Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.
Das Bekenntniß des Doctors

Als sie sich draußen auf dem Balkon eingerichtet hatten, nahm Sechow das Wort: »Eines wundert mich, Theo: so, wie ich Sie kenne, hätte ich erwartet, daß Sie alles darangesetzt hätten, trotz des väterlichen Widerstands nach Helgoland zu entwischen.«

»O wenn Sie wüßten, was ich alles versucht habe! Von meinem Onkel, dem Senator, hatte ich mir Geld geliehen; das Examen wollte ich laufen lassen; der ganzen Familie dachte ich zu trotzen – um den Freund zu trösten oder doch ihm Lebewohl zu sagen.«

»Sehen Sie wohl? Und wie ging es?«

»Auf dem Bahnhofe, als ich in den Zug nach Cuxhaven steigen wollte – das Dampfschiff geht ja im Winter nicht von Hamburg – wurde ich …«

»Abgefaßt?«

»Ganz recht, Doctor. Mein Vater hatte etwas geahnt, und war mir richtig bis zum Bahnhof nachgegangen. Dann gab es Hausarrest, und dann kam das Examen. Gerade der Umstand, daß Hans denken mußte, ich hätte ihn vergessen, ist mir so schmerzlich. Er hat mich oft gequält und ist nicht zum kleinsten Theile schuld daran, daß ich über mein Leid nicht Herr geworden bin.«

»Und doch, lieber Theo, ist auch das eine weise Fügung gewesen. Ihr Vater hat Ihnen einen guten Dienst geleistet. Hans zwar hat ein großes Opfer bringen müssen – das gibt ihm sozusagen einen noch hellern Nimbus in unserer Erinnerung –, aber Sie hätten sich, glaube ich, ein Leid angethan, wäre sein brechendes Auge auf Sie gerichtet gewesen. Sie hätten in dem Falle gemeint, das Leben nicht mehr ertragen zu können, und eine colossale Dummheit begangen. Oder verkenne ich meinen Theodor ganz und gar?«

»Es ist, als ob Sie in meiner Seele läsen, nein – als ob Sie mich besser kännten wie ich mich selbst. Ich glaube. Sie haben recht.«

»Hätten Sie nur stets auf den Doctor Lexikon gehört! Aber – noch etwas anderes wollte ich Sie fragen: Wie hat eigentlich Ihr Schwager Graf Stormarn geendet? Ich habe eigenthümliche Gerüchte gehört …«

»Die wohl nicht ganz aus der Luft gegriffen sind. Ich will Ihnen kurz die schreckliche Geschichte erzählen. Wissen Sie, daß er meinen Vater zum Duell gefordert hat?«

»Nein – unmöglich!«

»Man sollte es für unmöglich halten. Auf Helgoland geschah es, während ich krank lag. Meine Mutter hat es mir später erzählt. Als Papa sich entschieden weigerte, ihm zum fünften- oder sechstenmal die Spielschulden zu bezahlen, geschah das Unerhörte. Papa verwies den saubern Herrn Schwiegersohn daraufhin entrüstet aus seiner Nähe, aber den drei Damen gelang es, von Papa noch eine ›letzte‹ Anweisung herauszubekommen. Stormarn erhob in Hamburg sofort die ganze Summe auf einmal, bezahlte aber keineswegs seine Gläubiger, sondern verlor alles an einem einzigen Abend beim Ecarté. Darauf soupirte er in St. Pauli mit einer Sängerin aus dem Variétés-Theater, kehrte nachts in seine Wohnung zurück und schoß sich eine Kugel durch den Kopf.«

»Entsetzlich!«

»Morgens ganz früh fand ihn sein Bursche noch röchelnd, aber ohne Bewußtsein. Der Mann holte den Oberst von Pelesky, der zugleich ein Vetter Stormarns ist. In dessen Gegenwart starb mein Schwager, ohne wieder zur Besinnung zu kommen. Er hatte sich die Kinnladen furchtbar zerschmettert, aber seine gigantische Natur hatte eine Zeitlang den Verheerungen des fehlgegangenen Schusses widerstanden.«

»Wie entsetzlich für Ihre Frau Schwester!«

»Mathilde und die Tante Chanoinesse haben nie erfahren, wie Waldemar gestorben ist. Der Sarg wurde nicht mehr für sie geöffnet. Papa und ich sahen Waldemar noch, – ein Anblick, den ich nie vergessen werde, obwohl man die Leiche besorgt hatte, so gut es ging. Der Oberst benahm sich in jeder Weise zart und klug. Er ist überhaupt ein Edelmann von echtem Schrot und Korn, der Waldemar schon seit Jahren auf seine Pflichten als Mensch und Offizier hingewiesen hatte. Aber es half nichts. Matty glaubt, ihr Gatte sei plötzlich am Herzschlag verschieden, was bei einem so vollblütigen, cholerischen Menschen nicht unwahrscheinlich klang.«

