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Zweites Kapitel.
Theodor und Hans

Theo und Hans Payens kamen etwa eine Viertelstunde später zur Villa Hansa. Sie hatten statt des Personenaufzuges die große Steintreppe auf das Oberland benutzt, denn zuerst galt es, sich über das Nothwendigste einmal auszusprechen. Und was scheint zwei Jünglingen von lebhaftem Naturell, die einander herzlich zugethan sind, nicht alles der Mittheilung werth! Der alte Satz, daß Freundschaft nur unter Gleichen bestehen könne, wurde hier insofern Lügen gestraft, als Theodor, der Sohn des reichen Bankdirectors aus Hamburg, eine ganz andere sociale Stellung einnahm als der arme Waisenknabe und Schiffer. Ebenso war natürlich der Primaner vom Johanneum der großen und verkehrsreichen Handelsstadt seinem Kameraden, welcher, noch nicht 15 Jahre alt, die Dorfschule der Insel verlassen hatte, an Bildung weit überlegen. Aber Hans Payens war ein ungewöhnlich kluger Junge. Er lernte und studirte vieles für sich allein, und sein bemittelter Freund ließ es nicht an materieller Unterstützung fehlen, um die Bildung des Schifferknaben zu heben und zu leiten. Beide Freunde standen in gleichem Alter. Vor fünf Jahren, als Göhrings auch die Sommerferien auf Helgoland zubrachten, hatte Theo – damals ein schwächlicher Knabe in schwarzem Sammetanzuge mit großem, weißem Klappkragen – auf der Landungsbrücke gespielt. Ein plötzlicher Windstoß führte seinen Pariser Strohhut über das Geländer; Theo, dem von der Mutter des öftern eingeschärft war, den neuen Strohhut zu schonen, lief dem Hute nach und hoffte ihn mit seinem Stocke von einer Bootstreppe aus wieder zu angeln, denn die Fluthwellen trieben das kostbare Kleinod neckisch bald unter die Holzbrücke, bald wieder ein Stücklein vom Pier abseits. Nach dem zweiten oder dritten Angelversuche lag Theo mit seinem Sammetanzuge auch im Salzwasser. Seine Gouvernante erhob ein Zetergeschrei – denn der Knabe konnte nicht schwimmen. »Eine schwierige Geschichte,« sagten einige Schiffer, »die Fluth drängt ihn zwischen die Bohlen der Brücke, und wenn eine Welle kommt, zerbricht sie ihm an den Holzplanken das Genick. Da kann auch keiner hinein – bei dem Wasserstande ist es unmöglich!« Während Mademoiselle Jeannette lamentirte und einige Männer Stangen, Seile und Rettungsgürtel holten, sprang ein kräftig gebauter Knabe ins Wasser und schwamm auf Theo zu. »Hans,« rief ein alter Schiffer, »du kommst selbst unter die Brücke! Versuch den Jungen weiter abzustoßen, ehe du ihn packst, sonst wirft eine Welle euch gegen die Planken und zerbricht euch beiden die … Zum … Kerl, Payens! Stoß ihn erst zurück, die Strömung reißt euch gegen die Treppe … so, recht! Mach gau, Jung', ehe die andere Welle kommt!«

Athemlos schauten eine Menge Badegäste und Schiffer dem Schwimm-Manöver des tapfern Knaben zu. Aber das Werk gelang. Nach einigen Minuten standen der Gerettete und der junge Held triefend auf der Brücke. Die Direktorin Göhring, welche vor dem sogen. Reimers'schen Kaffeetrichter bei der Kurmusik gewesen, stürmte mit einigen Verwandten und Bekannten auf Theodor zu. Man hätte denken können, die Damen wollten ihn mit Küssen und Zärtlichkeit wieder trocknen und wärmen. Der Retter war verschwunden; erst am Abend erinnerte man sich seiner. Bankdirector Göhring empfing ihn in einer Art feierlicher Audienz und händigte ihm nach einer wohlgesetzten Rede ein Portemonnaie mit etlichen Zwanzigmarkstücken ein. Hans Payens erklärte, er habe nur seine Pflicht gethan, und gab zu verstehen, wie ihm die herablassende Höflichkeit des Directors wehe that. Der auch im Zimmer anwesende Bruder des Directors, Senator Göhring, war jedoch klug genug, den armen Jungen zur Annahme des Geldes zu bewegen. Er hatte von dem alten Pastor Köster gehört, Hans sei ein Waisenknabe und bewohne mit seiner ältern Schwester, die im Conversationshause hinter dem Buffet diente, ein kleines, elendes Häuschen.

