieren. Den Senator Root hatte ich bereits in Rußland kennengelernt.
Es gelang mir, außer zu den Abgeordneten bald auch in direkte Beziehung zu Mitgliedern der Regierung und wichtigen Beamten der verschiedenen Ministerien zu treten; außer Lansings gedenke ich vieler; es sind vor allem Mr. Phillips, der erste Unterstaatssekretär, Mr. Polk, Rat des Staatsamtes, Mr. Long, Unterstaatssekretär. Ferner der Militärsekretär Mr. Baker, der Sekretär des Innern Mr. Lane u. a. Schließlich knüpfte ich durch Vermittlung Mr. Cranes Beziehungen zu Oberst House und zum Präsidenten Wilson an.
Vorteilhaft war die Bekanntschaft mit dem Vorbereitenden Komitee, das Material und Denkschriften für die Friedensverhandlungen und den Präsidenten bearbeitete; ich nenne den Vorsitzenden Professor Mezes. Von Tschechen war Professor Kerner sein Mitarbeiter. Große Wichtigkeit hatte später der journalistische Stab (Mr. Creel), der für die Friedenskonferenz organisiert wurde. Zu ihm und überhaupt zu allen wichtigen Organisationen und Institutionen knüpfte ich Beziehungen an.
Für den Verkehr mit Universitäten und der Gelehrtenwelt hatte ich nicht viel Zeit; doch besuchte ich die Chicagoer und die Harvard-Universität; den Präsidenten der Chicagoer Universität habe ich schon genannt; aus Cambridge gedenke ich vor allem des Präsidenten Elliot, der für alle politischen Fragen in Europa, wie in allem, ein wahres wissenschaftliches Interesse bewies. Von Historikern erinnere ich mich Professor Coolidges; Professor Wiener, der Slawist, ist ein längst bekannter Mann; von der New Yorker Columbia-Universität unterstützte mich Präsident Butler durch seine Sympathie und sein Verständnis für die Weltlage.
Nach Amerika pflegten ziemlich oft Publizisten und andere politisch tätige und einflußreiche Männer aus Europa zu kommen; ich kam mit Bergson, mit dem mir aus Paris schon bekannten Chéradame u. a. zusammen.
Wie überall unterstützten mich auch die Juden. Und gerade in Amerika »rentierte« sich mir, wenn ich so sagen darf, die Hilsneriade. Schon im Jahre 1907 hatten die Juden in New York einen riesigen Empfang für mich veranstaltet; diesmal hatte ich viele persönliche Zusammenkünfte sowohl mit Vertretern der orthodoxen Richtung als auch mit Zionisten. Von diesen nenne ich Mr. Brandeis, Mitglied des Obersten Gerichts, seiner Herkunft nach aus Böhmen; er war gut mit dem Präsidenten Wilson bekannt und genoß sein Vertrauen. In New York war Mr. Mack einer der führenden Zionisten. Auch mit Sokolov, dem einflußreichen zionistischen Führer, wurde ich persönlich bekannt. In Amerika haben die Juden wie in Europa großen Einfluß in der Journalistik; es war sehr vorteilhaft für uns, diese Großmacht nicht gegen uns zu haben. Auch diejenigen, die mit meiner Politik nicht übereinstimmten, benahmen sich zurückhaltend und unparteiisch.
Besonders muß ich hervorheben, daß ich in Amerika die Pazifisten und ausgesprochen germanophile Personen und Richtungen viel kultiviert habe; in diesem Lager standen Bekannte aus früherer Zeit, und mir lag daher um so mehr daran, ihnen gegenüber unsere nationale Sache zu verfechten. Das war wichtig, weil der Pazifismus ziemlich verbreitet war und unwillkürlich, wie auch anderswo, die Deutschen unterstützte. Der deutsche Einfluß, direkt und indirekt, stellte einen ernsten Faktor dar, – der hohe Prozentsatz von Amerikanern, die in Deutschland geboren sind oder von deutschen Eltern stammen, erklärt dies. Besondere Erwähnung will ich dem ehemaligen Präsidenten Roosevelt widmen. Vor dem Kriege war ich, wie man aus meinem Artikel gegen ihn ersehen kann, sein Gegner. Im Kriege stellte sich Roosevelt entschlossen gegen Deutschland und nahm sich in Reden und Kundgebungen sehr der Tschechen an. Štefánik hatte ihn für uns gewonnen. Ich begegnete ihm nur einmal flüchtig am Lafayette Day in New York. Dort hörte ich ihn zum erstenmal reden. Zu einem persönlichen Verkehr bot sich keine Gelegenheit, doch hatten wir eine Reihe gemeinsamer Freunde. Nach dem Kriege, nicht lange vor seinem Tode, sandte mir der Expräsident den ausführlichen Plan einer beabsichtigten Vortragsreise nach Europa. Er dachte daran, auch bei uns in Böhmen einen ganzen Zyklus politischer Vorträge zu halten.
Last not least – bald suchte ich Bekanntschaften in den Finanzkreisen, nicht so sehr in den offiziellen (im Finanzministerium, Minister war Mc' Adoo, Wilsons Schwiegersohn), sondern mit Bankleuten (z. B. dem Banker's Club in New York u. a.).
Wie man sieht, organisierte ich – übrigens wie überall – unsere Propaganda demokratisch; das Ziel war, die amerikanische öffentliche Meinung und mit ihr und durch sie die Regierung und die politischen Persönlichkeiten zu gewinnen. Sehr bald überzeugte ich mich aus Zuschriften und den zahlreichen Einladungen, Versammlungen zu veranstalten, auch aus Besuchen mir bisher unbekannter Personen, daß unsere Sache sehr erfolgreich Fuß faßte; und ich sah es aus der Tagespresse. Wir gewannen überall in dem weiten Lande Freunde und Gönner; statt vieler will ich hier einen Namen, den des Seeoffiziers Townsend erwähnen, – die Grippe hat den jungen Mann leider gefällt; noch todeskrank hat er für uns gearbeitet. (Er war ein Sohn des ehemaligen Sekretärs der amerikanischen Botschaft in Wien.)
Bei meiner Arbeit stand mir, wie schon gesagt, Herr Pergler bei; ich brauchte jedoch bald einen literarischen Sekretär, und den fand ich in Herrn Císař, der in der Mathematik, den Naturwissenschaften und zugleich in der schönen Literatur gebildet war. Er besorgte neben Herrn Pergler viele nützliche Propagandaarbeit.
Die Demokratie und die demokratische Propaganda schlossen rege Beziehungen zu den Gesandtschaften nicht aus; durch sie mußte ich die Aktion Beneš und Štefániks in Europa unterstützen. Sie erwiesen mir alle die wertvollsten Dienste. An erster Stelle gebührt es sich, den französischen Botschafter M. Jusserand zu nennen. Er lebte schon lange Jahre in Washington, kannte alle Leute und wurde gekannt und hatte von allen Botschaftern den größten Einfluß auf die amerikanischen Staatsmänner und den Präsidenten Wilson. Durch seine politische und literarische Bildung (M. Jusserand betätigte sich als englischer und französischer Schriftsteller) war er in der Diplomatie und in der Gesellschaft in Washington eine anerkannte Autorität.
Auch in der französischen Militärmission mußte öfter verhandelt werden; nicht weniger mit jenen Franzosen, die in besonderer Mission nach Amerika entsandt worden waren, wie z. B. der Philosoph Bergson u. a.
Einen sehr lieben und häufigen Verkehr pflegte ich mit Engländern. Botschaftsrat Mr. Hohler, der Konstantinopel und Petersburg kannte, vertrat zu jener Zeit den Botschafter. Dann kam Lord Reading nach Washington und förderte uns sehr ausgiebig.
Von englischen Bekannten erwähne ich noch Sir William Wiseman, den ich bereits aus England kannte und der uns als Chef der englischen Erkundungsorganisation in vieler Beziehung behilflich war. Ich will über ihn bald noch ein Wort sagen.
Der italienische Botschafter, Conte Celere, begriff gut unsere Lage und unsere Bemühungen um den Ausbau der Legionen aus unseren Gefangenen in Italien; er begriff, was die Legionen sittlich und politisch gegen Österreich bedeuten, und half darum nach Möglichkeit.
Belgien wurde in Washington durch Baron Cartier, einen erfahrenen, guten Berater, vertreten.
Der japanische Botschafter, Graf Ishii, vermittelte die schwierigen Beziehungen zu Japan und Sibirien.
Und schließlich versteht es sich von selbst, daß ich sofort nach meiner Ankunft in den Vereinigten Staaten mit der serbischen Gesandtschaft und allen südslawischen Faktoren und Mitarbeitern in dauernden Verkehr trat.
Rußland wurde in Washington auch in der bolschewikischen Zeit vom früheren Botschafter Bachmetěv vertreten.
Zur Propaganda, durch die wir in Amerika (und bei den Alliierten überhaupt) die Anerkennung erreichten, gehört die Zusammenarbeit mit den Auslandsorganen und Repräsentanten der anderen, ihre Befreiung anstrebenden Nationen. Mir lag von allem Anfang daran, den Alliierten, fast möchte ich sagen, anschaulich vor Augen zu führen, daß der Krieg die politische Änderung vor allem Mittel- und Osteuropas, die Befreiung einer ganzen Reihe von Nationen, die durch die Zentralmächte unterdrückt wurden, zum Ziele habe und haben müsse. Deshalb trat ich so oft wie möglich gemeinsam mit den Führern der anderen Befreiungsorganisationen vor die Öffentlichkeit.
Die intime Zusammenarbeit mit den Südslawen war durch mein Verhältnis zu ihnen vor dem Kriege und besonders während der Balkankriege gegeben. Ich hatte mit der Zusammenarbeit im Kriege gleich in Prag begonnen; wie sie sich in Rom, Genf, Paris, London und in Rußland entwickelt hat, habe ich schon dargelegt.
In Amerika wurde sie dadurch wirksamer, daß die Südslawen dort, so wie wir, ansehnliche Kolonien aufweisen; ihre Mitglieder waren einige auch den Amerikanern bekannte Männer (Professor Pupin); als Vorsitzender des Nationalrates (in Washington) wirkte der mir schon seit Jahren bekannte Dr. Bianchini, der Bruder des dalmatinischen Abgeordneten. Auch die Südslawen hatten gleich 1915 Abgesandte zu ihren Landsleuten entsendet – Dr. Potočnjak, Marjonović, Milan Pribićević, später (1917) Dr. Hinković u. a. Nicht nur die Führer arbeiteten zusammen, sondern wir traten auch als Masse in gemeinsamen Versammlungen auf; die Unsrigen sprachen in ihren Versammlungen für die Freiheit der Südslawen, sie in den unseren für unsere Freiheit.
Wenn ich jetzt über unsere Zusammenarbeit mit den Südslawen in Amerika berichten soll, so muß ich allerhand ergänzen und mich auch über die südslawischen politischen Fragen und Zustände aussprechen. Ich will es mit der gebührenden Diskretion tun; ich verfolgte in unserem Interesse die Entwicklung der politischen Verhältnisse für die Südslawen sehr aufmerksam, kannte viele Dinge schon von früher her und lernte viele während des Krieges kennen – aber ich schreibe nicht die Geschichte der südslawischen Freiheitsbewegung, sondern erwähne nur Dinge, die uns direkt betrafen und in die wir im Laufe der Geschehnisse hineingezogen wurden.
Über meinen Standpunkt in der südslawischen Frage habe ich schon gesagt, daß ich Serbien – trotz seinen zeitlichen Mißerfolgen im Felde – als das Zentrum der Südslawen betrachtete; das politische und militärische Zentrum war während des Krieges ausschlaggebend. Die Kroaten hatten sicherlich ihre besonderen Rechte; es war richtig, sich auf historische Rechte und eine gewisse kulturelle Reife zu berufen, aber das schloß die Anerkennung Serbiens als Kristallisations- und politischen Zentrums nicht aus. Das war durch die Geschichte gegeben, durch die richtige Wertung der Leitideen und -kräfte und vor allem durch die richtige Einschätzung Österreichs und Ungarns.
Der Krieg war von Österreich wegen Serbiens hervorgerufen worden; das damals kleine Serbien setzte seine Haupthoffnung auf die feierlichen Versprechungen des Zaren, des großen slawischen Bruderreiches – die Niederlagen Rußlands seit Frühjahr 1915 hatten den Schwerpunkt der serbischen und südslawischen Frage nach dem Westen verlegt. Der Londoner Pakt vom 26. April 1915 machte aus dem Verhältnis Italiens zu Serbien und den Südslawen ein großes Problem, durch das die weitere Entwicklung des Krieges und des Kriegsprogramms in hohem Maße bestimmt wurde.
Die Bedingungen des Londoner Paktes gefielen mir nicht, aber die Frage war nach der Kriegslage 1915 die, ob der Eintritt Italiens in den Krieg nicht auch für die Südslawen nötig sei, damit Österreich nicht Sieger bleibe. Italien hatte seine Irredenta, und es war natürlich, daß es seine Minderheiten reklamierte und sich auf historische Rechte berief. Dieser Gesichtspunkt ist anfangs nicht verstanden worden; manche Kroaten und Slowenen sahen in mir einen zu großen Italophilen und Serbophilen; mit umso größerer Anerkennung stelle ich hier deshalb fest, daß die führenden Kroaten, namentlich Dr. Trumbić, mit der fortschreitenden Zeit die Bedeutung Italiens für die alliierte und insbesondere auch die südslawische Sache erkannten; Rußland ging seit dem Londoner Pakt in der südslawischen Frage mit den Italienern und den Alliierten.
Ich gebe zu, daß viele Serben, namentlich offizielle Persönlichkeiten, gegen die Kroaten voreingenommen waren, aber diese waren auch gegen die Serben voreingenommen. Das gemeinsame Interesse gebot, gegen Serbien nicht feindselig aufzutreten. Bis zu welchen Absurditäten manche Leute gelangten, ersieht man aus dem Gerede, unsere Aktion sei von der serbischen Regierung finanziert worden! Insbesondere Štefánik wurde direkt verdächtigt. Von Zeit zu Zeit gab ich nach Bedarf (auch schriftliche) Darlegungen und zerstreute das Mißtrauen. Doch spielte nicht nur Mißtrauen, sondern auch eine gewisse, ich möchte sagen, freundschaftliche Eifersucht eine Rolle – die südslawischen Freunde verbargen nicht ihr Erstaunen, daß wir Tschechen in der politischen Welt so bald durchdrangen, und hauptsächlich neideten sie uns die ausdrückliche Erwähnung in der Antwort der Alliierten an Wilson. Das Gleiche ließ sich auch bei den Polen beobachten, – beide vergaßen unsere Legionen und unser einheitliches und vor allem konsequentes programmatisches Vorgehen, während sie, was das Programm anbelangt, lange schwankten. Wir hatten auch nicht solchen Zwist und innere Kämpfe, wie unsere Freunde, und gewannen die Alliierten gerade durch unsere Zucht und Bestimmtheit, während Südslawen und Polen sich bei den Alliierten übereinander beklagten. Nur in Rußland war anfangs in unserem Lager nicht alles in Ordnung gewesen. Selbst Dr. Trumbić ließ sich von der unbegründeten Verdächtigung beeinflussen, wie ich von Teilnehmern an den Debatten von Korfu gehört habe, wo er uns des Egoismus beschuldigte. Aber Hauptsache war, daß Trumbić, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, sich in Korfu mit Pašić verständigte (20. Juli 1917) und beide die Deklaration unterschrieben; die serbische Regierung und der Südslawische Ausschuß einigten sich auf die vollständige staatliche Einheitlichkeit der dreinamigen Nation unter der Dynastie Karageorgević; die Konstituante, die nach Friedensschluß mit allgemeinem Stimmrecht gewählt werden sollte, habe die Verfassung auszuarbeiten, die mit qualifizierter Mehrheit anzunehmen sei. Das Übereinkommen Pašić-Trumbić in Korfu freute mich um so mehr, als der Südslawische Ausschuß seit 1916 schon bedenklich wackelte; ich erfuhr in Amerika, daß Trumbid und Supilo die Deklaration von Korfu mit Steed und Seton-Watson verabredet hatten. Es war ein bedeutender politischer Erfolg, als im Juli, nach der Deklaration von Korfu, Lloyd George, von den Kriegszielen sprechend, auf dem Podium Sonnino und Pašić neben sich hatte.
Bedeutsam und nützlich war der Kongreß in Rom (8. April 1918); alle unterdrückten Völker Österreich-Ungarns einigten sich auf ein gemeinsames Vorgehen gegen ihren Unterdrücker; gerade auch die Italiener und die Südslawen fanden sich in Freundschaft. Sie schwächten dadurch die Wirkungen des Londoner Vertrages ab; dieser hatte übrigens im Laufe der Zeit seine Schärfe eingebüßt; wenn sich auch viele italienische Politiker auf ihn beriefen, so erkannte ihn die öffentliche Meinung Europas und Amerikas – selbst Präsident Wilson – nicht an. Das Verdienst um die Einigung in Rom fällt wiederum den Herren Steed und Seton-Watson zu.
Die Annäherung zwischen Italienern und Südslawen hatte nach Caporetto Fortschritte gemacht, – beide Parteien erkannten, daß sie einander näher seien, als der österreichisch-ungarischen Monarchie, und die Südslawen sahen ein, daß die Niederlage Italiens ihre eigene Niederlage war. Mr. Steed lud Mitte Dezember Italiener und Südslawen zu einer gemeinsamen Versammlung ein; sie einigten sich gegen Österreich-Ungarn. Darauf überredete Mr. Steed den Premier Orlando, mit Trumbić zu verhandeln. Das geschah in Gegenwart Steeds im Januar 1918. Im Februar bereitete ein italienischer mit einem französischen parlamentarischen Ausschuß den Kongreß der unterdrückten Völker Österreich-Ungarns vor; die Verhandlungen waren nicht leicht. Sie wurden in Paris mit Dr. Beneš begonnen; von Italienern nahmen die Abgeordneten Torre, Galenga, Amendola, Borghese und der Vertrauensmann Bissolatis, Lazarini, teil; von französischer Seite Franklin-Bouillon und Fournol. Für die Rumänen verhandelte Florescu, für die Polen Dmowski; doch die Polen waren bei der Aktion zurückhaltend. Dr. Beneš hatte die Aufgabe erhalten, die Südslawen zu gewinnen, eine sehr schwierige Aufgabe, denn unsere südslawischen Freunde stellten an die Italiener sehr radikale Forderungen. Die Italiener Torre und Borghese reisten nach London; man verhandelte mit Steed und Seton-Watson, doch immer unter Schwierigkeiten. Dr. Trumbić verhielt sich ablehnend, bis endlich auf das scharfe Zureden Steeds und Watsons die gemeinsame Formel gefunden war. Trotzdem mußte Dr. Beneš in Paris noch Dr. Trumbić überreden, sich nicht abseits zu halten. Der Kongreß verlief schließlich feierlich; er gewann große politische Bedeutung und Einfluß.
Der Einfluß wurde dadurch gesteigert, daß England durch Northcliffe an der italienischen Front eine heftige antiösterreichische Propaganda einleitete; den Plan dazu hatte Mr. Steed ausgearbeitet. Er schlug den Alliierten vor, sofort die Freiheit der österreichischen Völker zu proklamieren und dies den slawischen Soldaten in der österreichischen Armee durch Flugblätter bekanntzugeben. Obgleich General Diaz mit Steed übereinstimmte, hatte Sonnino, wie immer, seine Einwände: doch die englische und die französische Regierung gaben ihre Zustimmung. Es besteht kein Zweifel, daß die Flugblätter mit dieser Proklamation der Alliierten auf unsere und die anderen Truppen an der italienischen Front einen großen Einfluß gegen Österreich ausübten.
Wir wurden auf dem römischen Kongreß durch Beneš und Štefánik vertreten; die Bedeutung des Kongresses äußerte sich darin, daß Amerika seine Beschlüsse annahm (29. Mai) und Amerikas Erklärung auf der Alliiertenkonferenz am 3. Juni akzeptiert wurde.
Bevor ich die letzte Phase unserer Beziehungen zu den Südslawen schildere, muß ich zu Rußland und seinem Verhältnis zu Serbien und den Südslawen zurückkehren.
Für das offizielle Rußland gab es keine Südslawen, sondern nur Serbien und Montenegro. Im zarischen Rußland wurde die südslawische Frage nach den Dynastien und verwandten Familien gelöst; daher machten sich nicht nur serbische, sondern auch montenegrinische Einflüsse geltend; nach dem Londoner Pakt ging die Regierung ihm gemäß vor und verbot z. B. Kundgebungen für Dalmatien, die, wohl auf Supilos Anregung, Professor Jastrebov eingeleitet hatte. Die Regierung sprach sich sogar im römischen offiziellen »Messaggero« für Italien aus.
Nach Supilo, dessen Tätigkeit ich schon geschildert habe, kam Dr. Mandić für den Südslawischen Ausschuß nach Petersburg (Sommer 1915); er überzeugte sich bald, daß die südslawische Frage für das offizielle Rußland eigentlich nicht existiere: Serbien sollte Bosnien und die Herzegowina erhalten, d. h. die österreichische Okkupation sollte beseitigt werden und Serbien überdies den Zugang zum Meere haben. Das war etwa der Plan, den man mit Serbien hatte. Daß Montenegro aufhören sollte, zu bestehen, fiel in Petersburg niemandem ein. Rußland nahm damals, wie die übrigen Alliierten, noch Rücksicht auf Bulgarien. Als im Herbst 1915 Serbien den Österreichern unterlag und Bulgarien sich gegen die Alliierten stellte, trug das offizielle Rußland sehr peinlich den bulgarischen »Verrat«, machte aber – Serbien dafür verantwortlich! Sazonov erblickte die Schuld darin, daß Mazedonien von den Serben nicht rechtzeitig an Bulgarien zurückgegeben worden war.
Als die Niederlage Serbiens und Montenegros nach Neujahr 1916 vollkommen wird, ändert sich die Meinung des offiziellen Rußland. Auch einige Dumaabgeordnete, namentlich Miljukov, beginnen sich für die südslawische Frage zu interessieren; aber irgendein klares und bestimmtes südslawisches Programm, ein Programm des geeinigten Südslawentums, gibt es noch nicht.
In der Zeit, in der das offizielle Rußland die Aktion Dürichs unternimmt, wird ein analoger Versuch mit den Südslawen unternommen. Er mißlingt. Dafür tritt die serbische Regierung mit dem Plan eines geeinigten Südslawiens unter Führung des rechtgläubigen Serbien hervor (die Rechtgläubigkeit wird unterstrichen); der Gesandte Spalajković arbeitet in dieser Richtung»
Gegen dieses offizielle Programm tritt Miljukov für die Einigung der Südslawen ohne Rücksicht auf den kirchlichen Unterschied ein. Zur Kennzeichnung des offiziellen Rußland bemerke ich, daß »Novoje Vremja« damals die Unmöglichkeit und Unsinnigkeit einer solchen Einigung bewies! Professor Sobolevskij betont noch im Februar 1917 in der slawischen Frage den russischen offiziellen Gesichtspunkt.
Es kam die Revolution und das revolutionäre Rußland. So wie dieses sich für uns und unser Programm erklärte, so erklärte es sich auch für das geeinigte Südslawien.
Aber es entstanden Schwierigkeiten, Unstimmigkeiten und Streit unter den Südslawen und im Südslawischen Ausschuß; dennoch gelang es mit Hilfe Steeds und Watsons, die Versammlung von Korfu und dann den römischen Kongreß zu veranstalten.
Als ich in Rußland ankam, war der Streit zwischen Serben, Kroaten und Slowenen sehr akut; es gab große programmatische Gegensätze. Die Slowenen gaben die Zeitschrift »Jugoslavie« heraus und forderten Groß – Slawonien, das mit Serbien und Kroatien eine Föderation bilden solle. Die mündlichen Darlegungen, die ich von Slowenen empfing, verringerten nicht die Unbestimmtheit und Überspanntheit dieses Programms.
Die Folge der Gegensätze war, daß die südslawische Legion sich zerschlug; der kroatische und slowenische Teil trennte sich vom serbischen und vegetierte in Kiew.
Eine gewisse Nervosität zwischen den Unsrigen und den Serben entstand durch die Meinungsverschiedenheiten wegen des Austritts unserer Freiwilligen aus der serbischen Abteilung nach den Kämpfen an der Dobrudscha; wir hatten auch einige unserer Freiwilligen in den Kiewer Trümmern der Legion.