Seit jenem Tage waren Hans und Theo treue Freunde. Jeden Sommer, wenn Göhrings nach Helgoland kamen, spielten, segelten und fischten sie zusammen. Anfangs sahen auch der Director und seine Frau gnädig auf den Retter ihres Kindes herab, allmählich aber hielten sie die Freundschaft für »unpassend«. Als Theo größer geworden und fast erwachsen war, sank das Thermometer der elterlichen Huld für den Schifferjungen jährlich um mehrere Grade. Aber die Jugendfreunde hielten treu zusammen, und sie fühlten, daß sie in den Augen Gottes recht daran thaten. Was Wunder also, daß sie auch in diesem Sommer vom ersten Momente ihres Wiedersehens an ein Herz und eine Seele waren!

Hans hatte sich zu einem schönen, blühenden Jüngling entwickelt; Theo trug schon einen leisen Zug von großstädtischer Blasirtheit in seinem Antlitze, obwohl er weit davon entfernt war, vornehm thun zu wollen. Unvermerkt hatten der frühe Genuß des Reichthums und das Wohlleben im Elternhause ihm die erste kindliche Jugendfrische genommen. Die Insulaner, welche den beiden Freunden begegneten, grüßten Theo sehr herzlich. Es gefiel ihnen, daß der reiche Städter so einfach und ungenirt mit einem der Ihrigen verkehrte. Auch Theo hatte für alle Bekannten, zumal für die jungen Burschen, ein freundliches Wort.

Vor der »Villa Hansa« wollte sich Payens verabschieden. Aber Theodor wollte, daß er erst bei ihm ein Glas Wein trinke.

»Wenn mich dein Vater sieht!« meinte der Helgoländer.

»Pah, was thut's! Wir gehen in mein Zimmer hinauf.«

»Ich weiß aber doch nicht, Theo …«

»Ich will mal sehen, ob einer wagt, dir ein böses Wort zu sagen!«

»O meinetwegen bin ich nicht bange. Es ist nur, damit du keine Unannehmlichkeiten hast. Deine Schwägerin ist auch eine so vornehme Dame …«

»Die kleine Dolores thut keinem Menschen was. Nein, Hans, wenn ich will, daß du bei mir bleibst, hat keiner ein Wort dagegen zu sagen.«

Er stieß die Hausthüre auf und schob den Freund hinein. Kurz begrüßte er die alte Anke Jaspers, welche seit Jahren die Villa bediente, und begab sich dann mit Hans auf sein Zimmer im zweiten Stock. Es lag nach der Falm hinaus und gewährte einen herrlichen Blick auf die Häuser des Unterlandes, die Rhede und den Hafen, die Düneninsel und das blau schimmernde Meer gen Südosten.

»Wie schön deine kleine Heimat ist!« rief Theo am Fenster aus; »jedes Jahr macht mich dieser Anblick wieder so froh! Oder ist es die köstliche Seeluft und der Lichtglanz – oder – oder du, Hans, mein Freund, mein Sonnenschein?«

Sie fielen sich um den Hals, sprachen kein Wort und fühlten beide, daß alles noch war wie im vergangenen Jahre.

Darauf suchte Theodor nach seinem Koffer. Sein Blick schweifte über den Tisch, der die Mitte des Zimmers einnahm – was war denn das? Da stand ein zierlich geschnitztes Vollschiff mit vollständigem Takelwerk und sonstiger Ausrüstung. Vom Topmaste prangte eine Miniaturflagge grün-roth-weiß, in den Helgoländer Farben, und von der Gaffel die Hamburger Flagge mit der weißen Burg und ihren drei Thürmen in rothem Grunde.