Peinliche Folgen für die Südslawen zeitigte in Rußland der unglückliche Zwischenfall von Saloniki. Der geheime serbische Offiziersverein »Crna ruka« (auch: »Ujedinjenje ili smrt«) hatte seine revolutionäre Tätigkeit an der Salonikier Front begonnen; man versuchte ein Attentat auf den Thronfolger; der ehemalige Chef des serbischen Generalstabes Dimitrijević wurde (im Juni 1917) erschossen, einige Mitschuldige wurden nach Afrika deportiert, – das Oberkommando an der Front von Saloniki war französisch und legte, wie mir Serben versicherten, Wert auf die Bestrafung der Schuldigen. Die Anhänger Dimitrijevićs in Rußland trachteten, für sich Sympathien zu gewinnen; sie übergaben auch mir ein Memorandum. Ich hatte etwas von der »Crna ruka« schon vor dem Kriege in Belgrad erfahren, – selbstverständlich verhielt ich mich zu der Unbesonnenheit der politisch aufgeregten Menschen ablehnend; aber ich versöhnte immer wieder die uneinigen Parteien und die aufgeregten Menschen, Ich erkannte an, daß von den Serben in einzelnen Fällen Fehler begangen worden waren, doch die Situation erforderte eine ruhigere Taktik und Zucht.
Einen neuen Anreiz zu Meinungsverschiedenheiten mit den Serben und zu Verdächtigungen gab die Besetzung kroatischer und slowenischer Gebiete durch die Italiener. Der Agramer Landtag sandte am 4. November an Wilson einen Protest gegen die italienische Besetzung, es folgten Proteste aus Dalmatien, Bosnien usw. In kroatischen Kreisen wurde ausgestreut, der Gesandte Vesnić habe den Italienern seine Zustimmung zur Besetzung gegeben. Dr. Trumbić vertrat den Standpunkt, die Besetzung hätten amerikanische Truppen auszuführen, also weder Italiener noch Serben, – dieser Standpunkt stieß natürlich in Serbien auf Widerspruch.
Als ich nach Amerika kam, sah ich sofort, daß unter den Südslawen keine Ruhe herrschte. Die Kroaten hatten Kolonien nicht allein in den Vereinigten Staaten, sondern auch in den südamerikanischen Republiken, und ich beobachtete, wie sich die verschiedenen lokalen Anschauungen und Personen – ähnlich wie anfangs auch bei uns – geltend machten. Böses Blut verursachte es, daß der Gesandte in Washington, Mihajlović, den ich schon in Rom kennengelernt hatte, von Pašić pensioniert worden war (Ende Juli); der Gesandte hatte, wie man sagte, konsequent den Standpunkt von Korfu und die Einigung der Südslawen verfochten und war deshalb in Ungnade gefallen, indes Pašić – so erklärten ruhige Kroaten – unter dem Einfluß der österreichfreundlichen Erklärung Wilsons und Lloyd Georges (im Januar 1918) keine Möglichkeit sah, alle Südslawen zu vereinigen, und für Serbien wenigstens Bosnien und die Herzegowina und den Zugang zum Meere retten wollte. Tatsache war, daß das Abkommen von Korfu in Amerika auch einseitig und in einer Weise ausgelegt wurde, die eher dem großkroatischen und republikanischen Programm entsprach.
Als wir am 3. September 1918 die bedeutungsvolle Anerkennung der Vereinigten Staaten erlangten, wollten die südslawischen Führer die gleiche Anerkennung und ersuchten mich, mit der Regierung darüber zu verhandeln. Ich erhielt noch Mitte Oktober von Dr. Trumbić aus Paris dieselbe Aufforderung. Es war für mich selbstverständlich, daß ich überall für die Südslawen arbeitete; die Abkommen von Korfu und Rom erleichterten mir das in Amerika. Aber ebenso wie unsere Feinde nicht schliefen, so schliefen auch die Feinde der Südslawen nicht, – die alliierten Regierungen und einflußreichen Faktoren waren über alle Meinungsverschiedenheiten und Zwischenfälle unter den Südslawen unterrichtet und gegen uns aufgereizt. Was für eine Stimmung gegen Ende des Krieges in manchen Kreisen herrschte, ist daraus zu erkennen, daß Clémenceau noch auf der Friedenskonferenz äußerte, Frankreich werde nicht vergessen, daß die Kroaten auf der Seite der Feinde gekämpft hätten. In gewissem Grade wirkte noch auch der Standpunkt des offiziellen rechtgläubigen Rußland, das sich dem kroatischen Separatismus nicht widersetzt hatte. Außerdem wurden die amerikanischen Behörden von den Gegnern der Südslawen auf die verschiedenen austrophilen Deklarationen verwiesen, namentlich auf die der slowenischen Abgeordneten vom 15. September und der bosnisch-herzegowinischen Katholiken vom 17. November 1917.
Unter einer sachlichen Schwierigkeit litten die Südslawen von allem Anfang an dadurch, daß alle ihre offiziellen Repräsentanten Serben waren, und Serbien hatte sich doch sofort zu Kriegsbeginn sehr entschieden für die Einigung eingesetzt. Es erfreute sich überall der lebhaftesten Sympathien. Aber die südslawischen Auswanderer aus Österreich-Ungarn, formal noch österreichisch-ungarische Staatsbürger, mußten sich irgendwie organisieren, und so entstand der Südslawische Ausschuß; die serbischen Gesandten und die Regierung konnten damals die Interessen dieser Staatsbürger nicht vertreten; ich weiß, daß Pasić selbst die Gründung und Erhaltung des Südslawischen Ausschusses unterstützte und ihn den alliierten Regierungen empfahl. Aber nach kurzer Zeit gingen die Anschauungen des Ausschusses und die der serbischen Regierung auseinander; gleich das Eingreifen Supilos im Frühjahr 1915 beunruhigte nicht nur die Russen, sondern auch die westlichen alliierten Kreise. Bald darauf stärkten die Niederlagen der Serben und Montenegriner, wie ich bemerkte, unter Kroaten und Slowenen die kroatische (großkroatische) Orientierung, als das Schicksal Serbiens in ihren Augen unsicher erschien. Und auch Serbien mußte nach seiner Niederlage und bei der Unsicherheit der Gesamtsituation, wie ich schon erwähnt habe, mit einer weniger glänzenden Zukunft rechnen. Ich will den Gegenstand nicht weiter ausführen, – oft befand ich mich zwischen zwei und mehr Feuern, doch darf ich sagen, daß ich stets im Interesse der Südslawen vorgegangen bin; als ich am Ende mit Dr. Trumbić in Paris zusammenkam (Dezember 1918), verständigten wir uns sehr gut. Allerdings war die Genfer Konferenz (Anfang November) vorangegangen, von der ich noch in Washington erfahren hatte. Pašić hatte sich in Genf mit Trumbić, Dr. Korošec und den Vertretern der verschiedenen Parteien nicht nur über die nationale und territoriale Einheit geeinigt, sondern auch darüber, daß der am 6. Oktober in Agram konstituierte südslawische »Nationalrat« (Národno Vijece Slovenaca, Hrvata i Srba) von der serbischen Regierung als Repräsentant und Regierung der Südslawen des ehemaligen Österreich-Ungarn anerkannt und daß eine einheitliche Regierung für Serbien und die Südslawen neben der serbischen und südslawischen Regierung gewählt werde. Infolgedessen betrachtete ich die antiserbische Proklamation der Südslawen in Washington vom 1. November, in der die südslawische Republik gefordert wurde (das Genfer Abkommen stammt vom 9. November) und die von Dr. Hinković verfaßt war (der seinen Austritt aus dem Südslawischen Ausschuß mit einem größeren Teil der amerikanischen Südslawen vollzogen hatte), als erledigt. Ohne Zweifel erfuhr der südslawische Dualismus durch das Genfer Abkommen eine Stärkung; die Tatsache, daß es von der serbischen Regierung und dem König nicht bestätigt worden war, half nichts. Unter den Einzelheiten wurde darauf hingewiesen, daß Pašić der einheitlichen Regierung nicht angehörte, – man sagte, seine Gegner hätten die Genfer Konferenz gegen ihn ausgenützt.
Wie ich schon gesagt habe, erwähne ich aus der Geschichte der südslawischen Freiheitsbewegung nur das, was für uns von Bedeutung war; und ich will nur betonen, daß Klagen über uns keine Berechtigung hatten und haben. Wenn ich trotzdem heute noch lese, Herr Radić schreibe das politische Übergewicht Serbiens in Südslawien meinem Einfluß auf die alliierten Staatsmänner zu, so bleibt mir nichts übrig, als die Sache einfach zu konstatieren und abzuwarten, bis die Geister sich beruhigen. Unter uns gab es keinen Streit um Grundsätze, weil über das südslawische Programm die Südslawen entscheiden, nicht wir; es ist wahr, daß ich meinen Freunden stets geraten habe, sich mit dem Programm selbst konkreter zu befassen, öfter stimmte ich ihrer Taktik nicht zu, z. B. der Supilos gegen Rußland. Oder ein anderes Beispiel: Als Lloyd George im Januar 1918 von Österreich für die unterdrückten Völker nur die Autonomie forderte, protestierte der Südslawische Ausschuß dagegen in der »Times«; ursprünglich wünschte er gar eine unmögliche Versammlung aller Südslawen mit dem König und der Skupschtina an der Spitze, um die künftige Ordnung der südslawischen Länder zu beschließen. Einer der führenden Leute warf mir noch in Amerika vor, gegen Lloyd George nichts getan zu haben. Ich habe öffentlich nichts getan; aber ich machte den Präsidenten Wilson, der zur selben Zeit für Österreich dasselbe forderte wie Lloyd George, auf die Unzulänglichkeiten des Programms aufmerksam, und in England kannte man meine Ansichten und gab es wachsame Freunde. Übrigens hatte Präsident Wilson den Inhalt meines Memorandums aus Tokio den Alliierten vertraulich mitgeteilt. Ich verhandelte mit den alliierten Regierungen und den Staatsmännern fortwährend, setzte es aber nicht in die Zeitung.
Der Vollständigkeit halber erwähne ich, daß mich auch ein Repräsentant Montenegros, eigentlich des montenegrinischen Königs besuchte. Ich befand mich seit der Zeit, da ich im Wiener Parlament Zweifel an der Richtigkeit der montenegrinischen Politik geäußert hatte, beim König in Ungnade. Ich hatte ihn in meiner Rede, wie ich zugebe, etwas derb angefaßt; er ließ es mich, als ich darauf, wenn auch mit seinem Einverständnis, in Cetinje weilte, merken. Der Krieg hatte aber diese Erinnerungen ausgetilgt, der König sandte einen seiner Generäle zu mir. Er glänzte etwas zu sehr in Gold, und das machte auf die Amerikaner keinen guten Eindruck. Ich vertrat den Standpunkt, Montenegro solle mit Serbien eins werden, während der montenegrinische Vertreter für die Interessen des Königs arbeitete. Ich erinnerte ihn daran, daß König Nikola selbst im Frühjahr des verhängnisvollen Jahres 1914 dem serbischen König die Vereinigung Serbiens und Montenegros vorgeschlagen hatte, – daß diese Verbindung nach dem Kriege allerdings eine andere und intimere sein werde. Gegen die Politik König Nikolas reichten die amerikanischen Montenegriner etwa zur selben Zeit dem Präsidenten Wilson einen geharnischten Protest ein.
Ich wiederhole, daß ich den südslawischen Freunden zu raten pflegte, und zwar schon früher in England und Frankreich, ja gleich in Rom, sie möchten ein genaueres administratives Programm ausarbeiten und das dringende Problem des Verhältnisses und Grades von Autonomie und Zentralismus, resp. der Vereinigung der Länderteile Österreich-Ungarns mit Serbien praktisch lösen. Das Unifikationsproblem werde natürlich für alle befreiten slawischen Völker und Staaten im Vordergrund stehen, und so solle man sich eingehend damit befassen und sich auf die Friedensverhandlungen und die erste Zeit des neuen Staates vorbereiten. Dabei stellte ich mir vor, daß ein Auswärtiges Komitee, wenigstens ein bedeutender Teil davon, sich so bald wie möglich nach Belgrad begebe, um sich dort mit den einheimischen Politikern über die weiteren Pläne zu einigen.
Lebhaft waren unsere Beziehungen auch zu den Polen. Ich setzte damit die Arbeit fort, die ich in Rußland angefangen hatte; dort hielten wir mit den Polen gemeinsame Versammlungen ab, und ich stand mit den polnischen Wortführern überall in regem Verkehr. Ich erinnere namentlich an Grabski. In Amerika weilten Paderewski und Dmowski; von amerikanischen Polen gedenke ich des Publizisten Czarnecki. Paderewski lernte ich persönlich erst in Amerika kennen, mit Dmowski war ich schon in England zusammen gewesen.
Wir veranstalteten (15. September) nach römischem Muster in New York eine Versammlung der unterdrückten Völker Österreich-Ungarns; die Polen vertrat Paderewski, Dr. Hinković die Südslawen, Stoica die Rumänen. Ich erwähne die Versammlung, weil sie die Art unserer Propaganda veranschaulicht. Sie war riesig; die ganze Carnegie Hall war nicht allein von Slawen und Rumänen besetzt, sondern auch von Amerikanern. Paderewski war in Amerika bekannt, daher waren sicherlich viele, die seinem Klavierspiel gelauscht hatten, gekommen, um seine politische Rede zu hören. Ich selbst war auf eine kurze Darlegung unseres nationalen und politischen Programms vorbereitet, aber Paderewski, dem ich den Vortritt gelassen hatte, brachte mich aus dem Konzept. Er sagte über das polnische Programm sehr wenig, machte sich dafür über mich her, und zwar freundschaftlich. Er gab ein Stück meiner Biographie und lobte mich über den grünen Klee. Ich war auch darum überrascht, weil Paderewski seiner Überzeugung nach konservativ war, und ich hätte eher erwartet, daß er in mancher Hinsicht seine Vorbehalte gegen mich vorbringen würde. Paderewskis Rede neigte sich ihrem Ende zu, und ich wußte noch nicht, wie ich ihm erwidern solle. Im letzten Augenblick entschloß ich mich, auch nicht über mein Programm zu reden und für Paderewski einzutreten, indem ich das Verhältnis der Politik zur Kunst auseinandersetzte. Dabei hegte ich die Nebenabsicht, Paderewski gegen jene seiner Landsleute in Schutz zu nehmen, die sich seiner politischen Führung widersetzten, weil er nur – Klavier spielen könne. Die polnische Literatur, vor allem Mickiewicz und Krasinski, boten mir ein konkretes Beispiel für das Verhältnis der Politik zu den Dichtern, und so stellte ich auch den Künstler Paderewski als den rechten politischen Erwecker seines Volkes hin. Die Rede fand, obgleich sie nicht politisch war, wenigstens nicht direkt politisch, starken Widerhall, wie die Kritik verschiedener Blätter zeigte und mir nach der Versammlung die anwesenden amerikanischen Politiker und Publizisten sagten. Sie seien neugierig gewesen, wie ich Paderewski antworten werde. Sie waren zufrieden. Ich erwähne diesen anekdotischen Vorfall, um zu zeigen, daß es bei der Propaganda nicht am wirksamsten ist, unaufhörlich sein Programm zu erklären, sondern daß es darauf ankommt, das Interesse der Menschen zu wecken und zu fesseln. Das war übrigens meine Haupttaktik überall, besonders in Gesellschaft und in Privatgesprächen.
Mit den Polen, namentlich mit Dmowski, verhandelten wir oft und eingehend über das Verhältnis unserer Nationen nach dem Kriege. Dmowski selbst war für ein intimes Verhältnis, er sprach häufig für eine Föderation. Wir stellten Betrachtungen über Schlesien an. In polnischen Kreisen wurde schon damals der Anschluß Polnisch-Schlesiens gefordert, und auch Dmowski redete davon, doch keineswegs expansiv. Ich schlug vor, sich zunächst auf den Text eines tschechisch-polnischen Abkommens zu einigen, mit dem wir den Alliierten, insbesondere den Amerikanern, unsere Freundschaft demonstrieren und zugleich den Radikalen auf beiden Seiten begegnen sollen. Ich schlug Dmowski vor, eine solche Erklärung selbst zu formulieren, meinerseits bedang ich mir wirtschaftliche Forderungen aus, die Eisenbahn über Teschen, eine genügende Menge Kohle. Ich machte darauf aufmerksam, daß gerade die Polen uns gegenüber nicht ein rein nationales Programm (vom Standpunkt der Sprache) betonen sollen, da sie so starken Nachdruck auf das historische Programm legen. Ich erblickte in dieser Unstimmigkeit eine gewisse Gefahr für die Polen. Beiden war uns klar, daß der Gegenstand der Meinungsverschiedenheit verhältnismäßig geringfügig sei und daß wir uns ohne Feindseligkeit verständigen müssen. Den Entwurf der besagten Erklärung arbeitete Dmowski nicht aus.
Einzelne Personen auf beiden Seiten, die Unsrigen und die Polen, verursachten Differenzen; öfter mußte ich einschreiten, um öffentlichen Streit zu verhindern. Die Polen klagten über Unterdrückung in Schlesien und zum Beweis bedienten sie sich des Dichters Bezruč, die Unsrigen über die österreichisch-deutsche Orientierung der Polen. Im letzten Moment verhinderte ich die Herausgabe einer Polemik gegen die germanophilen Kundgebungen A. Brückners, des Slawisten der Berliner Universität.
Ich will nicht verschweigen, daß auch in alliierten Kreisen mitunter eine gewisse Nervosität gegen die Polen entstand und ich mehr als einmal die polnische Politik auseinandersetzen mußte. Man sagte, daß die Polen de facto nicht nur mit Österreich, sondern auch mit Deutschland gehen.
Ich muß daran erinnern, daß (Russisch-) Polen seit dem 14. Oktober 1917 eine Regierung (Regentschaft) hatte, die von Österreich und Deutschland gebildet worden war. Diese Regierung hatte, das muß man zugeben, einen sehr schweren Stand zwischen den beiden »Befreiern«, von denen jeder sein eigenes polnisches Programm verfolgte; man sprach von einer österreichischen und einer deutschen Orientierung. Einig waren Österreich und Deutschland darin, Polen für ihre Ziele auszunützen; was für Ziele das waren, ist schon daraus zu ersehen, daß sie sich nach langen, aus der Besetzung Polens im Jahre 1915 entstandenen Meinungsverschiedenheiten (ich habe dieses merkwürdige Verhältnis schon erwähnt) erst am 12. August 1916 einigten, nicht zuzulassen, daß das polnische Land des einen oder des anderen dem Staate Polen zufalle. Aber Deutschland war stärker als Österreich, und so erlangte es die Oberaufsicht über Polen und die Führung der polnischen Armee. Die neue Warschauer Regierung erkannte dieses Abkommen so ziemlich offiziell an, und dadurch entstand eine dritte Orientierung, die der Regentschaft, die eine Kompensation für Galizien und Posen in Rußland suchte. Die antirussische Gesinnung stärkte diese Politik. Ich erfuhr von Zeit zu Zeit über die Verhandlungen in der polnischen Frage. Die Warschauer Regierung reichte Ende April (1918) Österreich und Deutschland einen bestimmteren Plan ein; man verhandelte über ihn längere Zeit, aber ohne Erfolg, weil sowohl Deutschland als auch Österreich das letzte Wort hinausschob. So geschah es, daß Vertrauensmänner der Warschauer Regierung Ende September (1918) in Spaa bei Kaiser Wilhelm und dann in Wien erschienen. Ich lernte bald auch Einzelheiten dieser Verhandlungen kennen; im gegebenen Augenblick war wichtig, daß Warschau sich auf einen den Alliierten gegnerischen Standpunkt stellte. Das äußerte sich auch darin, daß die Polen mit der Interventionspolitik der Alliierten in Rußland nicht übereinstimmten; das gestärkte Rußland würde freilich der Warschauer Kompensationspolitik, die Litauen, Weißrußland und Teile der Ukraina beanspruchte, im Wege sein.
Durch diese politischen Umstände war die häufige Diskussion über die polnische Frage mit alliierten Politikern und Staatsmännern gegeben, zumal auch Repräsentanten Rußlands dazu die Anregung gaben. Mein Standpunkt war in meinem Gesamtprogramm enthalten: ich meinte, daß Warschau zu früh auf Galizien und Posen verzichte (Kaiser Karl dachte bereits im Sommer 1918 an den Verlust Galiziens), und sah eine Gefahr für Polen und den Frieden in der Einnahme eines so großen russischen Gebietes. Allerdings konnte ich mir die Warschauer Orientierung psychologisch und historisch erklären.
Auch mit ukrainischen, galizischen und ungarischen Kleinrussen kamen wir in Beziehung. Von galizischen Kleinrussen lebte in Amerika unter anderen Sičinskij, der vor Jahren den Statthalter von Galizien erschossen hatte. Er war nun ein über Erwarten lieber und vernünftiger Mensch. Ich mußte sehr achtgeben, um die Polen nicht durch meinen Verkehr mit ihm und den Kleinrussen zu reizen. Zu Sičinskij verhielten sich die Polen in Amerika zwar zurückhaltend, aber anständig.
Die Beziehungen zu den Russen waren herzlich, doch weniger zahlreich. Botschafter Bachmetěvs Stellung war seit dem bolschewikischen Umsturz eigentümlich. Die amerikanische Regierung erkannte ihn zwar an, aber mit Reserve; dies geschah auch darum, weil manche einflußreiche Publizisten und selbst Politiker Sympathien für Lenin und die Bolschewiken bewiesen. Diese Sympathien waren abstrakt und galten eher den Gegnern des Zarismus, aber sie waren da.
Das seltsame Verhältnis der amerikanischen Regierung zu den Bolschewiken trat im Falle des Professors Lomonosov zutage. Er war von der Regierung Kerenskij im Jahre 1917 nach Amerika entsandt worden. Nach dem bolschewikischen Umsturz ging er zur Partei Lenins über und versuchte darauf, als offizieller Repräsentant der Sowjets Beziehungen zur amerikanischen Regierung anzuknüpfen. In einer großen Versammlung zu New York (Mitte Juni) bekannte er sich als Anhänger der Bolschewiken und hörte auf, Mitglied der russischen Mission zu sein. Die Regierung internierte ihn. Mein Verkehr mit ihm war unbedeutend und privat.
Von den übrigen in Amerika lebenden Russen gedenke ich Baron Korffs und des Fürsten Lvov; diesen hatte ich in Petersburg gekannt. Kurz vor meiner Abreise von Amerika sprach ich mit Lvov über die Notwendigkeit, die russische Emigration in den verschiedenen Ländern endlich auf ein wenigstens rahmenartiges, gemeinsames politisches Programm zu einigen. Es war geradezu peinlich, zu beobachten, wie die Russen im Auslande sich nicht zu organisieren verstanden. Ich sah darin eine allgemeine Unzulänglichkeit der russischen Intelligenz.
Mit den Rumänen setzte ich die in Rußland begonnene Zusammenarbeit fort. In Amerika gab es weniger rumänische Vertreter; von Abgeordneten kam auf einige Zeit Lupu dahin.
Öfter pflegte ich mit Vertretern der Litauer, Letten und Esten zusammenzukommen. Diese Völker hatten in Amerika ihre Kolonien, insbesondere die Litauer, und dadurch war der Verkehr gegeben. Auch mit Griechen, Armeniern, Albanern u. a. pflegte ich politische Unterredungen. Aus all diesen Unterredungen entstand ein besonderes, einigendes politisches Gebilde: »Die demokratische Union Mitteleuropas« (»Mid-European Democratic Union«). Ich wollte ursprünglich eine Gesellschaft von Amerikanern gründen, die sich der Arbeit für die unterdrückten kleinen Nationen annehmen sollte; der Plan verwirklichte sich nicht in dieser Form, dagegen organisierte sich die Union und wählte mich gegen meinen Wunsch zum Vorsitzenden. Der amerikanische Professor Herbert Adolphus Miller wurde mir beigegeben. Die Union versammelte sich ziemlich oft und erörterte alle ethnographischen und politischen Probleme der mitteleuropäischen kleinen Nationen. Um zu zeigen, wie wir bei der Arbeit vorgingen erwähne ich, daß ich z. B. Polen und Litauer (Dr. Šlupas) zusammenbrachte, damit sie sich voraus über ihre Programme klar werden, um im Plenum der Union lebhaftere Gegensätze zu vermeiden. Ähnlich ging ich mit Griechen und Albanern vor. Fleißig nahmen an unseren kleinen Versammlungen auch die italienischen Irredentisten teil. Die Union konsolidierte sich derart, daß eine Deputation, deren Sprecher ich war, von Wilson empfangen wurde. Glücklich war der, ich weiß nicht mehr von wem vorgeschlagene Gedanke, in Philadelphia eine öffentliche Versammlung und Konferenzen zu veranstalten, in denen die Programme der einzelnen Nationen vorgetragen wurden. Am 23. Oktober wurde in der historisch denkwürdigen Unabhängigkeitshalle (Independence Hall) das Ergebnis der Konferenzberatungen unterschrieben, und ich las dann im Hofe eine gemeinsame Erklärung vor, wobei nach historischem Vorbild auch die Unabhängigkeitsglocke erklang. Der Vorgang war amerikanisch, doch aufrichtig gemeint und hatte Erfolg. Vom Kongreß in Philadelphia wurde ein Gruß an den Präsidenten Wilson gesandt.
Unsere Union bildete eine ganz geeignete Propagandaorganisation, deren praktischer Zweck es war, der breiteren Öffentlichkeit, vor allem aber den Blättern und verschiedenen Vereinen Informationen über die einzelnen Völker oder über alle der Union angehörenden Völker zu geben. In Philadelphia gab es elf Nationen. Unsere Absicht war auch, den Amerikanern ein Bild der Zone der kleinen Völker in Mitteleuropa anschaulich zu machen. Auf diese Zone wies ich stets hin und erklärte ihre Bedeutung für den Krieg und die ganze Geschichte Europas. Durch das gegenseitige Bekanntwerden und einander Belehren sollten schließlich die Repräsentanten der verschiedenen Nationen sich auf die Friedenskonferenz vorbereiten. Das Ideal war allerdings, sich zu einigen und auf der Friedenskonferenz mit dem einheitlichen Plan aufzutreten. Das war freilich ein Ideal. In Wirklichkeit bestanden viele Gegensätze und Zerwürfnisse. So traten z. B. die Polen aus der Union aus, indem sie angaben, nicht neben den Kleinrussen sitzen zu können, als diese sich in Ostgalizien im Kampfe gegen sie stellten. Einige Polen sagten uns, daß der eigentliche Grund des Austritts ein anderer sei. Die übrigen Vertreter blieben trotz den Gegensätzen in der Union. Eine Zeitlang drohte uns die Gefahr, daß sich das Ministerium des Äußern gegen Professor Miller wende, der durch irgendeine Äußerung die offizielle Abneigung gegen sich hervorgerufen hatte. Ich beschwor die Gefahr, und die Union blieb auch nach meinem Weggang noch längere Zeit in Tätigkeit. Im Ganzen verfolgte ich mit der Union die Ausarbeitung des Friedensplanes, wie ich ihn im »Neuen Europa« dargelegt habe.
Besonderer Erwähnung bedarf Karpatho-Rußland (Podkarpatská Rus) und speziell die Vertretung dieses Landes in den Vereinigten Staaten.
Da ich von allem Anfang an mit der Aufteilung Österreich-Ungarns rechnete, vergaß ich nicht das kleinrussische Gebiet in Ungarn und sein Schicksal nach Ungarns Zerfall. Die Wichtigkeit dieser Gegend wird für jedermann offenbar durch die Nachbarschaft der übrigen Gebiete des kleinrussischen Volkes, der Rumänen, Magyaren und Tschechoslowaken (die slowakischen Schriftsteller hatten die kleinrussischen Teile der Slowakei längst fleißig beachtet). Solange Rußland siegreich war, mußte man in Betracht ziehen, ob es Karpatho-Rußland nicht beanspruchen werde, zumal Ostgalizien sofort besetzt worden war; allein Rußland dachte damals, die Magyaren könnten sich gegen Österreich wenden, und so hatte es in der Sache keinen bestimmten Plan. Ich habe auf die eigentümliche Magyarophilie des offiziellen Rußland schon hingewiesen. Die Alliierten wünschten nicht, daß die Russen auf die Südseite der Karpathen kommen; darüber wird Dr. Beneš noch aus den Verhandlungen der Friedenskonferenzen interessante Mitteilungen machen können. Die russische Niederlage ergab die Möglichkeit, Karpatho-Rußland unserer Republik anzugliedern. Das war anfangs freilich nur ein frommer Wunsch; aber in Rußland und besonders in der Ukraina mußte ich mich mit dem Plane befassen, da die ukrainischen Führer mit mir über die Zukunft aller kleinrussischen Teile außerhalb Rußlands debattierten. Gegen die Angliederung Karpatho-Rußlands an unseren Staat hatten sie keinen Einwand.
In den Vereinigten Staaten gibt es zahlreiche ausgewanderte ungarische Kleinrussen. Auch mit ihnen kam ich bald in Fühlung, denn sie waren mit den dortigen Slowaken und Tschechen bekannt. Sie traten in die Mitteleuropäische Union ein und wurden in ihr von Dr. Žatkovič vertreten. Die ersten Angebote für die Ruthenen machte mir Herr Pačuta; er stand in Beziehungen zu unseren Slowaken und repräsentierte die russophile, gewissermaßen rechtgläubige Richtung. Dr. Žatkovič vertrat die große Mehrheit der Kleinrussen; diese waren kirchlich organisiert und ergebene Katholiken, Uniaten, politisch waren nur wenige genauer orientiert. Die Intelligenz, die aus der Heimat ankam, hatte magyarische Bildung genossen. Auch von denjenigen, die sich zu ihrer Nationalität meldeten, konnten nur wenige in ihrer Sprache sprechen; jeder sprach seinen Ortsdialekt, und an den Gebildeteren konnte man merken, daß sie erst während des Redens sich manche grammatischen Formen und Worte bildeten; unter der magyarischen Regierung besaßen sie keine Schulen. Selbst nannten sie sich »ungarische Ruthenen« (englisch: Uhro-Rusins – Rusin Greek Catholic Churches – Rusinia; die Richtung Pačutas: Carpatho-Russians); als Katholiken lehnten sie die großrussische und rechtgläubige Richtung und aus den gleichen Gründen die Ukrainer ab, in denen sie ebenfalls Rechtgläubige sahen. Doch waren sie auch gegen die galizischen Kleinrussen. Sprachlich hielten sie, wie gesagt und wie aus ihren Zeitschriften hervorging, in den ersten Anfängen der Schriftsprache, klammerten sich an ihre Mundart (eigentlich Mundarten) mit mehr historischer, als phonetischer Rechtschreibung, wodurch sie sich von den Ukrainern unterschieden.
In den Diskussionen der Mitteleuropäischen Union unterrichteten sie sich über die politische Lage und das mögliche Verhältnis zu den Nachbarnationen. Sie kamen in Fühlung mit den Polen, Ukrainern und Rumänen; über die Magyaren waren sie allerdings besser informiert, und diese entfalteten unter ihnen eine wirksame Agitation. Am Ende entschieden die Ruthenen selbst, sich uns anzuschließen.
Sie berieten über ihre politische Zukunft zum erstenmal auf ihrem Kongreß am 23. Juli in Homestead (1918); da äußerten sie ihre Forderungen noch hypothetisch; sei die vollständige Unabhängigkeit nicht möglich, so sollen die Ruthenen sich mit ihren Brüdern in Galizien und der Bukowina vereinigen; sei auch dies nicht möglich, so sollen sie die Autonomie erhalten. In welchem Staate, wird nicht gesagt. Aber am 19. November hielten sie den zweiten Kongreß in Soranton (Penn.) ab und beschlossen, sich als Staat auf föderalistischer Grundlage mit der weitesten Autonomie der Tschechoslowakischen Republik anzuschließen; wie man schon aus der Terminologie erkennt, wurde der Beschluß nach englischem Muster gefaßt, das allerdings mit den Verhältnissen in Ungarn und Österreich wenig Gemeinsames hatte. Sie forderten auch, in dieses Ruthenenland alle »ursprünglich« ruthenischen, karpathorussischen Gaue des ehemaligen Ungarn aufzunehmen. Die ruthenischen Organisationen veranstalteten darauf eine Abstimmung nach ihren Kirchensprengeln und erklärten sich mit großer Mehrheit für den Anschluß an die Tschechoslowakei. Ich erhielt von Dr. Žatkovič Memoranden über die Angelegenheit. Meinerseits machte ich ihn auf die Hauptprobleme des Landes, vor allem auf das wirtschaftliche und kulturelle Problem aufmerksam. Ich wies auf die finanziellen Schwierigkeiten hin, die durch die Befreiung Karpatho-Rußlands entstehen werden, auf den Mangel an Beamten, Lehrern und auch Geistlichen, die dem Volke in seiner Sprache dienen können.
Ich beobachtete allerdings auch eine gewisse Spannung zwischen den uniatischen Ruthenen und den Slowaken; die Tschechen waren ihnen annehmbarer, als die Slowaken.
Was die Sprache anbelangt, billigte ich die Einführung des Kleinrussischen in Schulen und Ämtern. Auch wenn das Kleinrussische nur als russische Mundart angesehen wird, betrachte ich seinen Gebrauch aus pädagogischen Gründen für richtig. Ich habe dabei die Anschauung der Großrussen selbst übernommen, wie sie von der Petersburger Akademie der Wissenschaften und hervorragenden russischen Pädagogen formuliert worden ist. Allerdings machte ich auch darauf aufmerksam, daß das Kleinrussische auf der Grundlage der Ortssprache erst durch die Volksschriftsteller ausgebildet werden müsse; ich fürchtete ein Sprachengemisch, künstlichen Sprachsynkretismus, und sah sprachliche Plumpheiten voraus, die durch die Bureaukraten entstehen könnten. Soweit es sich um die russophile Richtung handelte, die sich zum Großrussischen meldete, sah ich keinen Grund, ihr als Minorität, ebenso wie anderen Minoritäten, kulturell Schwierigkeiten zu bereiten.
Übrigens haben wir in der eignen Nation ein Analogon (ein Analogon – nicht denselben Fall!) im Gebrauch des Slowakischen als Schriftsprache.
Schließlich erinnere ich mich, Dr. Žatkovič sehr eingehend auf die politische Bedeutung seiner Heimat und die Schwierigkeiten, die durch die Nachbarschaft Polens, der galizischen und rumänischen Ukrainer und der Magyaren entstehen werden, aufmerksam gemacht zu haben. Aber Žatkovič und auch andere führende Ruthenen erkannten, indem sie alle Umstände gegeneinander abwogen, überzeugt an, daß der Anschluß an unseren Staat am erstrebenswertesten sei.
Wie über Karpatho-Rußland in Paris verhandelt wurde und wie die Ruthenen daheim selbst vorgingen, das fällt bereits in die Zeit der Friedensverhandlungen. Ich erinnere nur daran, daß drei Nationalräte auftraten (von Přešov – Užhorod – Hust), die sich nach einiger Zeit vereinigten und den endgültigen Anschluß an die Tschechoslowakische Republik am 8. Mai 1919 proklamierten.
Bevor ich an die abschließende Schilderung meiner Tätigkeit in den Vereinigten Staaten gehe, muß ich den Bericht über unsere Propaganda in Amerika ergänzen, die mit Hilfe des Herrn Voska gleich 1914 organisiert worden war. Ich habe sie schon öfter erwähnt und auch dargelegt, wie ich zu Beginn des Krieges durch Herrn Voska Beziehungen zur Entente anknüpfte. Herr Voska kehrte Mitte September (1914) aus London nach New York zurück und erstattete dort meinen amerikanischen Freunden, insbesondere Mr. Charles Crane, Bericht. Er führte die einheitliche Organisierung unserer tschechischen Journalistik in Amerika durch und wirkte bei der Zusammenfassung der sofort bei Kriegsbeginn in den verschiedenen Städten der Vereinigten Staaten geschaffenen Organisationen in den einheitlichen Tschechischen Nationalverband mit. Zugleich knüpfte er Beziehungen zur amerikanischen Journalistik und sehr bald zur Regierung selbst an.
Herr Voska organisierte ein ganzes Erkundungssystem. Einigen seiner Bekannten und Freunde gelang es sehr bald, festzustellen, daß die Zentralmächte in Amerika durch Vermittlung ihrer Botschaften, Konsulate und verschiedener Einzelagenten eine weitreichende Spionage und Geheimarbeit gegen die Ententestaaten ausüben. Dagegen organisierte er mit Hilfe mehrerer offizieller Persönlichkeiten der Entente seine Gegenaktion; Mr. Steed hatte Herrn Voska eine Empfehlung an den Korrespondenten der »Times« gegeben und dieser ihn wieder dem englischen Marineattaché Mr. Gaunt empfohlen. Soviel ich weiß, half ihm dabei von unseren tschechischen Leuten ausgiebig Herr Kopecký, ein Beamter des österreichischen Konsulats in New York, später unser erster Konsul in den Vereinigten Staaten.
Diese Arbeit, insbesondere die erfolgreiche Gegenspionage, wurde von der Organisation des Herrn Voska während des ganzen Krieges fortgesetzt. Ich muß hier mit großer Anerkennung das Faktum hervorheben, daß sich in diesem Geheimdienst, der wenigstens 80 Leute beschäftigt hat, kein einziger Verräter fand. Übrigens gilt das von unserer ganzen ausländischen Arbeit.
Die Finanzierung unseres Geheimdienstes ging offiziell auf den englischen Geheimdienst über; die ersten Auslagen beglich Herr Voska. Als er mir im Herbst 1916 mitteilte, daß seine Mittel für weitere Auslagen nicht mehr hinreichten, hielt ich es für richtig, daß die Alliierten die Auslagen decken, da der Dienst ausschließlich den Interessen der Alliierten, hauptsächlich Englands zugute kam. Ich vermittelte daher in London die Bezahlung dieser Auslagen.
Im Jahre 1917, als Amerika in den Krieg eintrat, änderte sich unsere Geheimtätigkeit dadurch, daß jetzt die Regierung selbst ihren Geheimdienst vervollkommnete. Dadurch wurden wir freier, und so reiste Herr Voska im Einverständnis mit den französischen und englischen Behörden nach Rußland, um dort die Berichterstattung und ein Informationsbureau zu organisieren, das Nachrichten nach Washington zu geben hatte. Herr Voska erhielt vom Ministerium des Äußern in Washington Empfehlungen an alle amerikanischen Behörden in Rußland; und damit wurde unserer Propaganda in Rußland die amerikanische Hilfe gewonnen.
Seine Tätigkeit in Rußland beendete Herr Voska Anfang September 1917. Später leitete er einen Geheimdienst in den Ententestaaten. Außerdem war er Verbindungsoffizier zwischen der amerikanischen und unserer Armee. In dieser Stellung verstand er es, insbesondere in Italien vom Amerikanischen Roten Kreuz und von anderen Hilfsorganisationen, der Hygieneabteilung unserer Armee Unterstützung zu verschaffen. Nach Schließung des Waffenstillstandes wurde Herr Voska der amerikanischen Friedensdelegation in Paris zugeteilt. In dieser Eigenschaft kam er dann mit dem Sekretär des Präsidenten Wilson, Mr. Creel, zwecks Organisation der Berichterstattung nach Mitteleuropa. Ich gab damals, bereits Präsident, meine Zustimmung, daß Prag das Zentrum dieser Berichterstattung werde.
Der Geheimdienst in Amerika hat, wie gesagt, sehr dazu beigetragen, unserer Sache so frühzeitig in den Regierungs- und just den entscheidenden Kreisen wirksame Sympathien zu gewinnen. Herr Voska hatte Gelegenheit, über unsere Tätigkeit in Europa und meine Pläne den führenden Mitgliedern der amerikanischen Regierung, dem Obersten House und dem Präsidenten Wilson selbst Bericht zu erstatten.
Eine schwere Aufgabe unserer Propaganda in Amerika und überall bestand darin, von der Notwendigkeit der Aufteilung Österreich-Ungarns zu überzeugen. Wien begegnete nicht der direkten politischen Feindschaft wie Berlin; die Franzosen, Engländer und Amerikaner kämpften nur mit den Deutschen, Österreich hatte seine Front allein gegen Osten und Süden, und so gab es im Westen keine so direkte Feindschaft gegen Österreich wie gegen Deutschland. Italien und Rußland waren zwar gegen Österreich, aber selbst in diesen Ländern gab es einflußreiche Austrophile. Österreich wurde allgemein als Gegengewicht zu Deutschland und als notwendige Organisation der kleinen Völker und Volksteile, als Schutz vor der Balkanisierung angesehen. Palackýs Wort, daß Österreich erfunden werden müßte, wenn es keins gäbe, war bei den Alliierten eine allgemein verbreitete Ansicht.
Österreich hatte sich auch von allem Anfang an anders verhalten als Deutschland. Es hatte nämlich den Krieg direkt nur Serbien, Rußland und Belgien erklärt; von den anderen Staaten ließ es sich den Krieg erklären. Auch Italien erklärte es den Krieg nicht. Deutschland war darin bestimmter und direkter. Später litt Österreich unter dieser Taktik – Kaiser Wilhelm forderte im Februar 1917 von Karl, die Beziehungen zu Amerika abzubrechen. Karl lehnte dies ab.
Die alliierten Regierungen standen auch unter dem direkten Einfluß der österreichischen und ungarischen Diplomaten; überall in den alliierten Ländern gab es genug Austrophile in der Diplomatie (die in Wien gewirkt hatten), gab es Familienbeziehungen (namentlich der magyarischen Aristokratie) usw.
In Amerika trieben die Österreicher und Ungarn, ebenso wie anderswo, starke Propaganda; die konnte ungestört organisiert werden, denn Amerika war zunächst und lange Zeit neutral. Die Magyaren haben in Amerika auch Kolonien, und wie sie daheim die Slowaken, Ruthenen und andere Nationalitäten beherrschten, so verstanden sie auch noch während des Krieges in Amerika die Kolonien dieser Völker zu beeinflussen. Selbst manche Führer dieser Kolonien merkten oft nicht, wie sie unter magyarischem Einfluß standen. Die Österreicher und Magyaren agitierten wirksam damit, daß sie sich als Opfer Deutschlands hinstellten. Sie streuten aus, daß sie gegen ihren Willen von Deutschland zum Kriege gezwungen worden seien.
Überall half den Magyaren die Revolution von 1848 und die Erinnerungen an Kossuth, der in den alliierten Ländern im Exil gelebt hatte.
Wirksam war für Österreich-Ungarn auch die katholische Propaganda. In Amerika, Frankreich und auch in Italien verteidigten die Katholiken Österreich-Ungarn als den katholischen Hauptstaat. Und die katholische Propaganda war geschickt. Sie arbeitete verhüllt und mit unpolitischen Vermittlern; das mußte in jedem Lande erkannt und die Gegenpropaganda mit entsprechender Methode eingerichtet werden.
Ich habe die Politik des Vatikans zu Kriegsbeginn erwähnt; im Verlauf des Krieges änderte der Vatikan vorsichtig seinen Standpunkt, er wollte sich an die unterliegenden Mächte nicht binden, doch für Österreich nahm er dauernd Partei. Das Verhältnis zu Deutschland war nicht so bestimmt und einheitlich; allerdings ist die katholische Minderheit in Deutschland sehr groß und der deutsche Katholizismus überragte auch durch seine Theologie und Kirchenorganisation den in Österreich. Aber die österreichische katholische Dynastie genoß den Vorzug vor der protestantischen in Deutschland, Österreich hatte seine alten katholischen Traditionen; die Komplimente Wilhelms vor dem Katholizismus und dem Vatikan wurden gern angenommen, der größere Teil der vatikanischen Politiker war jedoch gegen die deutsch-preußische Vorherrschaft und hoffte, daß Österreich im eigenen Interesse ein starker Schutzwall gegen Deutschland sein werde. Wenigstens vertrat Gasparri diese Ansicht und sprach sich deshalb (1918) gegen die Errichtung neuer Staaten aus, da er sie für zu schwach hielt, um Deutschland abzuwehren. Nur Polen wollte er befreit haben, aber nach dem österreichischen Plan. Bis zu einem gewissen Grade war der Vatikan von den Zentralmächten dadurch gewonnen worden, daß sie ihm Unterstützung für die Rückeroberung des von Italien unabhängigen päpstlichen Staates verhießen. Im Vatikan empfand man es seit Beginn des Krieges unangenehm, daß sein Verkehr mit den katholischen Staaten und Organisationen nicht frei genug war; die Frage wurde brennender, als Italien sich am Kriege beteiligte und vor allem durch den Londoner Pakt, demzufolge der Papst zur Friedenskonferenz nicht zugelassen werden sollte. Darauf entstand der von Österreich und Deutschland geförderte Plan, der Kurie ein Territorium längs der Tiber bis zum Meere zu sichern, damit die den päpstlichen Diplomaten unbequeme Durchfahrt durch Italien entfalle. In den Jahren 1916 und 1917 wurde dieser Plan publizistisch eifrig erörtert.
Die austrophilen Anschauungen und die Stimmung, wie sie in den offiziellen alliierten Kreisen bis Frühjahr 1918 andauerte, wird am besten durch die Ausführungen des Präsidenten Wilson charakterisiert; seine Erklärung über Österreich-Ungarn in der Botschaft an den Kongreß vom 8. Januar 1918 war noch austrophil. In diesem seinem ausführlichsten, in vierzehn Punkten formulierten Programm wird gesagt, daß »den Völkern Österreich-Ungarns, deren Platz in der Reihe der Nationen wir verbürgt und gesichert wünschen, die freieste Gelegenheit zu einer autonomen Entwicklung geboten werden solle«. Und Wilson beruft sich auf eine Kundgebung Lloyd Georges, der am 5. Januar 1918 vor Arbeitern erklärt hatte, die Vernichtung Österreich-Ungarns sei kein Kriegsziel der Engländer.
Wilson wiederholt in seinen vierzehn Punkten genauer, was er am 4. Dezember 1917, als er dem Kongreß die Bedeutung des von den Vereinigten Staaten an Österreich-Ungarn erklärten Krieges dargelegt, gesagt hatte. Auch hier, in der Kriegserklärung, wendet Wilson sich hauptsächlich gegen Deutschland und meint von Österreich, daß seine Völker, ebenso wie die Völker des Balkans und der Türkei, von der schamlosen preußischen Fremdherrschaft, der militärischen und geschäftlichen Autokratie befreit werden müssen. »Wir sind es uns selbst schuldig, zu erklären, daß wir nicht wünschen, das österreichisch-ungarische Reich zu schwächen oder umzugestalten. Es geht uns nichts an, wie es industriell oder politisch leben will. Wir haben nicht die Absicht, noch wünschen wir, ihm etwas zu diktieren. Wir wünschen nur, daß die Angelegenheiten seiner Völker in allen großen und kleinen Dingen in ihren eigenen Händen ruhen.« In dieser Rede wird also die Meinung ausgesprochen, Österreich solle von der preußischen Vorherrschaft befreit werden; diese Meinung pflegte in der Schweiz Professor Herron, Wilsons Vertrauensmann, zu vertreten. Herron sagte noch im Herbst 1918 zu Lammasch, Amerika sei nur darum gegen Österreich, weil dieses mit Deutschland gehe; gegen Österreich selbst empfinde es keinerlei Feindseligkeit. Nur aus dieser Anschauung des Präsidenten Wilson über das Verhältnis Österreichs zu Deutschland läßt sich die gewiß sehr charakteristische Tatsache verstehen, daß die Vereinigten Staaten den Krieg an Österreich-Ungarn erst am 4. Dezember 1917 erklärt hatten. Wenn in dem Buche des Prinzen Sixtus gesagt wird, Präsident Wilson habe dies auf mein fortwährendes Drängen getan, so muß ich diese Behauptung richtigstellen. Ich habe zwar dem Präsidenten Wilson durch einige Bekannte diesen Schritt als logische Konsequenz des Krieges mit Deutschland empfohlen, doch zweifle ich, daß dies zu jener Zeit genügt habe. Soviel mir bekannt ist, forderte Italien nach Caporetto die Kriegserklärung an Österreich, um dadurch die Position seiner Regierung im Innern zu stärken; das Ersuchen wurde dem Präsidenten Wilson durch den amerikanischen Botschafter in Paris, Mr. Sharp, übermittelt.
Sehr stark war die Österreichfreundlichkeit auch in England. Lord Palmerston hat zwar schon 1849 sein bekanntes, sehr scharfes Urteil über die Österreicher gefällt (»die Bestien!«) und ebenso Gladstone (1880); zu Beginn des Krieges gebrauchte Lloyd George den Satz über »das Reich zum Umfallen« (ramshackle Empire), aber sehr viele einflußreiche Engländer sympathisierten mit Österreich, Wien und Budapest oder waren der Ansicht, daß Österreich, wenn es auch nichts wert, doch besser sei als die verschiedenen kleinen Nationen; Österreich verhindere die Expansion Deutschlands und die »Balkanisierung« Europas.