»Wie kommt die Bark hierher?«

»Es ist ein richtiges Vollschiff. Rathe mal, Theo!«

Der junge Göhring sah von dem Schiffe auf seinen Freund, und von Hans wieder auf das Schiff.

»Hans,« rief er dann, »du hast doch nicht meinetwegen Geld ausgegeben?«

»Wo denkst du hin! Nicht doch: selbst geschnitzt habe ich das Schiff.«

»Aber Hans!« Und aufrichtig gerührt drückte er dem Freunde die Hand. Sie setzten sich auf die Fensterbank und musterten das Kleinod vom Top bis zum Kiel und vom Bugspriet bis zum schöngemalten Heck, welches den Namen und die Heimat in goldgelben Lettern trug:

Theodor und Hans.
Helgoland.

Theo war ganz entzückt. Kein Segel, keine Wanten, kein nothwendiger Strick, keine Schote konnte an dem Takelwerk vermißt werden. Das Verdeck trug mehrere aufgebaute Kappen.

Hans erklärte: »Hier der Eingang zur hintern Kajüte, hier zum Volklogis, hier ist die Kombüse. Da – siehst du – die große Luke zum vordem Laderaum – schau, man kann sie abheben. Du kannst hier Sand als Ballast hineinthun, wenn das Schiff nicht gut zu Wasser liegt. Das da ist die andere Luke …«

»Das muß dich ja eine Riesenarbeit gekostet haben, Hans!«

»Als du im vergangenen September abreistest, schnitzte ich ein grobes Modell, den Rumpf ganz aus einem Stück. Das gefiel mir aber sehr wenig. Nicht doch! sagte ich, das ist zu roh für Theo. Ich ging also zu Jasper Jaspers – dem Bootmacher, weißt du – und schaute mir die richtige Art genau ab. Ich wollte alles ordentlich mit Kiel, Hölzern, Spanten und Rippen ausarbeiten. An den langen Winterabenden, wenn ich nicht vom Schellfischfang zu müde war, schnitzte und nagelte ich. Ende Mai ist die ›Theodor und Hans‹ vom Stapel gelaufen.«

»Eine fleißige Arbeit, Hans, und – eine künstlerische!«

»Und nützlich ist sie mir gewesen. Weißt du noch, Theo, als du mir beim Abschied sagtest: Hans, geh nicht in die schlechten Kneipen, wenn der Winter kommt!?«

»Ja, darum bat ich dich.«

»Nun sieh, deshalb habe ich die meisten Abende bei meiner Schwester gesessen und an dem Vollschiffe geschnitzt.«

Theodors Augen wurden feucht. Er dachte daran, wie er selber den Winter zugebracht hatte. »Eines solchen Freundes bin ich nicht werth!«

Hans stand, die Arme in die Hüften gestemmt, vor ihm und amüsirte sich: »Du fängst an zu weinen? Nicht doch, Theo!«

Ausweichend versetzte der andere: »Wer soll denn nun Kapitän werden?«

»Entweder du – und dann gehe ich als erster Steuermann mit; oder ich werde Kapitän und du bleibst als reicher Rheder zu Hause. Nein, wir müssen zusammen bleiben …«

»Das denke ich doch auch, Hans!«

»O,« meinte Payens, und jetzt ließ er den Kopf hängen, »wenn das doch möglich wäre!«

»Würdest du mit mir gehen?«

»Bis nach … o, wohin du willst. Aber nicht doch! Ich bin zu ungebildet, um dein Freund zu sein.«

»Du weißt, daß ich so etwas nicht hören mag. Wenn Papa nichts dagegen hätte, würdest du schon lange bei mir in Hamburg sein.«

»Ich wollte mich zufrieden geben, dir die Stiefel zu putzen. Und wenn du Soldat wirst – das mußt du doch werden, nicht?«