Wie diese Austrophilie eingewurzelt war, ist am besten aus der Tatsache zu ersehen, daß Sonnino, obgleich er für Italien Stücke Österreichs beanspruchte, für die Erhaltung Österreich-Ungarns eintrat: das war eine Folge des politischen Konservativismus, der die »Balkanisierung« Mitteleuropas fürchtete, speziell bei Sonnino auch eine Folge der Politik, die eine Einigung der Südslawen nicht wünschte.
Schließlich besaß Österreich einen Beschützer in den Sozialisten, namentlich in den Marxisten; sie waren gleichfalls gegen die »Balkanisierung« und fanden daher Österreich trotz seiner Rückständigkeit annehmbar. Die deutschen Marxisten akzeptierten außerdem die Politik Deutschlands gegen Österreich, obgleich die Schöpfer des deutschen Sozialismus Österreich sehr scharf verurteilt hatten. Lassalle hatte in Österreich, in seinem Wesen, das Prinzip der Reaktion erblickt und damit den konsequenten Feind aller Freiheitsbestrebungen. Österreich müsse im Interesse der Demokratie »zerrissen, zerstückelt, vernichtet, zermalmt, seine Asche in alle vier Winde zerstreut« werden. Marx sah das Prinzip der Reaktion zwar in Rußland, doch auch er verurteilte Österreich. Diese Argumente leisteten mir in Diskussionen mit Sozialisten gute Dienste.
Bei solch einer für Österreich günstigen Stimmung leitete Kaiser Karl selbst mit Hilfe seines Schwagers, des Prinzen Sixtus von Bourbon, der mit seinem Bruder in der belgischen Armee diente, Friedensverhandlungen mit der Entente ein; ich habe schon davon gesprochen und auf den inneren Zusammenhang mit den anderen Friedensversuchen, die 1917 von verschiedenen Seiten unternommen wurden, hingewiesen. Die Verhandlungen wurden Ende Januar 1917 durch die Mutter des Prinzen Sixtus, die von Karl in die Schweiz entsandt worden war, dann durch andere Vertrauensleute des Kaisers begonnen; Sixtus kam selbst zum Kaiser nach Wien. In seinem Briefe von 24. März 1917, der für den Präsidenten Poincaré bestimmt war, verspricht Karl, sich mit allen Kräften dafür einzusetzen, daß Elsaß-Lothringen von Deutschland herausgegeben werde; für Österreich verlangt er die Erhaltung der Monarchie in den gegebenen Grenzen. Nach den Verhandlungen, die sich eigentlich seit Beginn Dezember 1916 hinzogen, sprach Sixtus (1917) mit dem Präsidenten Poincaré fünfmal; Minister Briand billigte den Plan, ebenso Lloyd George, der mit Sixtus mehrmals sprach. Prinz Sixtus wurde auch vom englischen König empfangen.
Ich will mich auf Einzelheiten nicht einlassen. Zwischen dem Kaiser und dem Grafen Czernin entstanden in der Sache Gegensätze und Mißhelligkeiten; Czernin trat dann unloyal gegen die Franzosen auf, in seiner schon erwähnten Wiener Rathausrede speziell gegen Clémenceau. Er behauptete, Clémenceau habe (vor Einleitung der neuen deutschen Offensive) einen Unterhändler zu ihm geschickt; darauf antwortete Clémenceau einfach mit dem bekannten Wort: »Graf Czernin hat gelogen!« Die österreichische Regierung log weiter, am Ende verteidigte sich Kaiser Karl selbst mit wiederholten Unwahrheiten vor Kaiser Wilhelm, wobei er Clémenceau angriff, bis die Veröffentlichung der Photographie von Karls Schreiben dem Lügen ein Ende machte. Clémenceau fertigte in drastischer Weise Karl und Czernin mit dem das habsburgische Österreichertum treffend charakterisierenden Worte ab: »consciences pourries«. Die Dinge sind jetzt (hauptsächlich durch den Vertrauensmann des Prinzen Sixtus und durch Ribot) publizistisch zur Genüge aufgeklärt; der Leser kann sich an den Einzelheiten über die habsburgische Verlogenheit und unendliche Ungeschicklichkeit selbst unterrichten. Die Bedeutung der Verhandlungen des Prinzen Sixtus lag darin, daß sie direkt zwischen den einflußreichsten Persönlichkeiten auf beiden Seiten stattfanden – der österreichische Kaiser schrieb selbst an den Präsidenten der französischen Republik, in die Verhandlungen griffen Briand, Lloyd George, der englische König u. a. ein. Zu ihnen gesellte sich noch der französische Generalstab. Wäre die russische Revolution nicht ausgebrochen, so hätte Sixtus dem Wunsche Karls gemäß auch mit dem Zaren verhandelt.
Wien hatte die Verhandlungen mit der Entente auf mehreren Seiten, sozusagen konzentrisch, eingeleitet. Graf Czernin begann (unaufgefordert?), mit Hilfe seines Freundes, des Grafen Revertera, Botschaftsrates a. D., und einiger anderer Bekannten mit der Entente zu verhandeln; Revertera kam mit dem Grafen Armand zusammen, dem Chef des französischen Erkundungsdienstes in Freiburg in der Schweiz. Die Verhandlungen zogen sich seit Juli 1917 bis Februar 1918 hin. Lloyd George war verständigt und billigte das Programm. Dr. Beneš stand mit Major Armand im Frühjahr 1918 in Verbindung; der Graf hoffte damals auf die Möglichkeit einer Revolution in Österreich-Ungarn und tat in dieser Richtung vielleicht auch ein Übriges, da er erwartete, dadurch Österreich zum Frieden noch bereiter zu machen. Seine Verhandlungen wurden mit Wissen des französischen Generalstabes geführt, selbst Foch billigte sie. Sie wurden auf französischer Seite von Painlevé und Clémenceau veranlaßt.
Noch auf einer anderen Seite führte Österreich Unterhandlungen mit der Entente. Im September und im Dezember (1917) verhandelte der ehemalige österreichische Botschafter in London Graf Mensdorff mit dem General Smuts über den Frieden. Seton-Watson vermutet, daß Mensdorffs Angebote den alliierten Regierungen bekanntgegeben wurden und die von Wilson zitierte Erklärung Lloyd Georges im Januar 1918 unter ihrem Einfluß entstand. Lloyd George sandte – einigen Berichten zufolge – den General Smuts noch im Januar 1918 zum Grafen Mensdorff.
Von den Verhandlungen des Prinzen Sixtus erfuhr ich, wie ich schon gesagt habe, in London vor meiner Abreise nach Rußland; in Berlin wurde über die Sache viel gesprochen, und von dort kamen kurze Nachrichten nach London. Ich erfuhr zwar nicht den genauen Inhalt, aber den brauchte ich nicht, mir genügte zu wissen, daß Österreich bereits in direkter Fühlung mit den Alliierten sei. Was Wien wollte und was es vorschlug, dachte ich mir zurecht. Die Einzelheiten erfuhr ich später.
Ich betrachte die österreichische Friedensaktion folgendermaßen: Die Alliierten dachten seit Beginn des Krieges daran, daß Österreich sich von Deutschland trennen lasse; sie hätten mit Österreich Frieden geschlossen, aber mit Deutschland weiter gekämpft bis zu seiner vollständigen Niederringung. Das schloß ich gleich im Winter 1914 aus den Londoner Berichten, die offizielle Anschauung über Österreich bestätigte es mir überall. In diesem Sinne arbeitete die österreichische Propaganda: Österreich gehe gezwungen mit Deutschland, eigentlich sei es gegen Deutschland, Karl selbst redete ausdrücklich so. Nach dem Tode Franz Josephs hatte Karl in Frankreich und England die stärkste Position dadurch, daß er für den Krieg nicht verantwortlich war; er äußerte beständig seine Bereitschaft zum Frieden und gewann bei den Alliierten Sympathien.
Der Plan, Österreich-Ungarn von Deutschland zu trennen, wurde durch die Erfolge der Deutschen und die Niederlage Rußlands, später durch die russische Revolution bestärkt. Im Jahre 1916 bemerkten wir plötzlich an unserem Freunde und Mitarbeiter Svatkovskij, daß er sich mit Österreich bedenklich aussöhne; unter dem Einfluß des Regimes Stürmer trat er ausgesprochen für die Verständigung mit Österreich und, wenn nötig, auch mit Deutschland ein. Mit Svatkovskij sympathisierten manche einflußreiche französische Journalisten, die vorher mit uns gegen Österreich gewesen waren. Daraus mußte ich schließen, daß auch Regierungskreise dieser Meinung wohlwollten, und gab darauf stets acht.
Daß besonders in Frankreich der Gedanke, Österreich-Ungarn gegen Deutschland zu gewinnen, seit Beginn des Krieges ziemlich verbreitet war, ist daraus zu ersehen, daß der Botschafter Paléologue am 1. Januar 1915 dem Minister Sazonov einen detaillierten Plan vorlegte. Ich habe darüber in anderem Zusammenhang berichtet; hier will ich loyal hinzufügen, daß Paléologue seinen Plan für persönlich erklärte, nicht für offiziell, und darum erwähne ich ihn nur als Symptom. In Frankreich trug bald zur älteren Sympathie für Österreich und namentlich für Wien die militärische Absicht bei: durch den Separatfrieden mit Österreich die Deutschen militärisch zu schwächen und zu besiegen. Dabei sprach die ungünstige Gesamtlage auf den Kriegsschauplätzen mit. So kann man sich erklären, daß Minister Briand, der (Februar 1916) unser in der Forderung, Österreich-Ungarn zu vernichten, gipfelndes Programm angenommen hatte, ein Jahr später auf die Angebote des Prinzen Sixtus, Deutschland so zu isolieren und zu vernichten, einging. Und außer Briand waren der Direktor des Protokolls Martin, Freycinet, Jules und Paul Cambon u. a. eines Sinnes mit Sixtus (also mit Karl) – eine bedeutende Reihe einflußreicher und entscheidender Männer. Diese meine Auslegung scheint mir durch den Standpunkt des französischen Generalstabes und des Generals Foch bestätigt zu werden: der Generalstab befaßte sich nach dem Mißerfolg Nivelles ernsthafter mit dem Plan.
Was Clémenceau betrifft, so bin ich über das Werden seiner Anschauungen nicht informiert. Als ich zum erstenmal mit dem offiziellen Paris in Berührung kam, vernahm ich, daß er uns ungünstig gesinnt sei. Noch in Amerika wurde mir berichtet, er habe im Frühjahr 1918 mit Österreich verhandeln wollen und bereits, ich vermute durch einen bekannten Journalisten, dazu Beziehungen angeknüpft (was Czernin mißbraucht hat?), aber die Ungeschicklichkeit Wiens habe ihn abgeschreckt. Auf jeden Fall hat gerade Clémenceau uns sehr geholfen.
Unsere Leute hielten sich oft über die Sympathien für Österreich auf; aber: waren denn die Franzosen und alle anderen in dieser ihrer Politik nicht lange – durch uns selbst bestärkt worden? Wer verkündete, angefangen von Palackýs ursprünglicher Anschauung, bei uns die Austrophilie und die Idee, daß Österreich ein Schutz gegen Deutschland sei? Und was wurde während des Krieges bis zum Jahre 1917 über das offizielle Prag gelesen? ... Die Franzosen mußten sich ebenso umorientieren wie wir, und viele taten es gründlich. Z. B. Chéradame, mit dem wir in Verbindung standen; vor dem Kriege hatte er für die Erhaltung Österreichs gegen Deutschland geschrieben, im Kriege erkannte er, daß Österreich dem Deutschen Reiche nicht mehr zu widerstehen vermag. Karls Verhandlungen konnten nicht vom Erfolg begleitet sein; daß sie überhaupt geführt wurden und wie sie geführt wurden, ist nur ein Beweis dafür – ein allerdings sehr lehrreicher –, wie die offiziellen Kreise auf beiden Seiten politisch nicht orientiert waren. Die Alliierten hatten sich doch im Londoner Pakt gegenüber Italien zu bedeutenden territorialen Zugeständnissen auf Österreich-Ungarns Rechnung verpflichtet; aber sie hatten auch gegenüber Rumänien das Gleiche mit Siebenbürgen getan und Serbien als Minimum Bosnien-Herzegowina und den freien Zutritt zum Meere versprochen, – was blieb also von Österreich-Ungarn übrig? Notabene – Österreich und speziell Karl war bereit, ganz Galizien dem geplanten polnischen Königreiche unter Deutschlands Führung zu opfern. Wenn auch ein vom französischen Generalstab geförderter Plan aufgetaucht ist, Österreich mit Preußisch-Schlesien oder Bayern zu entschädigen, so ist das ein weiterer Beweis für die offizielle Unorientiertheit.
Mit dieser sachlichen Schwierigkeit erkläre ich mir, daß besonders Ministerpräsident Ribot gegen Karls Plan vorsichtig war und nicht ohne Italien verhandeln wollte. Karl und seine Bevollmächtigten behaupteten zwar, Cadorna und der König hätten (etwa zur Zeit der ersten Verhandlungen des Prinzen Sixtus) Österreich den Frieden angeboten, aber ich bezweifle, daß die Nachricht in diesem Wortlaut vollständig ist. Manche Unterhändler Karls unterstützten ihr Angebot durch die Behauptung, auch das nachzarische Rußland – Fürst Lvov – habe sich Österreich angeboten, aber es scheint, daß auch diese Behauptung, ebenso wie die über Italien, auf Franzosen und Engländer keine Wirkung mehr tat. In Paris hatte man Nachrichten, daß, umgekehrt, Österreich – Czernin – sich Rußland angeboten habe. Ich erfuhr auch in Rußland (im August 1917), daß ein holländischer Korrespondent dem damaligen Minister des Äußern, Tereščenko, eine Botschaft Österreichs überbracht habe; Österreich gestand Rußland den Sonderfrieden zu; soviel ich weiß, war Teresčenko nicht dagegen, aber die damalige Regierung hatte nicht mehr die Macht und den gehörigen Mut. Über die Friedensverhandlungen mit Rußland habe ich übrigens schon früher berichtet.
Wie unorganisch die Verhandlungen der Entente mit Karl waren, ergibt sich daraus, daß Frankreich Mitte Dezember 1917, also zur Zeit, da Österreich (durch Revertera, Mensdorff und eigentlich auch durch Sixtus) mit den Alliierten verhandelte, unseren Nationalrat als Haupt der dort errichteten tschechoslowakischen Armee anerkannte; die Verordnung über die Errichtung der selbständigen tschechoslowakischen Armee in Frankreich erschien nach der Vereinbarung des Ministers Clémenceau mit Dr. Beneš am 7. Januar 1918, am Tage bevor Wilson im Kongreß seine vierzehn Punkte bekannt gab und einen Tag nach der austrophilen Rede Lloyd Georges. Schließlich geht der unorganische Charakter jener Verhandlungen doch auch daraus hervor, daß die Alliierten im Januar 1917 in der Antwort an Wilson unsere Befreiung gefordert hatten und daß sogar Minister Briand diese Forderung gestellt hatte.
Daß Österreich und insbesondere Karl so handelten, verwundert mich nicht. Österreich hatte 1917 bereits seine Schwäche erkannt und propagierte darum seinen unaufrichtigen antideutschen Plan. Im April 1917 verfaßte Graf Czernin (übrigens auf Befehl Karls nach der Zusammenkunft in Homburg!) seinen bekannten Bericht über die Lage Österreichs für Kaiser Wilhelm und das deutsche Oberkommando; ich habe schon erwähnt, daß die Entente von diesem Berichte bald erfuhr. Und es versteht sich, daß die Friedensaktion Karls dadurch abgeschwächt wurde.
Nur kurz will ich bemerken, wie Deutschland und vor allem Kaiser Wilhelm die Enthüllung Clémenceaus aufnahmen; es gibt Nachrichten über Karls Canossa, doch wurde auch behauptet, Karl habe sein Angebot mit Wissen Deutschlands getan. Das behauptet Ludendorff – eine, was kritische Konstatierung von Tatsachen und ihre Wertung betrifft, allerdings unverläßliche Firma. Aber Bethmann Hollweg war in der Zeit von Sixtus' Verhandlungen nicht abgeneigt, wenigstens einen Teil von Elsaß-Lothringen an Frankreich abzutreten.
Für uns war es zu Beginn 1918 wichtig, daß Clémenceau so scharf gegen Wien auftrat. Damit, daß er das Tun Karls und Czernins der politischen Öffentlichkeit enthüllte und die Österreicher der Unloyalität überführte, nützte er uns sehr und erleichterte uns die antiösterreichische Arbeit, deren ich mich sofort nach meiner Ankunft in Amerika kräftig angenommen hatte.
Als ich in Amerika eingetroffen war, fand ich in der offiziellen Welt und in der breiten Öffentlichkeit trotz den Enthüllungen Clémenceaus überall eine noch starke Österreichfreundlichkeit vor, und wir hatten daher viel Arbeit mit ihrer Bekämpfung. Aber unsere Propaganda ging in der öffentlichen Meinung ganz Amerikas, in der Gesellschaft von Washington und anderen Städten und überhaupt im breiten politischen Publikum gut vonstatten. Unsere Artikel, Interviews, Vorträge, Denkschriften usw. gewannen uns von einem Tag zum andern Sympathien und Anhänger. Politisch wirkte das historische Argument, das unser Staat dem Rechte nach noch existiere und daß er insbesondere das gleiche Recht habe wie die Magyaren; dabei konnten wir uns auf das Zeugnis Wilsons (in seinem Buche »The State«) berufen. Wirksam waren die Argumente über die Wahlprivilegien des Adels und alle antidemokratischen Institutionen und Einrichtungen; die Tatsache, daß Deutsche und Magyaren, eine Minderheit, die Mehrheit der Bevölkerung unterdrücken, wirkte immer und überall sehr mächtig. Ebenso mächtig wirkten die Nachrichten über die österreichischen und magyarischen Grausamkeiten, die an unseren Bürgern und denen der anderen Nationen verübt wurden. Wir führten Daten aus der Publikation von Professor Reiss u. a. an.
Ergiebig war stets das Material, das uns – die Magyaren und die Deutschen mit ihren Unwahrheiten und Lügen lieferten; deren Widerlegung nützte uns jedesmal. Ein Beispiel: In einer von Pazifisten veranstalteten Versammlung log ein magyarischer Propagator in plumper Weise, die Magyaren hätten 1870 im Parlament gegen die Annexion Elsaß-Lothringens protestiert; ich überführte den Redner durch die Feststellung, daß es der böhmische Landtag gewesen sei, wo das geschah, während das magyarische Parlament unter Andrassys Leitung die Neutralität Österreich-Ungarns durchgesetzt und Preußen geholfen habe. Und derselbe Andrassy sei dann mit Bismarck gegangen, so daß de facto die Magyaren den Grundstein zum Dreibund und seiner Politik gelegt haben. Dieses Argument konnte und mußte ich gegen die magyarische Propaganda häufig verwenden.
Die Propaganda verfolgte, wie überall, den Zweck, Amerika mit unserer politischen und kulturellen Geschichte bekannt zu machen. Von den Tschechen und dem ehemaligen tschechischen Königreich wußte man wohl, aber mit den Slowaken hatten wir Schwierigkeiten; sie waren unbekannt, und die Amerikaner begriffen schwer, daß sie einen Teil unserer Nation bilden.
Die Amerikaner mußten überzeugt werden, daß unsere Nation befreit sein wolle und um die Freiheit kämpfe. Immer wieder wurde uns vorgehalten, daß die tschechischen Führer in der Heimat sich gegen Österreich nicht feindlich stellen. Das mußte widerlegt werden. Das Desaveu vom Januar 1917 wurde uns vorgeworfen, da es Wilsons Ansicht zu bestätigen schien.
Dagegen führten wir allerdings an und wiederholten stets, daß das Desaveu offenbar erzwungen worden sei, und paralysierten es durch die späteren Erklärungen. Wie schon erwähnt, war uns dabei die Interpellation der Deutschen im Dezember 1917 behilflich; wir brachten sie als Beweis vor, daß sich unsere Nation wirklich im Aufstand gegen Österreich befinde.
Im selben Sinne wurde die Deklaration vom 6. Januar 1918 verwendet, und für die Slowaken konnten wir das Manifest vom Sv. Mikuláš (1. Mai) ausnützen, obgleich der Wortlaut, wie wir ihn in Amerika erhielten, offenbar ganz unvollständig oder durch die magyarische Zensur verfälscht war.
Unsere antiösterreichische Propaganda wurde durch die aller anderen Völker Österreich-Ungarns verstärkt. In unseren Artikeln und Publikationen verfochten wir überhaupt auch die Rechte dieser anderen Völker und standen mit der Führung der Südslawen, Polen, Kleinrussen, Rumänen und Italienern in enger Verbindung. Sehr oft waren unsere Versammlungen gemeinsam; der römische Kongreß wurde uns eine wirksame Waffe, ebenso die Mitteleuropäische Union.
Sehr wirkungsvoll war die Beweisführung, daß Österreich am Kriege mitschuldig sei. Die österreichische und magyarische Propaganda wälzte alle Schuld am Kriege auf Deutschland ab; wir bewiesen, daß auch Österreich große Schuld treffe.
Als Kaiser Karl, die Regierung und verschiedene Politiker anfingen, den österreichischen Völkern und insbesondere uns Tschechen Versprechungen zu machen (in der das Parlament eröffnenden Thronrede verheißt der Kaiser Verfassungs- und Verwaltungsänderungen mit besonderer Rücksicht auf die Tschechen), wurde dies gegen uns vorgebracht. Dagegen führten wir allerdings unter allem andern an, wie die österreichischen Minister Seidler und Czernin (dieser in Brest-Litovsk) sich Wilsons Formel über die Selbstbestimmung der Nationen widersetzt haben; sehr scharf beleuchteten wir die brüske Art der Czerninschen Antwort auf Wilsons Friedensbedingungen. Aber den Hauptnachdruck legten wir darauf, daß Österreich seine Versprechungen aus Schwäche mache und daß sie unaufrichtig seien; Karl dachte im Herbst 1917 daran, sich zum König von Böhmen krönen zu lassen, Statthalter Coudenhove unterstützte den Plan, aber die Wiener Regierung lehnte ihn ab, wobei gar nicht darüber gesprochen zu werden braucht, daß eine formale Krönung für unser Volk nichts bedeutet hätte. All das würde uns kaum genügt haben, wenn unsere politische Lage sich inzwischen nicht dadurch bedeutend verändert hätte, daß auch die anderen Alliierten nach Frankreichs Vorbild unseren Nationalrat und seine Bestrebungen anerkannten, weil wir in drei alliierten Ländern unsere Legionen besaßen. Hauptsächlich nützte uns dann in Amerika der Widerhall, den unsere sibirische Expedition in der ganzen Welt fand.
Über die sogenannte Anabasis will ich hier nur soviel sagen, als zum Verständnis und zur Ergänzung dieses Berichtes über unsere politische Arbeit im Auslande nötig ist.
Ich hatte mich in Japan befunden, als der verhängnisvolle Zwischenfall von Tscheljabinsk sich ereignete. In Tscheljabinsk verwundete am 14. Mai, wie mir damals gemeldet wurde, ein deutscher Gefangener einen unserer Jungen und wurde auf der Stelle niedergeschlagen. Die Bolschewiken von Tscheljabinsk ergriffen die Partei der deutschen und magyarischen Gefangenen, es folgten die nun schon bekannten weiteren Ereignisse, die mit der Einnahme der Stadt durch unsere Truppen endeten. Das waren allerdings bereits Folgen früherer Konflikte, die zwischen den Lokalsowjets, Moskau und unserer mit der Bahn nach Wladiwostok transportierten Armee entstanden waren. Am 21. Mai waren schon Maxa und Čermák, die Vertreter der Zweigstelle, in Moskau verhaftet worden.
Diese und die darauffolgenden Ereignisse erfuhr ich erst in Amerika; Ende Mai waren unsere Abteilungen in Tscheljabinsk übereingekommen, den Marsch nach Wladiwostok in militärischer Weise durchzuführen. Am 25. Mai hatte tatsächlich der Kampf, die militärische, kriegerische Anabasis begonnen; die ersten unbestimmten Meldungen über den siegreichen Kampf der Unseren mit den Bolschewiken trafen Ende Mai ein, vor allem die Nachricht über die Eroberung von Pensa (29. Mai). Dann folgten Meldungen über die Eroberung anderer Städte an der Wolga (Samara, Kasan usw.) und über die Einnahme von Städten und der Bahnlinie in Sibirien.