»Ein Jahr lang.«

»Gut, wenn du Soldat bist und es gibt Krieg, dann – dann – werde ich deutsch und gehe mit dir in die Schlacht. Wenn sie dich todtschießen, will ich auch nicht mehr leben.«

»Und ich«, unterbrach ihn Theodor mit flammenden Augen, »will doch sehen, wer es wagen wollte, uns zu trennen! Ich bleibe jetzt ein paar Wochen hier, und wenn ich wieder abreise, dann … dann … dann … wollen wir … dann wird sich finden, was mit meinem besten Freunde geschieht!«

Er wußte selber nicht, wie er den Satz zu Ende führen sollte, und seine erhobene Stimme sank bei den letzten Worten. Beide Freunde hatten sich in Begeisterung hineingeredet. Sie standen in dem wundervollen Alter, welchem die Freundschaft wahre Liebe, aufrichtige Herzenssache ist und wo noch nicht der kalte, berechnende Verstand dazwischen tritt mit seinen tausend Warum und Aber. Der Umstand, daß ihre Freundschaft von den Eltern Theodors mit scheelen Augen angesehen wurde, machte ihren Bund nur noch inniger, romantischer. Theodor war für Hans eine Art von höherem Wesen. Seine Bildung und seine ganze Lebensstellung machten das erklärlich. Nicht als ob der Helgoländer auf den Geldbeutel des jungen Hamburgers speculirt hätte – dazu war seine Liebe viel zu selbstlos. Die Ueberlegenheit Theodors war eben ein Factum, das auf die persönliche Neigung des Insulaners naturgemäß von Einfluß war. Auf der andern Seite bewunderte der Städter den Fischerknaben als ein vollendetes Bild sympathischer, unverdorbener Jugendschönheit und als einen Gefährten, dessen natürliche Klugheit und ungezwungenes Benehmen ihn nach dem Verkehre mit seinen Standesgenossen wunderbar erfrischten und aufheiterten. Ob ein solches Verständniß von Dauer sein könne, danach fragten sie nicht. Was sie beglückte, das mußte nach ihrer Ansicht auch in den Plan der Vorsehung aufgenommen sein. Aber auch hier sollte sich zeigen, daß die Gedanken der Menschen nicht die Gedanken Gottes sind. Wohl ihnen, wenn sie noch eine Zeitlang in der Sonne der Jugendfreundschaft wandeln dürfen, bevor die Romantik des Herzens in den Kämpfen des Lebens dem nüchternen Verstande erliegt! Auch das ist eine Fügung Gottes, daß manche Menschen erst spät lernen, den Nächsten mit dem speculirenden Blicke zu betrachten: was habe ich an dir, und wieviel verlangst du von mir? Nein, Theo und Hans hatten diese Bilanz noch nicht gezogen – ihr Credit und Debet bestand in gemeinsamen Interessen.

Das Segelschiff ward wieder auf den Tisch gestellt, und Theo öffnete seinen Koffer.

»Rathe mal,« sagte er, während er den Deckel zurückschlug, »was ich Hans Payens mitgebracht habe.«

»Schon wieder etwas? Im Mai zu meinem Geburtstage schicktest du mir erst die gestrickten Jumpers.«

»Ach, die langweiligen Wollhemden …«

»O nicht doch! Sie sind sehr warm. So feine Wolle und so schöne Farben hab' ich noch nie gesehen. Die jungen Burschen nannten mich den ›Hollunderprinzen‹, als ich mit dem blau und weiß gestreiften Jersey zu Klas Janssens Hochzeit kam …«

»So ist's recht. Du bist auch ohne den Jersey der schmuckste Bursch auf der Insel.«

»Nicht doch, Theo!«

»Hat dir das noch keine … ich wollte sagen: Rathe mal, was in diesem Paket ist.«

Er hielt ihm eine lange Rolle hin. Hans antwortete sofort mit strahlenden Augen: »Das ist … das sieht ja aus wie ein Kieker!«