Die Wirkung dieser Meldungen in Amerika war überraschend und sozusagen unglaublich, – auf einmal waren die Tschechen, die Tschechoslowaken jedermann bekannt; unsere Armee in Rußland und in Sibirien wurde Gegenstand des allgemeinen Interesses, ihr Vormarsch rief geradezu Begeisterung hervor. Bis zu einem gewissen Grade wuchs die Begeisterung, wie es in solchen Fällen oft zu sein pflegt, aus der Unkenntnis der Sache; aber die amerikanische Öffentlichkeit begeisterte sich wirklich. Die Anabasis unserer russischen Legionen wirkte nicht nur auf die breite Öffentlichkeit, sondern auch auf die politischen Kreise. Die Beherrschung der Eisenbahn und die Besetzung von Wladiwostok, all dies erschien wie eine Sage, wie ein Märchen. Die Erfolge der deutschen Offensive in Frankreich gaben ihr den dunklen Hintergrund ab. Der Beherrschung der Eisenbahn schrieben auch nüchterne Politiker und Militärs eine große militärische Bedeutung zu. Ludendorff veranlaßte einen Protest seiner Regierung, der gegen unsere Armee in Rußland den Bolschewiken überreicht wurde, und er führte es auf unsere Anabasis zurück, daß die deutschen Gefangenen nicht in die Heimat zurückkehren und die Armee verstärken konnten.
Der politische Erfolg in Amerika war entschieden, und dies um so mehr, als die sibirische Anabasis auch in Europa in gleicher Weise beurteilt und aufgenommen wurde. Es ist gewiß, daß sie auf den politischen Entschluß der Regierung der Vereinigten Staaten Einfluß hatte; die Ereignisse in Sibirien kamen durch direktes Kabel nach Amerika früher und fanden dort stärkeren Widerhall als in Europa; die Legionen wurden Anfang August in Amerika populär, in Europa etwas später. In Europa wurde die politische und militärische Öffentlichkeit durch die nahen Geschehnisse lebhafter beschäftigt, denn hier wurde der eigentliche Krieg geführt
Als Beleg der amerikanischen Auffassung von der sibirischen Anabasis führe ich aus einer Zuschrift vom 13. September 1918 des inzwischen verstorbenen Mr. Lane, Wilsons Minister des Innern, die Worte an: »... Ist die Welt groß – nicht? Und ihre größte Romantik ist nicht einmal die Tatsache, daß Woodrow Wilson ihr Herr ist, sondern der Vormarsch der Tschechoslowaken über 5000 Meilen von Russisch-Asien – eine Armee auf fremdem Gebiet, ohne Regierung, ohne eine Spanne Landes, die als Nation anerkannt wird. Das erregt meine Phantasie, glaube ich, wie nichts anderes im Kriege seit der Zeit, da König Albert von Belgien bei Lüttich aushielt.« (The Letters of Fr. K. Lane, 1922, p. 293.)
Aus England haben wir einen Brief Lloyd Georges vom 11. September 1918:
»An den Präsidenten des tschechoslowakischen Nationalausschusses, Paris.
Im Namen des britischen Kriegsministeriums sende ich Ihnen unsere herzlichsten Glückwünsche zu den erstaunlichen Erfolgen, die vom tschechoslowakischen Korps gegen deutsche und österreichische Truppen in Sibirien errungen wurden. Die Nachricht über die Erlebnisse und Siege dieses kleinen Heeres ist in der Tat eines der größten Epen der Geschichte. Sie erfüllte uns alle mit Bewunderung für den Mut, die Ausdauer und Selbstzucht Ihrer Landsleute und zeigt, wie diejenigen, die in ihrem Herzen den Geist der Freiheit bewahren, über die Zeit, Entfernung und materiellen Mangel zu siegen wissen. Ihre Nation hat Rußland und den Alliierten in ihren Kämpfen für die Befreiung der Welt vom Despotismus einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Wir werden es nie vergessen.
Lloyd George.«
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Allerdings liefen bei mir bald auch, wie es in jedem Kriege nicht anders sein kann, ungünstige Nachrichten ein. Zunächst waren es die Nachrichten über verschiedene Unzulänglichkeiten in der Armee. Nach einiger Zeit, von August ab, verließ die Armee die eroberten Städte an der Wolga. Der Kampf auf so langer Front war gewiß schwierig und die Einnahme der Wolgastädte wohl ein strategischer Fehler gewesen. Etwas später wurden ungünstige Nachrichten über den moralischen Zustand unserer Armee in Sibirien verbreitet; es begann die Gegenpropaganda der Bolschewiken und aller unserer politischen Feinde.
Mich verdrossen mehr die Nachrichten alliierter Offiziere, die aus Rußland und Sibirien ankamen und das Sinken der Zucht in unserer Armee schilderten; diese Nachrichten gelangten nur zu geringem Teil in die Öffentlichkeit, aber es ist natürlich, daß sie uns schadeten. Dennoch blieben uns die Sympathien der großen Mehrheit der öffentlichen Meinung und der Regierungskreise gesichert.
Ich bemühte mich um Hilfe für unsere Jungen bei der Regierung, und tatsächlich kam es zur militärischen Hilfsexpedition nach Sibirien und zur Aktion des Präsidenten Wilson und des amerikanischen Roten Kreuzes. Am 3. August 1918 kam die amerikanische Regierung mit der japanischen überein, einige wenige Tausend Mann nach Wladiwostok zu senden; der Zweck der Aktion wurde mit den Worten bekanntgegeben: »den Tschechoslowaken soviel Schutz und Hilfe, wie möglich war, angedeihen zu lassen, und zwar gegen bewaffnete österreichische und deutsche Kriegsgefangene, die sie angreifen«. Präsident Wilson bewilligte einen Kredit von sieben Millionen aus dem Fonds, über den er persönlich disponierte. Es wurde ein besonderes Hilfskomitee für die sibirische Armee gebildet, das über das Geld verfügen sollte; ihm gehörte auch ein tschechoslowakischer Vertreter an. Ich gedenke da der Persönlichkeiten, die uns behilflich waren: Mr. V. Cr. McCormick widmete viel von seiner Zeit unseren Legionen und wirkte auf Wilson, uns Kredite zu gewähren; Mr. Vauclain nahm sich unser sehr an, und, wie in Sachen der Legionen, nützten uns wiederum Lansings Sekretäre, die Herren Polk und Long. Mr. Landfield, Assistent im Staatsdepartement, der sich lebhaft für alle russischen Dinge interessierte, war uns sehr zugetan. General Goethals, der Erbauer des Panamakanals, Vorsitzender der Einkaufsabteilung der Armee, trug zur Hilfsaktion bei, ebenso General March, der Chef des Generalstabes. Ich will noch den Oberst Sheldon erwähnen, der vom Generalstab unserem Militärattaché Hurban zugeteilt war. Einer der ersten, mit denen ich in Militärsachen in Fühlung kam, war Kapitän Blankenhorn. Diese kurze, trockene Aufzählung von Namen zeigt, wie unsere Sache durch die sibirische Anabasis in die höchsten und entscheidenden offiziellen Kreise gedrungen war. Das amerikanische Rote Kreuz beabsichtigte, uns verschiedene Vorräte und Lieferungen im Werte von 12 Millionen zu spenden; aber diese Hilfe wurde so wie die ganze Hilfsaktion geringer, als wir erwartet hatten, weil die Verbindung mit Sibirien und die Lieferung aus Amerika schwierig war, mitunter geradezu illusorisch.
Die nach Sibirien entsandte Militärmission änderte aus Rücksicht auf die Japaner und infolge anderer Komplikationen ihre Pläne und griff in die Kämpfe gegen die Bolschewiken nicht ein; ich paßte mich den Ansichten der Regierungen und der militärischen Autoritäten der Entente an, aber ohne nennenswerten Erfolg – die Ententemächte waren untereinander nicht einig, und meine Anschauungen über Rußland unterschieden sich doch nur von den eng politischen und militärischen und dadurch in der gegebenen Situation eben unzulänglichen alliierten Plänen.
Die Lage nötigte uns zu einer merkwürdigen Berichterstattung über die sibirischen Vorfälle. Nach der Sachkenntnis, die ich von Rußland und unseren Leuten hatte und nach den uns durch Boten aus Sibirien und Rußland gebrachten Nachrichten lieferten wir den Zeitschriften, verschiedenen politischen Persönlichkeiten und der Regierung Berichte. Als man z. B. über Semenov zu reden anfing und über sein Verhältnis zu unserer Armee falsche Nachrichten zirkulierten, reichte ich der amerikanischen Regierung und dem Präsidenten ein Memorandum ein, worin ich diesen Abenteurer, den einige unserer Leute ganz überflüssigerweise gehätschelt hatten, in richtigem Licht darstellte. Die Entwicklung der Ereignisse gab dem Memorandum (das von Oberst Hurban, der seit Ende Juli den Dienst eines Militärattachés versah, geschrieben wurde) recht. Der amerikanische General Churchill bestätigte nach einiger Zeit völlig unsere Nachricht; dadurch wurde, wie in vielen Fällen, unsere Autorität abermals gestärkt.
Die Frage, wer den Kampf in Rußland und Sibirien verschuldet habe, ob wir oder die Bolschewiken, braucht hier nicht eingehender besprochen zu werden. Ich glaube, daß das Urteil des französischen Offiziers und späteren Bolschewiken Sadoul für die ganze Angelegenheit gilt. Sadoul sah schon im Februar und März 1918 und ebenso später, als der Kampf ausbrach, ganz gut, daß die bolschewikische Regierung in Moskau die Lage nicht richtig beurteilte und unserer Armee zu Unrecht irgendwelche reaktionären Tendenzen zuschrieb. Das war nicht richtig und nicht aufrichtig, namentlich von Trockij, der im März 1918 noch selbst die Hilfe der Alliierten gegen Deutschland erwartet hatte. Die Lage wurde durch einzelne Lokalsowjets und den Einfluß unvernünftiger und politisch unreifer Lokalgrößen verschärft. Ich habe die Abmachung mit den Sowjets vom 26. März 1918 erwähnt; Kommissar Stalin ordnete namens der Moskauer Sowjets dem Ortskommissar in Pensa an, gemäß Abmachung unsere Jungen nach Wladiwostok durchzulassen, aber schon am 28. März, also am zweiten Tag nach dieser Anordnung, fingen die Unsrigen Telegramme des Sowjets von Omsk auf, der die Entwaffnung unserer Truppen und ihren Transport nach Archangelsk forderte. Dem Druck der Lokalsowjets unterlag schließlich auch Moskau. Unsere Jungen führten loyal die Teilentwaffnung durch, wie Moskau sie forderte (die Waffen waren angeblich russisches Eigentum); sie begriffen die Schwierigkeiten Moskaus gegenüber den Deutschen nach dem Frieden von Brest-Litovsk, demgemäß sich keine bewaffneten antideutschen Kräfte auf russischem Gebiet aufhalten durften, aber andererseits fühlten sie die Unloyalität Moskaus gut heraus. Es war nicht loyal, wenn die Bolschewiken (im Juni) den Deutschen vorschlugen, die Bewaffnung der deutschen Gefangenen gegen unsere Leute in Sibirien zu genehmigen; die Deutschen waren korrekter und sprachen sich dagegen aus. Es ist wahr, daß Moskau durch das unverständige und verräterische Vorgehen tschechischer Bolschewiken aufgehetzt worden war. Gegen verschiedene verfärbte Nachrichten sandte ich Ende Juni eine Darlegung in diesem Sinne an Tschitscherin, die auch in allen Blättern Amerikas und Europas veröffentlicht wurde. Unsere Kämpfe in Sibirien bedeuteten keine Intervention gegen die Bolschewiken; sie entstanden aus keiner Interventionspolitik, sondern aus den angegebenen Gründen, die uns zur Abwehr nötigten.
Deshalb ist es auch unrichtig, uns zu beschuldigen, daß wir, wenn auch unwillkürlich, zur Ermordung des Zaren und seiner Familie durch die Bolschewiken in Jekaterinburg (16. Juli 1918) beigetragen haben. Die erste offizielle Meldung in Moskau lautete nämlich, daß der Lokalsowjet die Erschießung des Zaren befohlen habe wegen Fluchtgefahr und der Möglichkeit, daß die Tschechoslowaken den Zaren entführen: unsere Truppen besetzten Jekaterinburg am 25. Juli, aber die Hauptsache ist, daß unsere Legionen in Sibirien absolut nicht den Plan hatten, den Zaren zu befreien. Der Unglückliche! Seine eignen reaktionären Leute hatten ihn geopfert und seine Beseitigung, je nach Bedarf auch durch Ermordung, erwogen; die Bolschewiken kamen und führten aus, was die Monarchisten beabsichtigt hatten – die Geschichte gefällt sich in derartigen Ironien ...
Bei der Abreise von Rußland hatte ich, wie ich schon erzählt habe, den Auftrag hinterlassen, vom Prinzip der Nichteinmischung nicht abzuweichen; aber ausdrücklich hatte ich die Notwendigkeit der Notwehr betont für den Fall, daß wir von irgendeiner Seite, auch der russischen, angegriffen werden sollten. Die betreffende Stelle meiner Proklamation vom 7. März 1918 (»Brüder, Soldaten und Gefangene!«) lautet: »Solange ihr in Rußland sein werdet, wahret in den inneren Parteikämpfen wie bisher strenge Neutralität. Nur jene slawische Nation und jene Partei, die sich offen mit dem Feinde verbündet, ist unser Feind.« Von der »slawischen Nation« sprach ich im Hinblick auf mögliche Verwicklungen nicht nur mit den Russen, sondern z. B. auch mit den Ukrainern und Polen. Das hinterließ ich dem Sekretär Klecanda schriftlich: unsere Armee solle im Interesse weder der einen noch der anderen Partei intervenieren, dürfe sich jedoch und solle sich verteidigen – Notwehr ist etwas anderes als politisch geleitete Intervention. Selbst konnte ich freilich von Washington keine politischen, geschweige denn militärischen Einzelbefehle erlassen. Unsere Zweigstelle in Rußland und die einzelnen militärischen Abteilungen mußten nach der gegebenen Lage selbst entscheiden, und mir blieb nichts übrig, als ihrer Urteilsfähigkeit und ihrem guten Willen zu vertrauen. Und dieses Vertrauen wurde nicht enttäuscht. Die Jungen fühlten selbst sehr gut, daß ihnen die politische Führung fehlte; ich denke dabei an die telegraphische Nachricht von Mitte Juni, die von Gajda und Patejdl abgeschickt und in der ein zuverlässiger politischer Führer verlangt wurde. Da es keinen gab, war die Führung auf Distanz unmöglich.
Ich möchte und könnte nicht alles verteidigen, was nach meinem Weggang in den Legionen geschah, nicht nur politisch, sondern auch strategisch. Ich sah eine gewisse Uneinheitlichkeit und ein Schwanken der Politik, Anfälle von Abenteurertum und häufige Ratlosigkeit einzelner militärischer Abteilungen (ich rede da nur vom Jahre 1918); ich bemängelte, daß das sibirische Kommando nicht sofort die Unfähigkeit Kolčaks und seiner germanophilen Umgebung u. ä. erkannte. Aber zur Erklärung und Entschuldigung darf ich sagen, daß das Beginnen der Bolschewiken unrichtig und illoyal war; unsere Jungen waren überzeugt, daß die Bolschewiken von Deutschen und vor allem von Österreichern und Magyaren angeführt werden, und daß sie also eigentlich gegen Deutschland und Österreich kämpfen. In allen Meldungen wurde auf die Beteiligung deutscher und magyarischer Gefangener an den bolschewikischen Kämpfen gegen uns hingewiesen. Auch die Politik der Alliierten in Sibirien war unklar; von Einzelheiten erwähne ich, daß gerade der französische Kommandant Guinet sich bemühte, eine Front an der Wolga zu halten, indem er Hilfe von einer erdichteten alliierten Armee bei Wologda erwartete. Und die Unsrigen meinten, die tschechisch-russische Front an der Wolga sei ein Wiederaufleben der Kämpfe gegen Deutsche und Österreicher.
Im Ganzen fiel die Sache gut aus, besser, als nicht nur unsere Feinde, sondern auch unsere gerechteren Kritiker ausführen. Was die Disziplin in unserer Armee betrifft, so möge man die lange Untätigkeit, die Verstreutheit vom Ural bis Wladiwostok und die allgemeine Nervosität in Rußland bedenken; soweit es sich um die militärische Seite handelt, so gebe ich die Mängel einer improvisierten Armee und ihrer Leitung, wie ich sie schon dargelegt habe, zu. Letzten Endes muß nochmals an die uneinheitliche und unbestimmte Stellungnahme der Entente und später auch Amerikas zu Rußland und die dadurch entstehenden Unstimmigkeiten und Unsicherheiten erinnert werden; es war z. B. die französische Mission, die der Zweigstelle den Plan empfohlen hatte, die Truppen nach Frankreich nicht nur über Wladiwostok zu senden, sondern auch über Archangelsk und Murmansk, wodurch die Einheit und Stärke der Truppen bedenklich geschwächt worden wäre.
Unsere Truppen ertrugen lange gutwillig materiellen Mangel und litten moralisch durch die lange Trennung von Familie und Heimat; ein gewisses Nachlassen der Zucht konnte man erwarten. Aber die Armee war trotzdem und trotz vielen Enttäuschungen nicht demoralisiert; einzelne Teile machten schwere Krisen durch, wie der freiwillige Tod von Švec bezeugt, der aber durch seine Tragik reinigend wirkte.
Der Geist unserer sibirischen Armee muß auch nach ihrer nichtmilitärischen Tätigkeit beurteilt werden. Unsere Soldaten führten immer und überall neben ihrer militärischen auch die verschiedenartigste wirtschaftliche Arbeit aus. Sehr bald organisierten sich bei der Armee Arbeitsgenossenschaften (im August 1918); etwas später wurde eine Handelskammer, dann eine Sparkasse und Bank gegründet. Am Ural und anderswo organisierten unsere Soldaten industrielle Unternehmungen; ich will da nicht die sehr anständig ausgebaute Militärpost vergessen. An all dies muß man denken, wenn man von unserer Armee in Rußland und Sibirien redet. Es handelt sich nicht nur um die Gloriole der heroischen Anabasis; wir wollen sie nicht vergrößern, aber es ist ganz unrichtig, sie nur als bloße Augenblicksrakete anzusehen.
In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, daß sich in Sibirien auch unsere Deutschen zu unserer Armee zu melden begannen; aus ihnen wurden Arbeitsabteilungen gebildet.
Schließlich muß auf die verhältnismäßig tadellose Rückkehr der ganzen Armee auf dem Wege um die Welt hingewiesen werden. Ich meine vor allem die Tatsache, daß unsere Jungen durch ihre Disziplin, ihr Auftreten an den einzelnen Haltestellen der Weltreise, unter den unbekannten Völkern die Kunde von uns verbreiteten; darüber habe ich von amerikanischen und anderen Kapitänen der Transportschiffe sehr angenehme Meldungen. Auch darin äußerte sich die Disziplin. Dann will ich die ganze Technik der Überfahrt hervorheben, denn in ihr erblicke ich organisatorische Fähigkeit und Geschicklichkeit. Wenige Menschen können sich genauer vorstellen, eine wie große Sache, rein technisch betrachtet, diese Rückkehr aus dem fernen Osten auf dem Wege fast um die ganze Welt war. Daß sie in verhältnismäßig kurzer Zeit bewerkstelligt wurde (der erste Transport von Wladiwostok ging am 9. Dezember 1919 ab; am 17. Juni traf der Generalstab in Prag ein, und am 30. November war die Evakuation beendet), verdanken wir auch der Freundlichkeit der Alliierten, die uns Schiffe überließen, und dem Dr. Beneš, der deswegen seine erfolgreichen Verhandlungen mit den Alliierten führte.
Mein Plan war allerdings gewesen, die Armee so bald wie möglich nach Frankreich zu bringen; dort sollte sie noch im Jahre 1918 und vielleicht 1919 militärisch zur Geltung kommen. Die Armee kam nicht nach Frankreich; aber Hauptsache war, daß wir eine Armee besaßen und daß sie sich dennoch zur Geltung brachte. Eben die sibirische Anabasis beweist, daß mein Drängen auf eine große Armee hin richtig war und uns Früchte trug; kleine, unmilitärische und politische Abteilungen, wie sie unsere Leute und die russische Regierung gewollt, wären in Rußland versunken und in der bolschewikischen Lauge zergangen.
Davon zu sprechen, was wohl geschehen wäre, wenn unsere Armee Frankreich erreicht hätte, als sich alles zum Frieden neigte, das und ähnliche Vermutungen überlasse ich Historikern und Politikern; »wenn« –! Gewiß hätte ich es politisch auch gut ausgenützt.
Ich will also zusammenfassen, was bisher über die Formation unserer Truppen in den alliierten Ländern gesagt wurde, und die politische und internationale Bedeutung unseres Auslandsheeres beleuchten.
Gleich zu Kriegsbeginn bestand überall in den tschechischen Kolonien das ganz spontane antiösterreichische Programm, in die alliierten Armeen einzutreten. In den Ländern, die sich im Kriege befanden und mobilisierten, wurden unsere Kolonisten, soweit sie schon Bürger dieser Staaten waren, in die Armeen eingereiht; diejenigen, die dort noch nicht Bürger geworden waren, traten als Freiwillige ein.
In Frankreich wurden unsere Leute zunächst nur in die Fremdenlegion aufgenommen. Dort blieben sie allerdings nicht sehr gern und trachteten daher, sobald wie möglich in die reguläre Armee zu gelangen oder eine selbständige Abteilung zu bilden. Doch lebten in Frankreich nur sehr wenige Landsleute; ihre Zahl fiel anfangs nicht ins Gewicht. Erst später wurde in Frankreich eine eigene Armee gebildet, als Freiwillige aus Rußland und Amerika eintrafen. Trotzdem begriff Frankreich zuerst die Bedeutung unserer Legionen und unterstützte ihre Bildung nicht nur im eigenen Lande, sondern auch in Rußland; die Franzosen hatten eine größere Anzahl von elsässischen und lothringischen Freiwilligen und bewiesen infolgedessen auch in unserer Sache eine größere Initiative.
In Rußland waren die Zustände anders. Dort waren unsere Kolonien größer, man konnte deshalb an einen eigenen Truppenteil denken. So entstand die Družina, doch als Bestandteil der russischen Armee; erst als sich Gefangene in größerer Anzahl zu ihr meldeten, kam die Idee eines selbständigen tschechischen Truppenteils auf. Die Geschichte unserer russischen Armee habe ich dargestellt.
In Italien hatten wir keine Kolonien: in den Städten lebten einzelne oder Gruppen von unseren Leuten. Als sich jedoch die Zahl unserer Gefangenen mehrte, wurde auch in Italien an der Bildung unserer Truppenteile gearbeitet. Der Erfolg stellte sich ein, wenn auch später als anderswo.
In England gab es eine schwache Kolonie in London; sie begann aber sehr früh und wirksam die Agitation für den Eintritt in die englische Armee. Unser Landsmann Kopecký setzte zu Beginn des Krieges mit Hilfe Mr. Steeds durch, daß Tschechen in die englische Armee eintreten durften.
In Amerika, wo wir die meisten unserer Leute hatten, war es längere Zeit unmöglich, eine militärische Abteilung zu bilden, da Amerika neutral blieb; erst im Jahre 1917 entschloß es sich zum Krieg. Deshalb hatten sich manche unserer Leute aus den Vereinigten Staaten schon vorher zur kanadischen Armee gemeldet; in ihr organisierten sich tschechische Kompagnien aus Freiwilligen aus den Vereinigten Staaten; damit waren jedoch Schwierigkeiten verbunden, denn die amerikanische Regierung forderte von ihren Bürgern strenge Wahrung der Neutralität. Im Jahre 1917, nach der Kriegserklärung Amerikas, organisierte Štefánik mit Zustimmung der Regierung die Musterung für unsere französische Legion; ich erwartete von dieser Aktion nicht viel, denn Tausende von unseren Jungen traten sofort nach Amerikas Eintritt in den Krieg, im Frühjahr 1917, direkt in die amerikanische Armee.
Ich hatte von allem Anfang an, schon von Prag aus, die Aufstellung unserer Truppen erstrebt. Durch Herrn Voska hatte ich über England ersuchen lassen, unsere Gefangenen und Überläufer aufzunehmen. Die meisten Gefangenen hatten wir eben in Rußland, dahin wendeten sich natürlich meine Blicke, und dort errichteten wir schließlich nach langen Mühseligkeiten eine wirkliche Armee. Aus Rußland sandten wir einen kleinen Teil auch nach Frankreich. Durch das Entstehen unserer Legionen wurde uns das Problem aufgegeben, wie das Verhältnis der tschechoslowakischen Truppen zur Armee des Staates, auf dessen Gebiet sie formiert waren, zu lösen sei, und damit zugleich das Problem des Verhältnisses unserer und auch der fremden Truppen zu unserem Nationalrat als dem leitenden politischen Organ unseres Befreiungskampfes.