»Recht gerathen. Es ist ein Fernrohr in schönem Lederetui.«

»Für mich, Theo?«

»Na, für wen denn sonst! Natürlich hab ich den Kieker, wie du das Dings nennst, noch gestern Abend bei Campbell gekauft.«

»Das ist aber ein prachtvoller. Der muß ja schrecklich theuer gewesen sein, Theo.«

»Das geht dich nichts an.«

Hans hatte das Instrument bereits ausgezogen und ging ans Fenster. Dort richtete er das Fernrohr auf die Düne. »Aber so etwas, Theo! Ich glaube, selbst der Rollmops hat keinen solchen Kieker.«

»Der Rollmops?«

»So nennen wir den kleinen, dicken Commandeur der Coast-Guards. Wahrhaftig, Theo … ich sehe Reimers mit seiner Flinte drüben auf der Düne. Sein Hund ist bei ihm … Theo, so'n Kieker hat ganz gewiß der Gouverneur nicht mal.«

»Ich habe noch etwas, Hans. Thu mal deinen Lederriemen ab!«

»Meinen Gürtel?«

»Jawohl. Ich habe hier einen feinen, neuen … mit silberner Schnalle.«

»Theo, die rostet ja, sobald Seewasser dran kommt.«

»Du trägst sie nur an Land. Im Boot behältst du den alten Riemen.«

»Das ist auch wahr.«

Nun wurde der Gürtel angelegt.

»Paßt er?«

»Er kneipt nicht genug, Theo.«

»Wieso?«

»Er ist von Gummi, nicht?«

»Natürlich.«

»Ich muß mich erst daran gewöhnen. Man kann aber besser Athem holen … merk' ich … und schön ist er. Die Schnalle würde meiner Schwester gefallen.«

»Wie geht es der, noch nicht verlobt?«

»Nein, sie will nicht. Sie ist aber ganz wohl.«

»Ich habe für Anna ein buntes Kopftuch in meinem großen Koffer, der noch nicht heraufgebracht ist. Ich geb' es dir morgen.«

»Du mußt es ihr selbst geben, Theo.«

»Das ist besser, du hast recht. Morgen Abend komme ich zu euch. Euer niedliches Häuschen mit den gemüthlichen Stuben ist der schnuckerste Platz auf der Welt. Lebt dein Canarienvogel noch?«

»Jawohl. Theo, der Kater, auch.«

»Theo muß allmählich alt werden,« meinte der menschliche Theo.

»Auf einem Auge ist er blind.«

»Wenn er eingeht, schicke ich dir einen Hund aus Hamburg.«

»Nicht doch, Theo …«

»Oder besser, du besuchst mich endlich mal und suchst dir selbst einen aus.«

»Ja, wenn ich mal aufs Festland kommen könnte!«

»Werde ich schon arrangiren. Aber … Bomben und Granaten, das ist doch zu stark; nun habe ich den Rauchtabak für dich zu Hause vergessen! Bloß die Pfeife finde ich … na, da gebe ich dir von den Cigarren in meinem großen Koffer. Du mußt aber bis morgen Geduld haben.«

Hans wurde roth über das ganze Gesicht. So eine Freigebigkeit! Er wollte gerade eine längere Rede versuchen, als es anklopfte.

»Herein!«

Anke Jaspers stand in der Thüre: »Herr Theo, Papa und Mama und Herr Carlos und alle fragen nach Ihnen. Es ist Zeit zum Essen.«

Hans griff nach seiner Mütze. Unwirsch sagte Theodor: »Ich habe auf der ›Cuxhaven‹ einen starken Lunch gehabt. Ich habe keinen Appetit.«

»Aber man fragt nach Ihnen. Herr Director hat mich 'raufgeschickt.«

»Bestellen Sie, ich käme nicht mit zu Bufe.«

»Thu das nicht,« rieth Hans, »dein Papa würde sehr böse werden.«

»Meinst du? Wenn ich aber keinen Appetit habe und mit dir plaudern will? Anke, wir trinken hier ein Glas Wein und …«

»Nicht doch, Theo! Dein Papa wird ganz fünsch, und er hat recht.«

»Ja, Herr Theo, er ist schon bös. Und der kleine Neffe verlangt auch nach Ihnen.«

»Ich kann doch nicht in meinem Reiseanzug zu Buse ins Restaurant gehen!«

»Dann kleiden Sie sich um. Ich will Papa sagen, Sie kämen gleich nach.«

»Theo, du mußt gehen – mir zu liebe. Wir treffen uns nachher. Ihr kommt ja zum Kaffee nach Reimers Pavillon.«

»Na, gut denn. Anke, sagen Sie Papa, ich sei gleich fertig.«

Er hielt Hans bei sich, bis er Toilette gemacht, was übrigens ziemlich lange dauerte. Dann gingen sie miteinander fort. Erst vor dem Bufeschen Restaurant nahmen sie Abschied – auf eine Stunde, wie sie meinten.

Die Familie saß schon bei Tisch und zwar mit dem Regierungsrath von den Blenden und einem Herrn aus Dresden, dem Theodor vorgestellt wurde, nachdem ihn sein Vater stirnerunzelnd begrüßt. Der Dresdener hieß Dr. von Sechow und war der Helgoländer Badegesellschaft unter dem Namen Dr. Lexikon bekannt. Dieser Titel hatte folgenden Grund. Sechow besaß eine erstaunliche Belesenheit und ein noch erstaunlicheres Gedächtniß. Daher war er, wenn irgend eine Frage aufs Tapet kam, fast immer bereit, über den Fall Auskunft zu geben. Entweder hatte er den Gegenstand wirklich studirt, oder er wußte die Sache so zu drehen, daß er seine Wissenschaft doch noch während der Discussion anbringen konnte. Er handelte übrigens nicht aus Motiven der Eitelkeit, sondern weil er ein vollendetes Original war. Was konnte er im Grunde dafür, daß er ein ebenso natürliches Interesse an dem neuesten amerikanischen Dampfpfluge fand wie an Major v. Egidys Frage, ob wir noch Christen seien? Oder daß ihn eine Patentangel des guten Professors Bohrmann ebenso begeisterte wie Helmholtz' Untersuchungen über die Schallwellen. Er kannte eine Gesellschaft von jungen Herren trotz seiner 57 Jahre von dem unglücklichen Lose der Frauen in Konstantinopel eine Stunde lang unterhalten, aber auch mit derselben Leichtigkeit einem englischen Admiral das Verhalten Leos XIII. gegenüber der französischen Republik analysiren. Ein astronomisches Werk von Secchi citirte er, als ob es sich um ein Drama von Shakespeare handle, und wenn er über den Stand der orientalischen Studien befragt wurde, gerieth er ebensowenig in Verlegenheit, wie wenn die Directorin Göhring seine Ansicht über den Fortschritt der Wagnerschen Harmonielehre gegen Karl Maria von Weber zu hören verlangte. Mit den Damen sprach er über Wolffs und Ebers' Romane, mit Künstlern über Wereschtschagins Motive und Makarts Farbentechnik, mit Offizieren über das neueste Infanteriegewehr-Modell – wobei er eine Bleistiftskizze auf seine Manschette zeichnete – und mit Hamburger Finanzmännern über Agiotage und Kaffeeconjuncturen.

»Der Herr ist Studiosus, vermuthe,« äußerte sich Dr. Lexikon, als Theodor ihm seine Verbeugung machte.

»Primaner,« erwiderte der Director; »später, hoffe ich, verlegt er sich aufs Jus.«

» Sis mihi mollis, invenis ornatissimeSei mir hold, hochansehnlicher Jüngling. sagte der Doctor und reichte dem jungen Manne die Hand.

Theodor kam zwischen ihm und dem kleinen Carlito zu sitzen. Mit letzterem und der jungen Frau Göhring redete das Lexikon natürlich nur spanisch.

»Sie haben jetzt Ferien, vermuthe,« wurde Theodor gefragt.