Dieses Problem bestand in Rußland, Frankreich, Italien und auch in Amerika und England, weil englische und amerikanische Truppen mit unseren Abteilungen auf dem Kriegsschauplatz in Frankreich zusammentreffen konnten, was auch geschah. Für Amerika bestand aber das Problem auch darum, weil auch amerikanische Staatsbürger und Tschechen aus Amerika bei unseren Truppen waren. Deshalb mußte seit dem Winter 1917 überall in den alliierten Ländern, sogar auch in Japan und China, das tschechische militärische Problem ganz natürlich in internationaler Form gelöst werden. Nur in Sowjetrußland wurde die Sache unsicher, da Rußland neutral und überhaupt alle internationalen Vereinbarungen mit Rußland unsicher geworden waren.
Die Lösung war überall gleich; die alliierte Regierung ließ auf ihrem Gebiet die Formation und die Freiwilligenmusterung unter Gefangenen und Nichtgefangenen zu; gleichzeitig erkannte sie den Nationalrat als politisches Organ unseres Kampfes und infolgedessen auch militärisch als höchstes Kommando der Truppen an. Oder anders ausgedrückt: unsere Truppen waren, wenn auch Teile der alliierten Armee, autonome, dem Nationalrat unterstellte Truppen. Ich war oberster Befehlshaber, gegebenenfalls Diktator der Armee, wie es die Jungen in Rußland proklamiert hatten, allerdings nicht Heerführer; meine Stellung entsprach dem Verhältnis der Souveräne zu ihrer von Heerführern und Behörden geleiteten Armee. Diese Führer waren im gegebenen Falle französische, italienische, russische Generale.
Die Anerkennung des Nationalrates als oberster Militärbehörde involvierte die Anerkennung der Einheit der ganzen Armee, d. h. aller Teile in sämtlichen alliierten Ländern. Weil unsere russische Armee ein Teil des Heeres in Frankreich wurde, war der französische Generalissimus ihr militärischer Oberbefehlshaber, und er ernannte dann den General Janin zum Generalissimus aller unserer Legionen. General Janin befand sich, wie ich dargelegt habe, mit der Militärmission in Rußland; er lernte Rußland und die russischen Armeezustände kennen und auch schon in Rußland unser Heer. Zu Beginn 1918 leitete er für den Nationalrat die Aufnahme aus den französischen Gefangenenlagern, in die unsere gefangenen Soldaten über Italien aus Serbien gelangt waren. Auf seiner Reise nach Sibirien hielt er sich in Washington bei mir auf, und wir konnten uns so über die eventuellen Aufgaben unserer Armee in Sibirien gut verständigen. General Janin erfüllte seine schwere Aufgabe loyal und mit Besonnenheit.
In Wirklichkeit konnte sich diese Funktion praktisch nicht entfalten, weil die einzelnen Teile nicht in einem einheitlichen Ganzen verbunden und die russischen Legionen in Sibirien geblieben waren; in Frankreich wurde der Teil der russischen Legionen mit amerikanischen und den ursprünglichen französischen Freiwilligen vereinigt. In Italien war die Legion viel größer als in Frankreich, doch kam es nicht zu ihrer Vereinigung mit der französischen, nur ein unbedeutender Teil, ich glaube ein Regiment, wurde nach Frankreich gesandt, damit die Einheitlichkeit unserer Armee doch dokumentiert werde.
Da wir die Armee verhältnismäßig spät errichteten, handelte es sich vorher und vom Beginn der Auslandsaktion an darum, die Anerkennung unseres nationalen und politischen Programms, das durch den Nationalrat repräsentiert wurde, zu erlangen. Unsere Auslandsaktion war revolutionär, in den Vereinigten Staaten galt jedoch das Prinzip der Legitimität; daher erfolgte auch die Anerkennung unseres Programms und des Nationalrates nur nach und nach, keineswegs ohne Schwierigkeiten. Anfangs erfolgte die Anerkennung nichtformal dadurch, daß die Alliierten mich, Dr. Beneš und Štefánik persönlich anerkannten, daß sie mit uns verhandelten; dazu gehört z. B. der Vorsitz des Ministerpräsidenten Asquith bei meiner Londoner Vorlesung.
Ähnlich vollzogen sich die Dinge auf militärischem Gebiet. Zu Beginn des Krieges hatten wir Schwierigkeiten mit den gültigen internationalen Verträgen und Gebräuchen; unsere Gefangenen waren für die Alliierten, international genommen, Österreicher. In allen alliierten Ländern dauerte es längere Zeit, bis man den Unterschied zwischen Österreichern einerseits und Tschechen und Slowaken andererseits begriff und anerkannte. Nicht nur im Westen, sondern auch in Rußland – und dort am strengsten – beachtete man diese staatsrechtliche und internationale Tatsache. Unsere Leute begriffen das schwer, und es entstanden daraus in allen Ländern viele unangenehme Zwischenfälle. Deshalb war es bereits ein Erfolg, als anfangs in den einzelnen Staaten für unsere Gefangenen, ähnlich wie für andere nichtdeutsche und nichtmagyarische Gefangene, verschiedene Erleichterungen erzielt wurden.
Die erste offizielle und ausdrückliche Anerkennung unseres nationalen Programms erreichten wir durch Minister Briand am 3. Februar 1916; darüber wurde ein offizielles Kommuniqué ausgegeben. Auf dieser Grundlage forderte die Entente, abermals durch Briand, in der Antwort auf Wilsons Frage nach den Friedensbedingungen die Befreiung der Tschechen und Slowaken von der Fremdherrschaft. Das geschah am 12. Januar 1917.
Das Jahr 1917 wurde uns gefährlich, weil Kaiser Karl insgeheim einen baldigen Sonderfrieden zu schließen trachtete, um so sein Reich zu retten. Ich habe schon dargelegt, wie durch diesen Schachzug der Habsburger überall die Austrophilie sich geltend machte und wie Karls Werben gerade Frankreich galt. Der Versuch Karls scheiterte und wurde durch die Formation unserer Legionen in Rußland, Frankreich und Italien und die Militärverträge mit Frankreich seit Dezember 1917 voll aufgewogen. Der Nationalrat und mit ihm unser politisches Programm wurde allmählich überall anerkannt, desgleichen sodann unsere Armee. Der Sommer des Jahres 1918 brachte uns eine Reihe entscheidender Anerkennungen aller alliierten Staaten.
Wie die Formierung der Legionen und ihre Beteiligung an dem gemeinsamen Kampfe politisch anerkannt und gewertet wurde, ist aus der Deklaration des Ministers Balfour (9. August 1918) wohl zu ersehen, und deshalb will ich sie hier wiedergeben:
Deklaration.
»Von allem Anfang des Krieges an hat sich die tschechoslowakische Nation mit allen Mitteln, die ihr zu Gebote standen, dem gemeinsamen Feinde widersetzt. Die Tschechoslowaken schufen eine bedeutende Armee, die auf drei Kriegsschauplätzen kämpft und in Rußland und Sibirien sich bemüht, die deutsche Invasion aufzuhalten.
In Anbetracht dieser Bestrebungen zur Erlangung der Unabhängigkeit betrachtet Großbritannien die Tschechoslowaken als verbündete Nation und erkennt die Einheit der drei tschechoslowakischen Armeen als alliierte und kriegführende Armee an, die in regelrechtem Krieg gegen Österreich-Ungarn und Deutschland steht.
Großbritannien erkennt auch das Recht des tschechoslowakischen Nationalrates als obersten Organs der tschechoslowakischen nationalen Interessen und als gegenwärtigen Sachwalters (Trustee) der künftigen tschechoslowakischen Regierung an, der über diese alliierte und kriegführende Armee die höchste Gewalt hat.«
Auf Grund dieser Deklaration vereinbarte Dr. Beneš am 3. September für den Nationalrat den ersten Vertrag mit Großbritannien. Die politische Idee unserer Legionen drückte der französische Präsident kurz in der Eröffnungsrede zur Pariser Friedenskonferenz in den Worten aus: »Die Tschechoslowaken haben sich in Sibirien, Frankreich und Italien ihr Recht auf Unabhängigkeit erkämpft.«
Über die Stärke unserer Auslandsarmee gebe ich diese (vorläufige) Statistik:
Die Armee in Rußland | 92 000 | Mann |
Die Armee in Frankreich | 12 000 | " |
Die Armee in Italien | 24 000 | " |
__________ | ||
128 000 | Mann |
Zu dieser Kombattantenzahl müssen 54 000 der italienischen Landwehrabteilungen zugerechnet werden, die nach dem Waffenstillstand formiert wurden – also insgesamt 182 000 Mann.
Ich glaube, daß die bloße Angabe dieser groben Ziffern einen guten Begriff von unserer militärischen Auslandsaktion und ihrer politischen Bedeutung bietet; die Menge und Qualität der Legionen zeigt, warum die alliierten Regierungen und Armeen unsere Truppen und unsere Tätigkeit anerkannten und warum sie unsere Bewegung mit Respekt und Sympathie annahmen. Und unsere Auslandsarmee behält auch ihre Wichtigkeit in der Heimat und wird sie behalten: zählen wir die Familien, die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Bande der Legionäre, so ergibt sich wenigstens eine Million Menschen, die mit den Legionen unmittelbar verbunden sind – die Legionen sind für unseren Staat eine bedeutsame und beträchtliche politische Kraft.
Die angegebenen Ziffern sind annähernd nach den bis Februar 1923 gesammelten Berichten mitgeteilt; soweit ich nach diesen Berichten die Verluste an Menschenleben, Gefallenen und Gestorbenen abschätzen kann, betragen sie 4500 Mann, für Rußland-Sibirien, Frankreich und Italien – mit diesen Opfern an Menschenleben haben wir die Anerkennung unserer Selbständigkeit bezahlt.
Ich sollte jetzt die einzelnen offiziellen Anerkennungen aufzählen, die uns insbesondere 1918 zuteil wurden; um die Darlegung zu vereinfachen, gebe ich ein chronologisches Schema, wie wir, unser Nationalrat im Auslande und die Legionen, seit Beginn des Krieges von den Alliierten anerkannt wurden. Die Übersicht, die sich am Schluß des Buches befindet, wird zugleich der Rekapitulation der bisherigen Darstellung dienen.
Dieses trockene Schema sagt nichts über die Arbeit und Mühe unser aller im Auslande, das beständige Überlegen, die Nervenanspannung und Gefühlserregung, mit denen dieser politische Erfolg erreicht wurde. Welch ein Pilgern durch die ganze Welt, wie viele Interventionen in den verschiedenen Ministerien in Paris, London, Rom, Petersburg, Washington, Tokio – wie viele Besuche der verschiedensten einflußreichen Personen, wie viele Denkschriften, wie viele Telegramme, wie viele Briefe, wie viele Hilfsinterventionen der alliierten Botschafter und unserer politischen Freunde, wie viele Interviews, wie viele Vorträge und Artikel – aber ohne unsere Auslandspropaganda, diplomatische Arbeit und das Blut der Legionen hätten wir die Selbständigkeit nicht erreicht.
Aus dieser Übersicht ragt auch die Wichtigkeit und entscheidende Bedeutung des Jahresendes 1917 und des Jahres 1918 für unsere politischen Bestrebungen und unsere militärische Teilnahme am Kriege hervor; das Jahr 1918 war eben für alle kriegführenden Nationen und die ganze Entwicklung des Krieges entscheidend. Die Erwartung derjenigen, die die Fortdauer des Krieges noch ins Jahr 1919 voraussagten, wurde nicht erfüllt; der Krieg war durch den Sommer 1918 entschieden worden, wirtschaftlich und strategisch entschieden.
Das Jahr 1918 hatte für Deutschland den Frieden von Brest-Litowsk und den Frieden mit Rumänien gebracht und damit die Verstärkung der Armee gegen die Alliierten in Frankreich; es war klar, daß die Deutschen mit dieser verstärkten Armee die Entscheidung werden herbeiführen wollen, bevor Amerika noch größere Truppenmassen als bis dahin nach Frankreich senden könne. Ich habe gehört, daß die Deutschen anfangs vermutet hatten, Amerika werde überhaupt keine Truppen senden können; sie sollen diese These durch Schiffsversuche auf ihrem Meere »bewiesen« haben; aber sie irrten darin und trachteten um so energischer, die Entscheidung im Frühjahr 1918 herbeizuführen. Ohne Zweifel merkten sie, daß in Frankreich viele hervorragende Generale mit Sehnsucht auf die amerikanischen Verstärkungen warteten, aus England vernahmen sie gleichfalls von dem wachsenden Pazifismus und der Bereitwilligkeit führender Männer, den Krieg zu beenden. (Auf Lloyd George habe ich bereits hingewiesen.) An Zahl der Truppen kamen die Deutschen den Alliierten völlig gleich. Die Offensive begann also; zur Erhöhung des Effektes wurde Paris aus weittragenden Geschützen beschossen (vom 23. März angefangen). Doch trotz unleugbarem Terraingewinn und bedeutender Anzahl von Gefangenen – von Paris waren die Deutschen nur noch 85 km entfernt, und man (nicht Poincaré!) dachte schon an die Übersiedlung der Regierung von Paris – führte die deutsche Armee die Entscheidung nicht herbei.
Die Alliierten fanden endlich die Form, in der das Kommando unter Foch vereinigt wurde; das ging nicht leicht, denn nicht nur die englischen, sondern auch die französischen Kommandanten hüteten eifersüchtig ihren Vorrang. Die alliierten Armeen wurden vereinigt, und Foch leitete im Juli die Gegenoffensive ein; nach der empfindlichen Niederlage der Deutschen bei Amiens (8. August) war ihre endgültige Niederlage besiegelt – die deutschen Truppen wichen abschnittweise, doch in Ordnung, vor den Siegern zurück. Vier Jahre vorher, am 4. August, hatten die Deutschen den Kampf in Belgien und Frankreich eröffnet – am 8. August, vier Jahre später, traten sie geschlagen den Rückzug an. Die Deutschen sagen, auch sie hätten damals ihren Masojedov gehabt – aber die kritischeren Deutschen beginnen selbst, die militärischen Fähigkeiten Ludendorffs zu bezweifeln, und geben zu, daß die deutsche Offensive von vornherein verloren gewesen sei. Die Niederlage war um so empfindlicher, als die Deutschen die Offensive sogar mit zahlenmäßiger Übermacht der Truppen eingeleitet hatten; bisher hatten die alliierten Truppen an der Westfront die Übermacht gehabt.
Der deutsche Angriffsgeist war auch durch die Erfolge der Italiener (seit Juni) und die Niederlage der Bulgaren geschwächt. Am Ende war Österreich vollständig geschlagen und seine Armee demoralisiert (24. Oktober-3. November). Auf Österreich hatte besonders die Niederlage der Bulgaren zersetzend gewirkt, am Balkan und für den Balkan hatte der Krieg angefangen, die Niederlage am Balkan beschleunigte den endgültigen Sieg der Alliierten. In Österreich und Deutschland zeigte die Zersetzung sich in den Armeen und im Innern der Staaten. Die Zentralmächte waren gezwungen, den Krieg zu liquidieren und um Waffenstillstand und Frieden zu bitten.
Österreich-Ungarn sandte, unloyal wie immer, ohne Deutschlands Einverständnis sein Friedensangebot am 14. September an die kriegführenden Mächte mit dem Ersuchen, Delegierte in einen neutralen Staat zu entsenden, die über alle Fragen zu diskutieren hätten. Auf diese Note antwortete Clémenceau im Senat am 17. September – zwischen Recht und Verbrechen sei kein Verhandeln möglich. Minister Pichon antwortete so, daß er die Rede Clémenceaus durch den schweizerischen Gesandten an Österreich-Ungarn senden ließ. Präsident Wilson lehnte das Angebot ab: die Vereinigten Staaten hätten ihre Anschauung vom Frieden klar und häufig formuliert, sie könnten daher keinen Konferenzvorschlag annehmen. Abweisender als der Inhalt ist die Form der Ablehnung – alles in allem 66 Worte; man hat mir gesagt, daß diese schneidige Kürze nicht ohne Absicht gewesen sei. Die Blätter kommentierten die Tatsache, die deutschen und österreichischen Publikationen betrachten die amerikanische Antwort als Spott.
Am 21. September kapitulierte Bulgarien und schloß am 29. mit den Alliierten den Waffenstillstand; ich habe schon gesagt, welche Wirkung die bulgarische Niederlage auf Wien und Berlin ausübte. Am selben Tag, an dem der Waffenstillstand mit Bulgarien geschlossen wurde, ersucht die deutsche Heeresleitung die Regierung, um Waffenstillstand und Frieden zu bitten.
Aber auch in den alliierten Armeen zeigt sich schon Ermüdung, vor allem freilich in der französischen. Ich habe schon das straffe Regime Clémenceaus erwähnt. In England und Amerika nimmt die pazifistische Bewegung zu – überall gibt sich die Bereitwilligkeit zum Frieden kund.
Wir waren auf die Liquidation des Krieges und die Eröffnung der Friedensverhandlungen vorbereitet. Ein Blick auf das Schema zeigt ganz deutlich unser Vorgehen: wir hatten systematisch die Anerkennung angestrebt und haben sie von allen alliierten Staaten und den Hauptfaktoren auch rechtzeitig erreicht. Wir waren in Europa, Amerika, Asien anerkannt. Auch daheim hatten die Unsrigen die Situation herausgefühlt. Wirkungsvoll war die Versammlung aller unterdrückten österreichischen Völker in Prag Mitte Mai 1918 anläßlich der Jubiläumsfeier des Nationaltheaters; auch Italiener waren anwesend. Die Analogie zum römischen Kongreß ergibt sich von selbst, ebenso das Vorbild der Mitteleuropäischen Union in Amerika. Daß Wien sich nach diesem Kongreß noch mit Repressalien rächte, bewies nur seine Schwäche.
Ich habe schon der bedeutsamen Versammlung der Slowaken in Lipt. Sv. Mikuláš (1.Mai) gedacht. Der Tschechoslowakische Nationalausschuß, der am 13. Juli konstituiert wurde, verstand die Zeichen der Zeit und stellte sich konsequent auf den Boden des Programms unserer Selbständigkeit. Wir beachteten auch die Augustversammlung in Laibach, auf der beschlossen wurde, alle Slawen zu gemeinsamer Arbeit für die Selbständigkeit zu verbinden.
Die Konstituierung des neuen Nationalausschusses am 13. Juli war bereits an und für sich ein Programm eben dadurch, daß er nach dem früheren nationalen Ausschuß, gegen den heftiger Widerstand herrschte, gegründet wurde; das Programm war, wenn auch juristisch wenig bestimmt, befriedigend.
Ich verstand nicht recht, warum sich neben dem Nationalausschuß Anfang September der Sozialistische Rat konstituierte. Wir nützten die Kundgebungen der Abgeordneten vom 29. September gut aus, namentlich die Parlamentsrede des Vorsitzenden des tschechischen Verbandes vom 2. und die Erklärung des Nationalausschusses vom 19. Oktober, durch die unsere Auslandsaktion zum erstenmal daheim ganz ausdrücklich und öffentlich anerkannt wurde.
Ich überzeugte mich immer wieder, daß es in der Heimat keine offenkundige austrophile Politik mehr geben werde, sie war bereits absolut überflüssig; es handelte sich nach der ganzen Situation eher um die formale als die sachliche Liquidierung Österreich-Ungarns, denn nicht allein die Magyaren, sondern auch schon die Deutschen stellten sich gegen die Dynastie. Wir konnten allerdings erwarten, daß Wien im letzten Augenblick – Versprechungen machen werde; nach sicheren Informationen wurde in Wien darüber verhandelt, in irgendeiner Form die nationale Autonomie zu proklamieren.
Um daher Wien zuvorzukommen, proklamierten wir den Nationalrat als Vorläufige Regierung; wir hatten darüber mit Dr. Beneš mehrmals verhandelt, um eben vorbereitet zu sein, wenn die Zeit kommen werde. Jetzt war sie gekommen; Dr. Beneš gab mir am 13. September Nachricht über die Lage in Paris und schlug darauf diese Umbildung des Nationalrates vor; am 26. September erhielt er meine volle Zustimmung. Nach vorangegangenen Verhandlungen mit den Regierungen, die die Anerkennung zum Zweck hatten, teilte ihnen Dr. Beneš am 14. Oktober die Errichtung unserer Vorläufigen Regierung mit dem Sitze in Paris offiziell mit. Ich wurde Präsident der Vorläufigen Regierung und des Ministerrates und auch Finanzminister, Dr. Beneš Minister des Innern und der auswärtigen Angelegenheiten, Štefánik Kriegsminister. Zugleich wurde die Bestellung folgender Gesandten mitgeteilt: Dr. Osuský in London, Dr. Sychrava in Paris, Dr. Borský in Rom, Pergler in Washington, Bohdan Pavlů in Rußland.
Der Minister des Äußern Pichon erkannte die Vorläufige Regierung sofort am 15. Oktober an; der französischen Anerkennung folgte die der alliierten Staaten; wir waren also de facto und de jure unabhängig, frei! Das Manifest Karls kam post festum.
Es kam auch in anderer Hinsicht zu spät. Wien versuchte unaufhörlich über die neutralen Länder auf die austrophilen Kreise in den alliierten Staaten, in der Schweiz, Holland und Schweden einzuwirken. Auch in Frankreich gab es Politiker, die die entschlossene Abkehr von Deutschland noch im letzten Augenblick hätten honorieren wollen, aber Österreich fürchtete andererseits trotz seinen Versprechungen Deutschland und auch seine eigene deutsche Bevölkerung und zauderte. Auf diese Weise kam Karls Manifest zu spät, kam Lammasch mit seiner Regierung zu spät, kam auch Andrássy mit seiner Anerkennung von Wilsons neuem österreichischen Programm zu spät. Darüber will ich jetzt noch berichten.
Die deutschen und österreichischen militärischen und politischen Schriftsteller stimmen in der Meinung überein, daß die Antwort des Präsidenten Wilson vom 18. Oktober auf das Friedensangebot Österreichs dessen Schicksal besiegelte und für unsere Freiheit die Hauptentscheidung brachte. Wilson war persönlich und als Repräsentant der Vereinigten Staaten zur großen moralischen und politischen Macht in Europa geworden: Amerika war ohne territoriale Aspirationen in den Krieg gezogen, und seine Stimme hatte deshalb so großes Gewicht; die amerikanische Armee war ein entscheidender Bestandteil des alliierten Heeres geworden.
Dieses Ende Österreich-Ungarns will ich jetzt eingehender schildern.
Am 5. Oktober wandte sich Deutschland mit dem Vorschlag eines Waffenstillstandes an Wilson; ich habe schon gesagt, daß die deutsche Heeresleitung am 29. September selbst der Regierung vorgeschlagen hatte, an die Alliierten das Angebot des Waffenstillstandes und Friedens zu richten. Die deutschen Heerführer hatten die Lage erfaßt und handelten entschlossen, um der Kapitulation ihrer Truppen und der Waffenstreckung zuvorzukommen. Österreich und die Türkei schlossen sich Deutschland an und sandten am selben Tage ein gleichlautendes Ersuchen ab. Deutschland erhielt die erste Antwort am 8. Oktober mit der Anfrage nach dem wahren Sinn des Angebotes; am 14. Oktober empfing es die ablehnende, endgültige Antwort. Präsident Wilson antwortete Österreich-Ungarn erst am 18. Oktober.
Österreich hatte in seinem Angebot ausdrücklich Wilsons Programm der vierzehn Punkte und seine anderen Erklärungen, insbesondere die Reden vom 12. Februar und 27. September 1918, angenommen.
In der ersten dieser Reden berichtet Wilson dem Kongreß über die Kritik, die Hertling und Czernin an seinen vierzehn Punkten und den Ausführungen Lloyd Georges geübt hatten; Wilson reduziert sein Programm auf vier Prinzipien. In der Rede vom 27. September setzt er fünf Prinzipien fest, ebenso viele für die Organisation des Völkerbundes.
Man glaubte in Wien, durch Unterwürfigkeit Wilson zu gewinnen – die Ablehnung des Friedensangebotes vom vorigen Monat hatte man nicht verstanden.
In Wien und in den austrophilen Kreisen herrschte um so größere Erregung, als Amerika so lange nicht antwortete; man hatte in Washington sogar auf Umwegen sondiert; als endlich die Antwort eintraf, kam sie unerwartet.