»Jawohl, Herr Doctor, und ich hoffe, mich gründlich an der See auszulüften.«

»Das ist ein guter Vorsatz; den führen Sie nur aus: Deus mihi haec otia fecit Ein Gott hat mir diese Ferien geschaffen., würde Virgil sagen.«

»Helgoland ist der rechte Platz dafür.«

»Nicht nur, weil man sich hier gut amüsirt. Nein, die Luft thut es.«

»Das glaube ich auch bemerkt zu haben,« meinte die Directorin; »die Luft kurirt mein nervöses Kopfweh besser, als es die Seebäder thun.«

»Ganz erklärlich, meine Gnädige. Der Salzgehalt der Nordsee ist so stark, daß der Reiz des Seewassers auf die Haut eine heftigere Reaction hervorruft, als man gewöhnlich annimmt. Zartere Constitutionen werden dadurch ermüdet. Die Ermüdung hat Appetitlosigkeit im Gefolge, und andauernde Appetitlosigkeit schwächt erklärlicherweise das System.«

»Jetzt kann ich mir erklären, warum ich die Bufesche Küche, die alle Welt sonst in den Himmel hebt, gar nicht goutiren kann!« Dabei nahm sie ein Stück Zungenroulade.

»Hat der Badearzt Sie nicht vor dem Baden gewarnt, meine Gnädige? Wenn ich mich nicht in meiner Diagnose täusche, so müssen sich Frau Director auf die Luftbäder beschränken. Der Ozongehalt und die Salze, welche den Lungen durch die Endosmose … was haben Sie, Herr Göhring?«

Carlos Göhring hatte seinen Kneifer auf den Boden fallen lassen und dabei war das rechte Glas zerbrochen.

»Das ist aber recht fatal!« rief er. »Ich habe kein Reserveglas, und der Optiker auf der Insel wird mir kaum helfen können.«

»Wir gehen nach dem Essen eben auf mein Zimmer,« versetzte Dr. von Sechow; »ich nehme zur Vorsicht immer ein Assortiment Gläser mit: vielleicht paßt Ihnen eines. Sehen Sie, ich brauche zwei Brillen, eine zum Lesen und eine für gewöhnlich. Dabei sind meine Augen ungleich – macht also vier Gläser. Sie begreifen, daß da nicht nur Vorsicht, sondern auch Auswahl die Mutter des Brillenfutterals sein muß.«

»Was Sie aber für Ueberfracht auf der Reise haben müssen!« meinte der Regierungsrath.

»O bei mir habe ich nur einen Handkoffer und eine Ledertasche. Ich pflege aber eine Kiste mit dem erst in zweiter Linie Nothwendigen per Fracht vorauszusenden.«

»Sie kamen aber doch vor vierzehn Tagen mit einem großen, länglichen Stücke an. Es sah aus wie ein riesiger Sonnenschirm in einem Leinwandüberzug.«

»Das war mein Strandzelt, Herr Regierungsrath. Ich habe es bisher noch nicht ausgepackt. Es ist heute ja der erste windstille Tag. Morgen nehme ich es mit auf die Düne. Zwölf Personen haben gut darunter Platz.«

»Wenn morgen Brise genug wäre,« sagte der Director, »so möchte ich auf den Makrelenfang. Das wird meine Schwiegertochter und den Kleinen interessiren.«

Aber Carlito rief über den Tisch: » Gran padre, ich will morrrgen die Kirrrche sehen.«

»Da ist nichts zu sehen. Junge,« erwiderte der Großpapa ärgerlich; »die hiesige Kirche ist ein langweiliger Bau, und das Innere nicht der Rede werth.«

Dr. von Sechow meinte: »Die geschnitzten Schiffe könnten unsern kleinen Freund interessiren. Da kann er alte Heringsfahrer und Walfischfänger von der Decke herunterhängen sehen mit Segeln und bunten, halbverblichenen Fahnen. Mañana iremos nosotros dos, oh Carlito?« Wollen wir zwei morgen hingehn, Carlito?

»Ich will die Virgen santísima Die heiligste Jungfrau. besuchen,« tönte es von Carlitos Lippen. Seine Mama schaute ihren Gatten besorgt an, denn der Directorin stieg das Blut zu Kopf.

»Es gibt hier keine Virgen santísima, muy querido mioMein Liebster. erklärte das Lexikon; »das letzte Marienbild wurde zur Zeit der Reformation, welche von Schleswig herüberkam, durch einen Dominikanerpater entfernt …«

Er hielt inne, denn er sah, daß das Kind ihn nicht verstand. Noch einmal versprach er dem Jungen, ihm morgen früh die Kirche zeigen zu wollen. Als Carlito aber wieder auf seine Messe kam, bemerkte der Papa: »Hier gibt es keine Messe, Carlito; warte, bis wir in Hamburg sind.«

»Da wohnen wir auch sehr weit von der katholischen Kirche,« fügte die Directorin hinzu, »und meine Schwiegertochter wird schwerlich, wie sie es drüben gewohnt war, ihrer Devotion folgen können.«

Dolores antwortete freundlich: »O ich scheue den Weg nicht, wenn er auch weit ist.«

»Wir werden sehen,« meinte die Schwiegermutter; »jedenfalls haben Sie hier aus Helgoland keine Gelegenheit, Messe zu hören. Bitte, Herr Regierungsrath, darf ich Sie um den Pfeffer bemühen?«

Das Lexikon, das eben alles wußte, ließ sich vernehmen: »Frau Director erlauben, daß ich hier einen kleinen Irrthum berichtige. Es wird augenblicklich auf der Insel doch die römische Messe gelesen …«

»Das wäre aber … wo denn, bitte ich Sie!« Dabei streute sie den Pfeffer neben statt auf ihren Teller.

»Sie kennen doch die Zichys aus Wien, meine Gnädige? Die gräfliche Familie hat einen Hauskaplan, der jeden Morgen …«

»Messe singt? Unmöglich!«

»Er liest sie wenigstens, meine Gnädige, und zwar in einem Saale des Conversationshauses. Da könnte also Ihre Frau Gemahlin, Herr Göhring …«

»Nichts da,« protestirte die Directorin; »so etwas ist bei uns nicht Mode!«

»Nun, meine Gnädige, Ihre Frau Schwiegertochter als Katholikin wird andere Bedürfnisse haben als Sie.«

»In einem nichtkatholischen Lande würde man Anstoß geben, Herr von Sechow, wenn man in die Messe liefe.«

»Aber in Guatemala«, sagte Dolores, »gehen die Engländer auch in ihre Kapelle.«

»Das ist etwas anderes, Dolores. Sie leben hier unter uns, d. h. in einer protestantischen Familie.«

Allmählich wurde das Thema ungemüthlich. Dolores traten die Thränen in die Augen, und der kleine Carlito starrte seine Großmama mit erstaunten Augen an. Carlos Göhring unterhielt sich plötzlich mit seinem Vater über etwas Geschäftliches. Theodor verwünschte innerlich den Eifer der Mutter; denn seine Schwägerin that ihm im Grunde leid, obwohl er auch nicht begriff, wie sein Bruder eine Katholikin hatte zur Frau nehmen können.

Zum Glück machte Herr von den Blenden die Bemerkung: »Graf Zichy erzählte mir heute früh, daß sie übermorgen abreisen wollten. Morgen gedenken sie noch das Diner beim Gouverneur mitzumachen.«

Die alte Göhring athmete auf. Dolores ebenfalls; denn jetzt kam man auf die Gastfreundschaft und Liebenswürdigkeit von Sir Terence und Lady O'Brien zu sprechen. Vom Gouverneur wandte man sich dann nach Indien, und während des Desserts war man beim Buddhismus angelangt, ein Thema, welches dem Lexikon Gelegenheit bot, einige philosophische Bemerkungen über das Nirwana einzuflechten.

Endlich hob man die Tafel auf und spazierte durch die Siemens-Terrasse und Queen-Street zum Reimerschen Kaffeepavillon am Strande.



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