Zur selben Zeit hatte ich erfahren, daß Kaiser Karl ein Manifest vorbereite, worin er die Umbildung Österreichs – nicht Ungarns – in einen Bundesstaat verheiße. Es war der letzte Rettungsversuch eines Ertrinkenden; doch bedeutete er eine Gefahr, und es war nötig, der Wirkung zuvorzukommen, die das Manifest auf jene Kreise ausüben konnte, die noch für Österreich viel Sympathien übrig hatten. Deshalb benutzte ich diesen Augenblick zur Herausgabe der Unabhängigkeitserklärung, an die ich schon längere Zeit gedacht. Logisch war diese Deklaration eine Folge der Konstituierung unserer Vorläufigen Regierung, die am 14. Oktober den Alliierten mitgeteilt worden war; die Form wurde so gewählt, um die Amerikaner an ihre eigene schöne Deklaration zu erinnern; schließlich war ihr Wert ein taktischer; als Karls Manifest veröffentlicht wurde, wehten schon von dem Hause, in dem ich als Vorsitzender unserer Vorläufigen Regierung wohnte, die Fahnen des freien Tschechoslowakischen Staates, der sich soeben zum souveränen Herrn seines Schicksals proklamiert hatte ...
In der Deklaration lehnte ich Karls späten Versuch einer österreichischen Scheinföderation ab und skizzierte die Grundprinzipien, auf die die Vorläufige Regierung ihren neuen Staat baute. Den ersten Entwurf gab ich einer Reihe meiner Freunde (unter ihnen Brandeys und Redakteur Benett) zu lesen; ihre sachliche und formale Kritik berücksichtigte ein kleines Komitee, das die letzte formale und juridische Revision durchführte (dabei befand sich der ausgezeichnete Fachmann und Jurist Mr. Calffee); es war ein hübsches Beispiel harmonischer Zusammenarbeit und zugleich der erste Staatsakt großen Stils, der unter meiner Leitung ausgeführt wurde.
Die Deklaration übergab ich dem Staatssekretär Lansing, um mir voraus die Zustimmung der amerikanischen Regierung zu sichern und auch, um noch im letzten Augenblick vor der Antwort Österreich-Ungarns dem Präsidenten Wilson unseren Standpunkt ins Gedächtnis zu rufen. Der Erfolg blieb nicht aus; er war nicht nur in der Öffentlichkeit und in der Presse groß, sondern auch in den Regierungskreisen und namentlich im Weißen Hause. Wilson sagt in einem Briefe an mich, die Unabhängigkeitserklärung habe ihn tief bewegt, wie wir aus seiner Antwort an Österreich-Ungarn sehen werden. Und diese Antwort, die am 19. Oktober veröffentlicht wurde, ist in Übereinstimmung mit unserer Deklaration vom selben Tage datiert.
In seiner Antwort an Österreich-Ungarn betont Wilson, daß die Vereinigten Staaten ihre Anschauung von Österreich-Ungarn und seinem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten geändert haben, wie insbesondere aus der Anerkennung des tschechoslowakischen Nationalrates als de facto-Regierung der tschechoslowakischen Nation hervorgehe. Ebenso erkennen die Vereinigten Staaten die südslawischen nationalen Bestrebungen an. Der Präsident vermöge sich deshalb mit der bloßen Autonomie dieser Nationen als Friedensgrundlage, wie er sie noch in seinen vierzehn Punkten im Monat Januar angesehen habe, nicht zu begnügen. Nicht er, sondern diese Nationen selbst seien die Richter der Handlungen, durch die die österreichisch-ungarische Regierung ihren Wünschen und ihrer Auffassung von den eigenen Rechten und Schicksalen gerecht werden solle.
In der diplomatischen Literatur gibt es wenige Beispiele für eine so männliche und ehrenhafte Widerrufung der eigenen älteren Ansicht; gerade dadurch war sie so wirkungsvoll. Überhaupt verbarg Präsident Wilson nicht, daß und wie er im Laufe des Krieges seine Anschauungen wandelte; z. B. teilte Oberst House im Januar 1917 Bernstorff mit, der Präsident stimme mit den von der Entente formulierten Friedensbedingungen nicht überein, er betrachte sie als unmöglich, doch bereits am 6. April entschloß Wilson sich zur Kriegserklärung an Deutschland und wurde schon dadurch zur Revision seines europäischen Programms gebracht.
In verschiedenen Publikationen wird bei Beurteilung der Antwort Wilsons die Frage erörtert, wie es kam, daß der Präsident in so kurzer Zeit seine ausgesprochene Austrophilie aufgegeben hat. Schon in Amerika zirkulierten allerlei Legenden über meine Beziehung zu ihm; ich will also in aller Kürze die Hauptsache sagen:
Präsident Wilson wurde zu Beginn des Krieges über unsere Auslandsbewegung durch seine Minister, die Herr Voska informierte, eingehend unterrichtet. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde ihm Herr Voska auch persönlich vorgestellt. Das erste ausführliche Programm unserer Aktion erhielt Wilson in dem für Minister Grey schon im Jahre 1915 verfaßten Memorandum. Auch General Štefánik informierte bei seinem Aufenthalt in Amerika im Jahre 1917 die amerikanischen Regierungskreise und Wilson. Ferner hörte Wilson von unseren Bestrebungen, von mir und unserer Arbeit durch Mr. Charles Crane u. a. Ich sandte dem Präsidenten selbst (Ende Januar 1918) aus Kiew eine ausführliche telegraphische Analyse seiner vierzehn Punkte, wesentlich in dem Sinne, wie ich dieses Programm im »Neuen Europa« beurteilt habe. Ferner erhielt der Präsident mein Memorandum aus Tokio (im April), worin ich meine Anschauungen über Rußland und das Verhältnis zu den Bolschewiken zusammengefaßt hatte.
In Washington angekommen, stand ich sehr bald in ständigem Verkehr mit Wilsons Ministern und den Sekretären der Minister, die in den uns direkt oder indirekt betreffenden Fragen zu entscheiden hatten. Außer Mr. Lansing waren es hauptsächlich die schon genannten Herren Baker, W. Philips, Polk, B. Long, F. K. Lane, Houston. Mr. Richard Crane war Lansings Sekretär, und mit ihm war ich, wie mit seinem Vater, in ständiger Beziehung.
In diesem Zusammenhang muß ich der Hilfe des französischen Botschafters M. Jusserand gedenken, den ich schon erwähnt habe; er unterstützte uns überall, auch beim Präsidenten, in jeder möglichen Weise. Und ich muß den einflußreichen Berater und Vertrauensmann Wilsons, Obersten House, erwähnen, mit dem ich sehr eingehend alle Fragen des Krieges und des erwarteten Friedens erörtert habe.
Neben dem beständigen persönlichen Verkehr überreichte ich, wie ich weiter erwähnen möchte, nach Bedarf den einzelnen Ministern und insbesondere Mr. Lansing ausführliche Memoranden oder kürzere Noten, in denen ich die wichtigsten Streitfragen auseinandersetzte und von meinem Standpunkt aus beleuchtete. Schließlich muß hier auch bemerkt werden, daß die sibirische Anabasis Wilsons Aufmerksamkeit und Sympathie gewann.
Meine Beziehungen zum Präsidenten Wilson waren rein sachlich, ich verließ mich, wie in der gesamten Aktion, auf unsere gerechte Sache und auf die Gewichtigkeit meiner Argumente. Ich glaubte daran, wie ich es bisher glaube, daß anständige, gebildete Menschen sich durch Argumente belehren und überzeugen lassen. Gegenüber dem Präsidenten Wilson vertraute ich in den mündlichen Diskussionen, in meinen Memoranden und Noten einzig auf die Argumente und die Kraft der sorgsam festgestellten Tatsachen. Dabei knüpfte ich an seine Kundgebungen und Schriften an. Ich kannte schon vor dem Kriege seine Schriften über den Staat und über die Entwicklung des amerikanischen Kongresses; ich las aufmerksam seine Reden und konnte zur Verstärkung meiner Argumente Stellen aus ihnen anführen.
Auf diese Weise erreichte ich, daß Präsident Wilson und Außenminister Lansing unser Programm Schritt für Schritt annahmen. Das war nicht nur mein persönlicher Einfluß; unsere Sache gewann durch die Propaganda und Arbeit unserer Leute die Sympathie der politischen Öffentlichkeit, und Österreich-Ungarn verlor sie. Der Wandel der Situation wird durch die Tatsache gekennzeichnet, daß der Chef der Abteilung für den nahen Osten im Auswärtigen Amt, der in Amerika bekannte Rechtsschriftsteller Mr. Putney, in den Memoranden, die er schon zur Zeit meiner Ankunft in Amerika für Mr. Lansing verfaßte, unsere Auffassung des österreichischen Problems verfocht. Mr. Putney kannte unsere antiösterreichische Literatur und stand mit Sekretär Pergler in Fühlung.
Die Entwicklung von der Austrophilie weg wird durch die Anerkennung bezeugt, die uns von den Vereinigten Staaten allmählich zuteil wurde.
Die erste Kundgebung Lansings vom 29. Mai hatte nur die Entschließung des römischen Kongresses der unterdrückten Völker Österreich-Ungarns akzeptiert. Lansing versichert uns und die Südslawen der Sympathien der Vereinigten Staaten. Dieser Erklärung ging die Rede des amerikanischen Botschafters Ph. Page voraus, der bei der Übergabe einer Fahne an die italienischen Legionen in Rom eine warme Rede für uns hielt. In uns günstigem Sinne arbeitete auch der unlängst verstorbene Botschafter Sharp in Paris.
Ich verhandelte mit dem Staatssekretär Lansing über seine Erklärung. Das Ergebnis meiner Kritik und meiner Unterredungen mit den übrigen Mitgliedern der Regierung war die am 28. Juni gegebene Erläuterung Lansings zu der Mai-Erklärung; in ihr betont Lansing, daß die Sympathiekundgebung für uns und die Südslawen die völlige Befreiung aller Slawen von der österreichischen und deutschen Vorherrschaft bedeutet. Das war ein großer Schritt vorwärts, eigentlich der erste große Erfolg in Amerika, dessen offizielle Kreise bei allen Sympathien, die zu gewinnen uns gelang, durch unser Problem in beträchtliche Verlegenheit versetzt worden waren, da unsere Situation vom internationalen Standpunkt kein Präzedens hatte.
Ich erinnere daran, daß auch der serbische Gesandte dem Staatssekretär Lansing ein Memorandum über die Erklärung vom 29. Mai eingereicht hat.
Eine weitere, noch klarere und schließliche Anerkennung wurde uns am 3. September zuteil. Ich verabredete sie mit Lansing: Nach Vereinbarung (31. August) übergab ich ihm ein ausführlicheres Memorandum, worin die Notwendigkeit einer solchen Anerkennung durch die alliierten Staaten begründet wird. In dieser Zeit wurde bereits über unsere Armee in Sibirien und die Hilfe für sie verhandelt, und in diesem Sinne verfaßte Mr. Lansing seine Erklärung; Vorbild war ihm die Anerkennung Balfours. Sie enthält die Anerkennung des Kriegszustandes zwischen uns und dem deutschen und dem österreichischen Kaiserreich; der Nationalrat wird als de facto-Regierung erklärt, die regelrechten Krieg führe und die Vollmacht habe, die politischen und Armeeangelegenheiten der tschechoslowakischen Nation zu leiten. Staatssekretär Lansing war so liebenswürdig, mir die Erklärung zu zeigen, bevor er sie veröffentlichte. Ich sprach ihm meinen Dank und meine Anerkennung aus, sowie ich dem Präsidenten Wilson für diesen Akt politischen Edelmutes, der Gerechtigkeit und der politischen Weisheit schriftlich dankte. Die Antwort Wilsons bestätigte mir, daß sich die Ansichten des Weißen Hauses über Österreich-Ungarn stark verändert und gebessert hatten.
Die vierte und entscheidende Anerkennung war die vom 18. Oktober. Die Ereignisse, die sich darauf und nach unserer Unabhängigkeitserklärung in Österreich und Ungarn abspielten, bestätigten dem Präsidenten Wilson und den amerikanischen Staatsmännern meine Anschauung von den Zuständen in Österreich und meine Beurteilung des inneren Zusammenbruches Österreichs und Ungarns. Auf den Präsidenten und die Regierung tat es seine Wirkung, daß meine Analyse Österreich-Ungarns, des ganzen Krieges und seines Verlaufes richtig gewesen war. Ich selbst war mehr als erfreut davon, wie die Ereignisse zusammentrafen und mir recht gaben. Das Vertrauen der amerikanischen Staatsmänner befestigte sich dadurch nicht nur zu meiner Person, sondern auch zu unserer Sache und bildete eine wertvolle Grundlage für die bevorstehenden Friedensverhandlungen.
Soll ich noch etwas über meinen persönlichen Verkehr mit dem Präsidenten Wilson sagen, so will ich folgendes mitteilen:
In erster Linie verhandelten wir allerdings über Österreich und die Habsburger. Die Enthüllung Clémenceaus bot dazu willkommenen Anlaß. Ich wies auf das unschöne Handeln des Kaisers gegen seine Verbündeten hin. Deutschland hatte kurz nach dem Kriegsbeginn Österreich wenigstens auf eine Zeit vor den Russen gerettet; Deutschland und seine Hilfe drängten die Russen auch später nach dem Osten zurück und befreiten die ganze Zone der Randstaaten von Finnland bis in die Ukraina. Deutschland mußte Österreich, wenn auch ungern, ebenfalls gegen Italien helfen. Die Habsburger fielen aber den Deutschen in den Rücken. Der Präsident war gegen die Vorherrschaft Preußen-Deutschlands und gegen dessen Bevormundung Österreichs, aber er erkannte die Ehrlosigkeit der Habsburger. In der Beurteilung des preußischen Zarismus, wie ich es nannte, waren wir völlig einig; in seiner Antwort vom 23. Oktober auf die deutsche Note vom 20. Oktober betonte der Präsident diese Anschauung sehr wirksam. Bei dieser Gelegenheit kam die Rede auf den älteren Plan der europäischen Alliierten, Österreich von Deutschland zu trennen, doch auch dieser Plan war eigentlich aus der Voraussetzung entstanden, daß Österreich gegen Deutschland nicht loyal bleiben werde. Die Beleuchtung der Habsburger von dieser Seite hatte auf Wilson, wie auch auf andere Staatsmänner, einen bedeutenden Einfluß.
Ferner machte ich den Präsidenten auf Österreichs Schuld an der Provozierung des Krieges aufmerksam; er erkannte an, daß Deutschland es nicht zum Kriege gezwungen habe.
Als die Friedensangebote begannen und man über den Waffenstillstand verhandeln sollte, trug ich dem Präsidenten meine Überzeugung vor, daß der Krieg noch weitergeführt werden und daß die Alliierten die deutsche Armee zur Waffenstreckung zwingen und gegebenenfalls in Berlin einziehen sollen; daß dadurch nicht mehr Menschen fallen würden, als eventuell bei den künftigen, durch einen unbestimmten Frieden verschuldeten Verhältnissen. Ich gab dem Präsidenten zu, daß der Krieg auch strategisch gewonnen sei – das beweise doch der Entschluß der deutschen Heeresleitung, um Frieden zu ersuchen. Da ich aber die Überzeugung der breitesten Schichten des deutschen Volkes von der Unüberwindlichkeit der deutsch-preußischen Armee und ihrer Heerführer kannte, fürchtete ich, daß die Massen des deutschen Volkes die strategische Niederlage Deutschlands und Österreichs nicht glauben werden. Ich erinnerte den Präsidenten an die Mission seines Freundes House in Europa, wo er mit den alliierten Heerführern die Frage diskutieren sollte, wie ein dauernder Friede zu erreichen sei, keineswegs ein Friede auf ein paar Minuten, wie der Präsident es selbst schon ein Jahr vorher den Arbeitern in Buffalo richtig gesagt hatte. Auch erinnerte ich ihn daran, wie er vor dem Kongreß die Kriegserklärung an Österreich-Ungarn begründet, obgleich er damals noch nicht an die Vernichtung Österreich-Ungarns gedacht hatte. Er forderte die militärische Vernichtung Preußens, doch das konnte man nach meiner Meinung am wirksamsten erreichen, wenn Marschall Foch die alliierte Armee über den Rhein führte. Der Präsident war vielleicht ein größerer Pazifist als ich; und gewiß kannte er auch die Stimmung des amerikanischen Volkes und mußte auf sie Bedacht nehmen. Ich sah im November in New York die spontane Feier des Waffenstillstandes, die auf eine vorzeitige Nachricht stattfand – ich begriff den Standpunkt des Präsidenten. Die Anschauung des Präsidenten vertrat dann in Paris, vor Wilsons Ankunft, Oberst House gegen Foch, der (es war während der Waffenstillstandsverhandlungen Anfang November) auf den Vormarsch der alliierten Heere wenigstens bis zum Rhein drängte. Ich halte meine Ansicht noch jetzt, gerade nach den Friedenserfahrungen, für richtig. Ich will nur noch daran erinnern, daß gegen Fochs Plan nicht nur Präsident Wilson und Oberst House waren, sondern auch Clémenceau; wenn ich nicht irre, waren die amerikanischen Militärs für den Vormarsch über den Rhein, ebenso die englischen und Lloyd George.
Von Einzelfragen führe ich an, daß Präsident Wilson das Danziger Problem etwa so lösen wollte, wie es gelöst wurde, er wünschte nicht den Anschluß an Polen. Ich wendete ein, daß das Kondominium in welcher Form immer den Deutschen und den Polen mehr Grund zu fortwährenden Streitigkeiten geben werde, als der endgültige Anschluß, und die deutsche Unzufriedenheit mit dem Korridor zwischen dem deutschen Gebiet und dem Enklave lebendig halten werde. Der Präsident war den Polen geneigt und auch den Jugoslawen; aber ich hatte aus mehreren Bemerkungen den Eindruck, daß er den Londoner Pakt nicht akzeptiere. Daß er ihn damals überhaupt nicht gekannt habe, hörte ich später aus Paris, als der italienisch-jugoslawische Konflikt entstand; demgegenüber wurde auch von amerikanischer Seite behauptet, der Präsident habe die Sache vergessen. Mit Mr. Lansing erinnere ich mich wohl, über den Pakt gesprochen zu haben, er kannte ihn. Wenn dieser verheimlichte Pakt, der doch von den Bolschewiken in die Welt trompetet und auch in amerikanischen Blättern veröffentlicht wurde, im offiziellsten Amerika so geringe Aufmerksamkeit erweckte, so ist das nur ein interessanter und lehrreicher Beweis, wie wenig sich die Amerikaner mit den europäischen Dingen befassen.
Auf die Streitfragen zwischen den Jugoslawen und den Italienern wurden der Präsident und das State Departement noch während meiner Anwesenheit durch jugoslawische Proteste aufmerksam gemacht.
Als in den Regierungskreisen und in der Publizistik die Erörterung der Frage begann, ob Präsident Wilson selbst zu den Friedensverhandlungen nach Europa reisen werde, trug ich ihm meine Ansicht vor, daß er nach Europa nicht reisen solle; daß er dort wenigstens nicht über die Eröffnung der Konferenz hinaus bleiben solle. Da ich Wilsons Charakter kannte, seine Begeisterung für den Völkerbund als Hauptpunkt der Friedensverhandlungen und die Persönlichkeiten der übrigen europäischen Friedensschöpfer, fürchtete ich, daß beide Seiten voneinander enttäuscht sein werden. Nach so langem Krieg und der schrecklichen Anspannung der Sinne und der Nerven aller, die auf der Friedenskonferenz verhandelten, konnte es leicht geschehen, daß eine solche Enttäuschung durch die Erkenntnis der persönlichen Schwächen der einzelnen Politiker und Staatsmänner verschärft werde. Ich nahm an, daß Präsident Wilson seine große Autorität, die er sich Schritt für Schritt in Europa gewonnen hatte, leicht schädigen und sogar auch einbüßen könne. Der Präsident aber, der sich der großen Bedeutung der Friedenskonferenz bewußt war, wollte dort seine und die amerikanischen Ideale selbst verfechten. Er war überzeugt, daß Amerika die Sendung habe, die ganze Menschheit zur Einigkeit zu führen, und daß ihm das gelingen werde.
Wir sprachen auch davon, warum Präsident Wilson, als er den Krieg erklärt hatte, zum Unterschied von den europäischen Staaten nicht eine Koalitionsregierung gebildet, sondern sich mit Ministern aus der demokratischen Partei begnügt habe. Insbesondere warf ich die Frage auf, ob es nicht zweckmäßig sei, nach Paris zu den Friedensverhandlungen auch Politiker aus der republikanischen Partei mitzunehmen. Präsident Wilson meinte, in Paris würden zwischen den gegnerischen Parteien Uneinigkeiten entstehen; aber er gab mir auch zu, daß er zu Koalitionskompromissen keine angeborene Anlage habe. »Ich sage Ihnen offen,« – etwa so formulierte er es – »ich stamme von schottischen Presbyterianern ab und bin darum etwas eigensinnig« (stubborn). Ich hatte dazu meine eigene und eine andere Erklärung; der Krieg hatte, wie überall, auch in Amerika zu einer Art Diktatur, zur entscheidenden Macht einzelner Staatsmänner geführt; gerade allerdings unter Wilson war gleichzeitig die Fühlung zwischen Präsidenten und Kongreß intimer geworden. Ich beobachtete diese Entwicklung eben deshalb aufmerksamer, weil ich Wilsons Ansicht über die Zentralisation des Kongresses kannte, deren Entwicklung nach meiner Meinung gerade die verfassungsmäßige Stellung des amerikanischen Präsidenten – die amerikanische Verfassung bestimmt die Stellung des Präsidenten allzusehr nach dem Vorbild des englischen Monarchismus – stark unterstützte. Auch schien mir nicht, daß Wilson Parteilichkeit in der Auswahl der militärischen und Marinekommandanten bewies, im Gegenteil, er wählte viele Republikaner und zeigte dadurch eine bedeutende Sachlichkeit. Aber ich gebe zu, daß der Präsident in gewissem Grade empfindlich war und Kritik nicht liebte.
Zum persönlichen Verhandeln mit dem Präsidenten Wilson kam ich verhältnismäßig spät. In Washington traf ich am 9. Mai ein, mit dem Präsidenten Wilson sprach ich zum erstenmal am 19. Juni auf eine Einladung hin, die mir Mr. Charles Crane überbrachte. Nach meiner Taktik, der ich in meiner ganzen Propagandaarbeit im Auslande folgte, trachtete ich auf die Staatsmänner durch publizistische Diskussionen, Artikel, Interviews usw. zu wirken. Und bevor ich mit dem Präsidenten sprach, sprach ich mit Persönlichkeiten, mit denen er verkehrte und die auf ihn einen gewissen Einfluß ausübten. Die Diskussion mit derart sachlich vorbereiteten Menschen ist natürlich fruchtbarer als eine bloß persönliche und momentane Propaganda und kann auch kürzer sein.
Die Bedeutung der Entscheidung Wilsons gegen Österreich hat unser Volk gut und spontan gewertet; die Gebäude, Straßen, Plätze und Institutionen, die nach ihm überall in unserem Lande benannt wurden, sind der sichtbare Beweis unserer Dankbarkeit. Es fiele mir nicht schwer, eine Charakteristik Wilsons als Menschen und als Staatsmannes zu versuchen. Ich hörte viel über ihn und von ihm ziemlich nahen Menschen; ich las seine Reden sehr aufmerksam und versenkte mich in seine Denkart und seine Gedanken. Ich verfolgte, wie er anfangs in den alliierten Ländern warm aufgenommen wurde und wie diese Länder später kühl wurden; auch die Deutschen akzeptierten ihn, wendeten sich aber später gegen ihn. Ich erblickte in Wilson von Anfang an einen gewissenhaften, aufrichtigen Interpreten von Lincolns Demokratie und der amerikanischen politischen und kulturellen Ideale überhaupt. Ich habe schon gesagt, wie er die Schicksalsrolle Amerikas auffaßte; er hätte dieses Ideal praktischer formuliert, wenn er Europa und seine Schwierigkeiten besser gekannt hätte. Er unterschied konsequent Zwischen den "Alliierten" und Amerika, das er nur »assoziiert« nannte. Der kontinentale Charakter verleitete ihn in der europäischen Politik zu allzu großer Abstraktheit. Auch seine große Losung der Selbstbestimmung der Nationen war nicht genug durchgearbeitet, um in Europa ein zuverlässiges Leitmotiv zu sein. Ebenso blieb seine Liga der Nationen nicht ganz ohne seine Schuld unverstanden; sie ist eine großartige und richtige Konzeption, vor allem darin, daß die Liga ein wesentlicher Bestandteil der Friedensabmachungen sein soll. Im Ganzen habe ich den Eindruck, daß Wilson für einen Amerikaner mehr Theoretiker als Praktiker, ein mehr deduktiver als induktiver Denker ist. In diesem Zusammenhang interessierte mich die Nachricht, daß er mit seinen Ministern lieber korrespondierte (er tippte selbst für sie seine Entscheidungen und Ratschläge); ein offenbar etwas einsiedlerischer Mensch – ich sehe keinen Fehler darin, es verbürgt im Gegenteil ein ruhiges und sachliches Beurteilen der politischen Dinge. Das bewies er, glaube ich, in seiner Haltung gegen Deutschland und in seinem Entschluß, den Krieg zu erklären; er hatte sich nicht durch Einzelheiten aufregen lassen, vergaß sie aber nicht und, als sich ihrer genug angehäuft hatten, erklärte er sehr entschlossen den Krieg. Das amerikanische Volk ging mit ihm. Den Krieg führte er ebenso entschlossen; gerade darum wandten sich die Deutschen so gegen ihn. Ludendorff begriff wohl den Ernst der Antworten Wilsons auf die deutschen Waffenstillstands- und Friedensangebote. Den Vorwurf, daß er den Krieg schon früher habe erklären sollen (den ihm u. a. auch Roosevelt machte), halte ich für unberechtigt.
Wilson war und ist einer der größten Vorkämpfer der modernen Demokratie. Schon in seiner ersten politischen Kampagne um den Gouverneursposten in New Jersey verkündigte er Glauben und Vertrauen zum Volke als Grundlage der Demokratie gegen Monarchismus und Aristokratie: die Nationen erneuern sich von unten, nicht von oben her, Monarchie und Aristokratie führen überall und immer zum Verfall. Diese Erkenntnis wurde durch den Weltkrieg geradezu grandios bestätigt – drei große Monarchien sind samt ihrem Aristokratismus im Zusammenstoß mit demokratischen Nationen gestürzt.
Meine Darlegung der Meinungsänderung des Präsidenten Wilson über Österreich-Ungarn wäre unvollständig, würde ich nicht noch auf eine andere Quelle hindeuten, aus der Wilson seine Belehrung schöpfte. Das war der schon erwähnte Professor Herron.
Über Professor Herron kann der Leser sich in seinen Schriften unterrichten. Herron ist einer jener amerikanischen Idealisten, denen die Demokratie ein lebendiges, nicht so sehr politisches, sondern auch moralisches Programm ist. Soviel ich weiß, hat Professor Herron den Präsidenten Wilson in Amerika persönlich noch nicht gekannt (wenigstens mit ihm nicht viel verkehrt), erst die Schriften Herrons brachten die beiden Männer einander näher, denn Wilson erkannte die Darstellung des amerikanischen Professors als richtig und zutreffend an. Professor Herron weilte schon vor dem Kriege in Europa und zog sich während des Krieges in die Schweiz zurück, wo er besonders seit Herbst 1917 und das ganze Jahr 1918 hindurch als inoffizieller Vertrauensmann Wilsons mit zahlreichen österreichischen und deutschen Politikern Verhandlungen führte.
Ich lernte die Schriften Professor Herrons gleich in der Schweiz kennen und folgte seiner weiteren literarischen und publizistischen Arbeit; ich verfolgte die amerikanische politische Publizistik und befaßte mich speziell mit Wilson, und so konnte ich Professor Herron nicht außer acht lassen, von dem ich übrigens schon vor dem Kriege Einiges gewußt habe. Und wieder brachte mich ein merkwürdiger Zufall in direkte Beziehung zu Professor Herron – durch Osuský.
Osuský empfand es nach Ausbruch des Krieges als Pflicht, etwas zu unternehmen; er wollte also nach Europa gelangen, da Amerika im Juni 1916, als er sich dazu entschlossen hatte, neutral war. Und da infolge des Unterseebootkrieges gewöhnliche Schiffe nicht mehr fuhren, wählte er ein Frachtschiff mit Kriegsmaterial, um so zu mir nach London zu kommen. Ich nahm an, daß der junge Slowak unserer Sache durch Propagandatätigkeit nützen könne, und verabredete mit ihm, daß er zu Dr. Beneš gehe und sich die französische Sprache aneigne. So wurde er unser Mitarbeiter. Die Slowakische Liga in Amerika hatte ihm zwar Instruktionen mitgegeben, doch da diese auf Entfernung und in Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse gegeben waren, konnten sie nicht verbindlich sein. Im Jahre 1917 dachte Osuský eine Zeitlang daran, in die Armee einzutreten.
Im Juli 1917 machte Osuský einen Abstecher in die Schweiz. Er war der Meinung, die Propaganda gegen Österreich lasse sich von dort besser bewerkstelligen als von Paris aus, denn in die Schweiz kam die Post aus Österreich und Ungarn rascher und regelmäßiger. Als im Oktober 1917 die Nachricht nach Paris gelangte, daß zu dem für November vorbereiteten Friedenskongreß in Bern Károlyi und Jászi kommen, begab sich Osuský endgültig in die Schweiz. Als amerikanischer Staatsbürger trat er mit der Gesandtschaft der Vereinigten Staaten in Fühlung; als er hörte, daß zu Professor Herron zahlreiche Unterhändler Zu kommen pflegen, stellte er sich ihm vor, und das gemeinsame Interesse führte sie bald zu gemeinsamer Arbeit. Osuský beherrschte nicht nur das Deutsche, sondern auch das Magyarische und wurde dadurch nicht nur für Professor Herron, sondern auch für die amerikanische Gesandtschaft unentbehrlich; der Gesandtschaft und zugleich einigen Blättern erwies er damit einen Dienst, daß er einen magyarischen Übersetzer und Korrespondenten der Fälschung von Nachrichten aus Ungarn überführte. Vorher war Osuský Seton-Watson dabei behilflich gewesen, Fälschungen des magyarischen Korrespondenten der »Morning Post« zu enthüllen. Sehr bald lieferte er der amerikanischen Gesandtschaft und Professor Herron verschiedene Berichte, die dem Staatsdepartement in Washington, einige direkt dem Präsidenten Wilson gesendet wurden. Dank seiner Kenntnis der magyarischen Angelegenheiten und Persönlichkeiten verstand er es, Unrichtigkeiten zu beleuchten, deren sich damals Károlyi und Jászi schuldig machten (selbst die anständigsten Magyaren ließen sich in ihrer Kriegserregung – im Vertrauen auf die Unkenntnis der Franzosen und Engländer – in magyarischen Dingen Doppelspiel, verschiedenste Ungenauigkeiten und mitunter auch Fälschungen zuschulden kommen), so daß sogar magyarophile Blätter, die die Magyaren für die Entente gewinnen wollten, ihre Unaufrichtigkeit erkannten und verurteilten.
Ich erwarte, daß Osuský über seine Tätigkeit und seine Beziehungen einen ausführlichen Bericht veröffentlichen wird; natürlich wurde ich von ihm auf dem Laufenden gehalten und kann daher Einiges erzählen, was zur Sache gehört. Über die politischen Beziehungen Professor Herrons in der Schweiz vernahm ich allerhand auch von anderer Seite; man sprach über sie in politischen Kreisen, und Professor Herron machte aus ihnen selbst kein Geheimnis.
Mich interessierten allerdings hauptsächlich einige österreichische, magyarische und deutsche Besucher der Schweiz und Professor Herrons. Da waren Professor Lammasch (über seine Verhandlungen mit Professor Herron gab er selbst und auch Herron einen Bericht heraus), der Industrielle Meinl aus Wien, Professor Singer (»Die Zeit«) und Dr. Hertz; ferner Professor Jaffe, Dr. de Fiori, beide aus München (seine Verhandlungen, angeblich im Interesse des bayrischen Hofes, wurden unlängst in der deutschen Presse erwähnt), Abgeordneter Haußmann aus dem Kabinett des Prinzen Max von Baden, Professor Quidde, Scheidemann, Károlyi und Professor Jászi u. a. Vermittler war manchmal Baron de Jong van Beck en Donc, ein früherer holländischer Beamter, über dessen Propagandatätigkeit und Beziehungen zu Österreichern mir wiederholt Informationen zukamen. Auch Südslawen – Dr. Trumbić – kamen zu Professor Herron.
Über die Berichte Professor Herrons nach Washington hörte ich Einiges dort; wichtig für mich war, daß Präsident Wilson Teile von diesen Berichten an Mr. Balfour weitergab. Später sandte Professor Herron die Mehrzahl der Berichte und Denkschriften mit Wissen des Präsidenten direkt an Mr. Balfour. Dieser gab einem engeren Kreise offizieller Persönlichkeiten von ihnen Kenntnis.
Professor Herron hatte in Bern Gelegenheit, viele Persönlichkeiten aus dem Lager von Freund und Feind kennenzulernen, insbesondere Repräsentanten der österreichischen und ungarischen Nationen und ihre Programme; durch Studium und Beobachtung der Geschehnisse ergänzte er sich die persönlichen Eindrücke und konnte dem Präsidenten Wilson daher nicht nur die Wünsche seiner politischen Besucher, sondern auch seine Ansichten über sie übermitteln. Osuský erwies Professor Herron wertvolle Dienste durch Übersetzungen aus magyarischen und anderen Quellen, seine Kommentare dazu und selbständige Memoranden über die wichtigsten Ereignisse und Persönlichkeiten. Osuský weilte z. B. in Rom beim Kongreß der österreichisch-ungarischen Völker und erstattete darüber an Professor Herron einen Bericht; ebenso gab er ihm Nachrichten über unsere ganze Bewegung im Auslande und in der Heimat und über politisch wichtige Vorkommnisse.
Professor Herron begriff und schätzte die Bedeutung unserer Legionen; er sah nicht nur, wie die einzelnen Regierungen unseren Nationalrat deshalb anerkannten und nach und nach unser antiösterreichisches Programm annahmen, der amerikanische Soziolog überzeugte sich auch davon, daß unsere Freiheitsbewegung echt war und schätzte danach die Bedeutung und die Aufgabe unserer Nation für den Wiederaufbau Europas, vor allem Osteuropas, ein. Professor Herron durchschaute die Künstlichkeit und Unmöglichkeit Österreich-Ungarns, er erblickte mit Recht darin, was ihm Lammasch, Dr. Hertz u. a. für Wilson auseinandersetzten, die spezifisch habsburgische Unaufrichtigkeit; Karl und seine Agenten wollten Wilson und Amerika für ihre Zwecke benützen.
Lammasch schilderte Herron (Anfang Februar 1918) Karl als Gegner der preußischen und magyarischen Vorherrschaft und verlangte, Präsident Wilson solle an Czernins Rede vom 24. Januar anknüpfen und seine Freude darüber ausdrücken, daß Österreich zur Versöhnung bereit sei; darauf werde der Kaiser an den Papst ein Schreiben richten, das zu veröffentlichen sei und in dem er den Nationen grundsätzlich die Autonomie versprechen werde. Professor Herron gefielen die Umschweife nicht, und er forderte, der Kaiser solle selbst hervortreten und sich ehrlich zur Umwandlung seines Reiches entschließen, nur unter dieser Bedingung werde der Präsident und ganz Amerika den Plan annehmen und unterstützen.
Das Trügerische der Aktion war offenbar; nicht den Nationen, sondern dem Papst wollte der Kaiser – die Autonomie und auch nur prinzipiell versprechen! Seine Hauptsorge galt dem Prestige, – Wilson sollte anfangen und an Czernins Rede anknüpfen, von der – Lammasch zufolge – der Kaiser selbst die Meinung hatte, daß sie seine Pläne ungenügend veranschaulichte, obgleich sie angeblich auf seinen ausdrücklichen Wunsch gehalten worden war. Diese Sorge um das Prestige verriet sich gleich wieder in dem Schreiben, das der Kaiser am 17. Februar an den Präsidenten richtete und in dem er um Entsendung eines besonderen persönlichen Abgesandten des Präsidenten ersuchte; das machte auf den Präsidenten einen schlechten Eindruck, wie aus der negativen Antwort (5. März) zu ersehen ist. Als daher Lammasch noch am 14. Oktober die Umwandlung Österreichs in einen Bundesstaat versprach, fand er Gehör weder bei Herron noch bei Wilson.
Ein detaillierteres Programm übergab Dr. Hertz im September Professor Herron. Er verspricht, Österreich werde sich von Deutschland loslösen und demokratisch werden; Österreich-Ungarn werde sich in eine Konföderation von Staaten mit Selbstverwaltung umwandeln. Hertz sagt nicht deutlich, wie die Tschechen, Polen und Südslawen neben den Deutschen und Magyaren staatlich organisiert wären; die Tschechen blieben ohne Slowaken, die Slowakei würde den Tschechen später »von selbst« zufallen. Polen wäre durch Personalunion mit Österreich verbunden; zu verstehen ist Russisch-Polen mit dem polnischen Galizien. Posen bliebe bei Deutschland. Siebenbürgen erhielte die Selbstverwaltung. Italien bekäme (nach einem Plebiszit) das Trentino; Triest würde Freistaat sein, doch in wirtschaftlichem Bunde mit Österreich-Ungarn. Der kleinrussische Teil Galiziens fiele zur Ukraina. Den Serben schließlich wäre es freigestellt, sich »unter gewissen Umständen« aus eigenem Willen dem österreichisch-ungarischen südslawischen Staate anzuschließen.
Auf solche Weise dachte Wien noch Ende September an seine Vergrößerung, und Dr. Hertz glaubt naiv, dieses große Österreich wäre – demokratisch und antideutsch gewesen! Es liest sich geradezu wie eine Posse, wenn er über den freien Anschluß Serbiens an den neuen südslawischen Staat sagt, »unter keinen Umständen dürfe ein Druck ausgeübt werden.« Sonst gebe ich zu, daß Dr. Hertz für Österreich vorgebracht hat, was sich – auf österreichisch – vorbringen ließ.
In Worten gingen Wien und Budapest auf Wilsons Thesen ein, aber in Wirklichkeit wollten sie ihre Herrschaft über uns und die anderen Nationen fortsetzen, ja diese Herrschaft noch befestigen. Professor Herron schätzte ganz gut die Autonomie ein, die Österreich den Nationen versprach. Und diese seine Erkenntnisse trug er dem Präsidenten Wilson bei allen wichtigen Gelegenheiten vor und verschwieg nicht seine Überzeugung, daß Amerika mit Österreich nicht paktieren könne. Das betonte er dann, als Mr. Lansing uns im Namen des Präsidenten und der Regierung offiziell mitteilte, daß unser Nationalrat und sein Programm anerkannt seien.
Besonders nach der Friedenskundgebung Österreichs vom 14. September, auf die Clémenceau so drastisch antwortete, sandte Professor Herron nach Washington eine Note, die sich an Strenge und Entschiedenheit von Clémenceaus Urteil nicht unterschied; und Washington gab am selben Tage die erwähnte lakonische Antwort. Im selben Geiste ist dann die letzte Antwort des Präsidenten Wilson an Österreich-Ungarn verfaßt.
Präsident Wilson war gegen Österreich nicht durch Professor Herron oder durch mich voreingenommen: das amerikanische demokratische Programm lenkte das Denken des Präsidenten nicht nur gegen das preußische Deutschtum, sondern auch gegen das deutsche Habsburgertum. Der Krieg war nicht allein eine Frage der Macht, des Militärs und der Politik, sondern auch eine sittliche Frage. Freilich – in Wien verstand man eine solche Politik nicht und rechnete nicht mit ihr. Die amerikanische Demokratie, die Demokratie überhaupt, begrub Österreich-Ungarn mitsamt den Habsburgern.
Nach der Antwort des Präsidenten Wilson an Österreich-Ungarn und nach unserer Unabhängigkeitserklärung blieb nur übrig, alle Konsequenzen zu ziehen. Das gab noch Arbeit genug; Österreich, falsch bis zum letzten Augenblick, ließ Deutschland im Stich und ersuchte Wilson (27. Oktober) um einen Sonderfrieden; es nahm auch die uns betreffende demütigende Bedingung an, deutete sich sie aber immer noch zu seinem Vorteil. Ich sandte darüber an den Staatssekretär Lansing eine Note (die letzte), in der ich die Hinterlist der österreichischen Politik beleuchtete; auch Professor Herron machte den Präsidenten direkt aufmerksam, mit Österreich nichts mehr anzufangen, da es bereits eine politische Leiche sei.
Für alle Fälle wollte ich noch die Anerkennung durch Belgien und Griechenland erlangen. Dazu leitete ich in Washington mit den Gesandten Verhandlungen ein (13. November); die offizielle Anerkennung kam nach Paris aus Athen am 22., aus Brüssel am 28. November.
Die allgemeine Aufmerksamkeit wurde in der zweiten Hälfte Oktober und der ersten Hälfte November in Amerika wie in Europa von der raschen Folge der einzelnen Szenen im Schlußakt des weltgeschichtlichen Dramas, das mit der russischen Revolution begonnen hatte, in Anspruch genommen – Österreich-Ungarn zerfiel und das preußische Deutschland stürzte. In Wien brach (21. Oktober) die Revolution aus, ebenso in Ungarn (Tisza wurde am 31. Oktober ermordet), aus Österreich-Ungarn erhoben sich der selbständige österreichische, der tschechoslowakische, der südslawische, der magyarische Staat. In Deutschland begann die Revolution mit dem Ungehorsam der Marine (28. Oktober), Anfang November revoltierten Hamburg, Lübeck, Bremen, München, Berlin. Der Reichstag änderte die Verfassung (Parlamentarisierung des Reiches), Ludendorff demissioniert, Kaiser Wilhelm und der Kronprinz treten zurück, der Kaiser flüchtet einen Tag darauf nach Holland, nach dem Kaiser verschwinden alle deutschen Dynastien in der Versenkung der Revolution, schließlich verzichtet auch Kaiser Karl auf sein Amt. Am selben Tage (11. November) unterschreiben Erzberger, Foch und Admiral Wemyss den Waffenstillstand, der Deutschland vor Gefangennahme der Armee und der Waffenstreckung bewahrt; die österreichische Armee war, besonders an der italienischen Front, bereits völlig demoralisiert – die deutsche kehrte in ziemlich anständiger Ordnung in die Heimat zurück. Und wie immer gefiel sich die Geschichte auch bei diesen großen Ereignissen in Symbolen und Ironie! Die Berliner Universität erklärte sich (20. Oktober) für das neue Regime und fast für die Sozialdemokratie; für den Rücktritt des Kaisers setzte sich als erste die »Frankfurter Zeitung« (24. Oktober) aus, nach ihr die Sozialdemokratie (28. Oktober); der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei Ebert wird Reichskanzler, Scheidemann ruft von den Stufen des Reichstages die Republik aus, die Sozialdemokraten übernehmen die Regierung ...
Mich interessierten bei all dem die Vorgänge in der Heimat und besonders der Umsturz am 28. Oktober; die ersten Meldungen darüber lauteten verworren; über die Zusammenkunft der Delegation des Nationalausschusses mit Dr. Beneš in Genf hatte ich anfangs unvollständige und sogar unbefriedigende Nachrichten. Die Austrophilen trösteten sich, daß die Habsburger sich noch halten werden; die erste Nachricht von Dr. Beneš (vom 5. November) klärte die Sache einigermaßen auf, und schließlich bestätigte die Abdankung Karls unsere ausländische Politik auch in den Augen der Austrophilen.
Die Nachrichten von Dr. Beneš klangen auch dahin, ich solle möglichst bald nach Hause kommen. Ich bereitete mich also auf die Reise vor. Lieb war mir die Meldung über die Deklaration der Slowaken in Turč. Sv. Martin (30. Oktober). Dagegen beunruhigten mich die Meldungen über eine separatistische Bewegung unserer Deutschen und die Versuche, ein Deutschböhmen zu organisieren; als jedoch berichtet wurde, daß auch ein Sudetenland, später ein Deutschsüdmähren und sogar ein Böhmerwaldgau entstanden, schwanden meine Befürchtungen: solche Zersplitterung war allein schon ein starkes Argument gegen die Separation. Doch war die Frage unserer Deutschen stets ernst. Die Amerikaner und die Engländer bestanden auf einer abstrakten Formulierung des Selbstbestimmungsrechtes.
Aufmerksam beachtete ich den Beschluß des vorläufigen deutsch-österreichischen Parlaments vom 12. November, daß »Deutsch-Österreich ein Bestandteil der deutschen Republik« sei.
Auch kamen mir sonderbare Gerüchte aus der Schweiz über unsere Prager Delegation zu Ohren; ich hörte, daß Wien mit unserer Delegation verhandelt habe und daß es – mit mir verhandeln wolle. Ich sandte deshalb aus London einen besonderen Vertrauensmann in die Schweiz, der an Ort und Stelle zuverlässige Nachrichten darüber sammeln sollte, was Österreich nach der Genfer Konferenz und dem Umsturz in Prag noch unternehme. Die Auskünfte sollte ich in London erhalten.
In Washington hatte ich auch gehört, Kaiser Karl habe sein letztes Angebot an Wilson im Einverständnis mit dem Vatikan gemacht. Mir kam es nach der Gesamtlage nicht wahrscheinlich vor, daß der Vatikan sich für Österreich noch so exponiere; zwar fanden Karl und seine Umgebung, wie auch aus dem Professor Herron vorgelegten Plane Lammaschs zu sehen ist, in der Verbindung mit dem Papst Trost in bösen Stunden, aber die Politik des Vatikans war damals schon sehr vorsichtig. In Wirklichkeit sandte, späteren Berichten zufolge, Karl die an Wilson gerichtete Note Andrássys gleichzeitig dem Papst, indem er wohl erwartete, der Heilige Vater werde irgendeine Aktion einleiten; ob über solch eine Aktion Verhandlungen vorausgingen, habe ich nicht feststellen können.
Als am 14. November in Prag die Republik ausgerufen und ich zum Präsidenten gewählt wurde, sandte ich an unsere Soldaten in Frankreich, Italien, Rußland und Serbien einen Befehl, in dem ich ihnen die Entstehung unseres Staates und die Aufgabe der Armee klarmachte: die französischen und italienischen Legionen würden bald in die Heimat zurückkehren, in Rußland und Sibirien müßten die lieben Jungen noch an der Seite der Alliierten aushalten.
Da der Nationalrat Vorläufige Regierung geworden und von den Alliierten anerkannt worden war, wurde seine russische Zweigstelle am 14. November liquidiert; General Štefánik wurde als Kriegsminister die oberste administrative Militärinstanz in Sibirien.
Am 15. November besuchte ich zum letztenmal den Präsidenten Wilson, um ihm herzlich zu danken und ihn der allgemeinen Dankbarkeit unserer Nation zu versichern. Warm war der Abschied von allen unseren politischen Freunden und Gönnern; ich verabschiedete mich vom Staatssekretär Lansing und den anderen bekannten Mitgliedern der Regierung und Beamten. Sehr herzlich war der Abschied vom Botschafter Jusserand und seiner Gemahlin und von allen seinen Kollegen.
Die Vorbereitungen zum Friedenskongreß waren fast beendet; ich wußte von Mr. Lansing, daß er sich rechtzeitig für eigenen Gebrauch ein Programm zusammengestellt hatte, das unserem Standpunkt im Ganzen nahe war.
Aber die Propagandaarbeit war noch nicht zu Ende; die Zeitungen verlangten vom neuen Präsidenten Interviews. Es war ihrer eine lange Reihe.
Nach meiner Wahl zum Präsidenten der Republik bewilligte mir die amerikanische Regierung einen Kredit. Neben idealen Beweggründen und Sympathien ist mitunter auch eine Staatsschuld ein wirksames Mittel der politischen Wechselbeziehung; ich verhandelte mit amerikanischen Finanzleuten, um eventuelle Anleihen zu sichern. Auch unterschrieb ich die erste Anleihe von zehn Millionen Dollar vor meiner Abreise.
Am 20. November um 12 Uhr mittags (in Prag standen die neuen Republikaner zu dieser Stunde erst auf) stieß unser Schiff »Carmania« vom Neuyorker Hafen ab. Beim Weggehen aus dem Hotel (Vanderbilt) wurde ich durch die erste militärische Ehrung überrascht, die mir als Präsidenten erwiesen wurde (eine Abteilung von Matrosen erwartete mich am Hotelausgang) – die militärischen Ehrungen, die mir fortan bei jedem Kommen und Gehen, bei jedem Besuch, immer und überall bezeugt wurden, erinnerten mich immer wieder daran, daß ich aufgehört hatte, Privatmensch zu sein ...