»Nun lebt Ihre Frau Schwester bei den Eltern?«

»Jawohl, und sie ist fast wieder so geworden, wie sie vor der unseligen Heirat war: sinnig und freundlich. Sie ist wahrhaftig von Waldemar ›befreit‹ worden. Mit jedem Jahre fand ich sie teilnahmsloser, bequemer, langweiliger. Sie hat ihn nie geliebt, sondern sich nur für den ›Grafen‹ interessirt. Als sie merkte, wie brutal Stormarn war, ergab sie sich resignirt in ihr Schicksal, denn sie mußte sich ja sagen, daß sie ihr Los selbst verschuldet hatte.«

»Sie urtheilen hart, Theo.«

»Ich nehme die Dinge, wie sie liegen. Sie hätte einen Mann bekommen können, der sie auf Händen tragen wollte. Aber ich sage ja, die Weiber sind …«

»Na, na, fangen Sie wieder an? Erzählen Sie mir lieber, wie es der drolligen Chanoinesse geht.«

»Sie ist immer dieselbe. Letzte Weihnachten war sie bei uns. Mein kleiner Neffe Carlito, der übrigens jetzt Sextaner ist, wird von ihr wie von einer Großmama verzogen, und er commandirt die alte Dame zu allem, was ihm spaßig scheint.«

»Ihr Bruder Carlos ist also auch in Hamburg?«

»O nein, er ging vor einem Jahre nach Guatemala zurück, will aber diesen Herbst wieder bei seiner Frau und Carlito sein. Dolores hat einen schweren Stand mit Mama, die sie absolut protestantisch machen will.«

»Das sollte Ihre Frau Mama hübsch bleiben lassen!«

»Ich finde es auch. Alle Religionen sind ja gleich gut. Wenigstens weiß man nicht, welche die wahre ist, wenn auch mein armer Hans einmal sehr richtig bemerkte, daß nur eine die wahre sein könne.«

»So habe ich es nicht gemeint. Ich wollte sagen, daß die katholische Religion die beste ist.«

Theo war erstaunt: »Ist Ihnen das ernst?«

»Vollkommen.«

»Das begreife ich nicht.«

»Sie bringen mich da gerade auf das Thema, welches mit meinem Leben auf das engste zusammenhängt, und worüber ich mit Ihnen sprechen wollte.«

»Es wird mich interessiren, aus Ihrem Munde zu hören, was Sie von den Katholiken halten. Hier, Sie nehmen noch ein Glas Markgräfler, nicht?«

»Ja, danke. Nun erstaunen Sie aber nicht, Theo! Erinnern Sie sich, daß der Doctor Lexikon ein sonderbarer Kauz ist.«

»Sie machen mich neugierig.«

»Hoffentlich nicht böse. Ich habe Ihnen nämlich nie erzählt, daß ich auch katholisch bin.«

»Wie? was? Sie katholisch?«

»Ja, obwohl das anders klingt, als es sich in Wirklichkeit verhält. Seit meinen Knabenjahren habe ich nämlich nicht mehr ›prakticirt‹, wie die Leute sagen. Nun gut, hören Sie also! Ich erzählte Ihnen schon, daß mein Vater, ein hochstehender Diplomat, eine Schauspielerin heiratete. Meine Mutter, Theo, war eine Katholikin und trotz ihres gefährlichen Métiers so fromm, daß Sie von meinem Vater verlangte, die Kinder aus ihrer Ehe müßten katholisch werden. Nach langen Kämpfen gab mein Vater nach. Ich und eine Schwester, die jedoch früh starb, wurden katholisch. Sogar katholischen Unterricht erhielt ich von einem hochgebildeten Jesuitenpater. Aber nach meiner ersten Communion gerieth ich in die Hände jenes gewissenlosen Hofmeisters, von welchem ich Ihnen mehr denn genug erzählt habe. Dem elenden Menschen schreibe ich es zu, daß ich seit meinem Communiontage kein einziges Sacrament mehr empfangen habe. Meine Mutter war ja todt, und mein Vater sah es ohnehin nicht gern, daß ich als Kind jenen Jesuiten besuchte.«

»Das begreife ich.«

»Sie begreifen aber nicht, was es heißt, Jahrzehnte ohne Sacramente zu leben, wenn der Verstand sozusagen katholisch geblieben ist. Denn – wohlgemerkt: ich bin niemals in irgend einer Weise gegen die Kirche aufgetreten, welcher ich durch die Taufe, wenn auch nicht durch meine Lebensführung, angehöre.«

»Nun, Doctor, mir scheint, daß die Sache doch sehr einfach ist. Wenn Ihr Verstand die Dogmen des Katholicismus annehmen kann, so brauchen Sie ja nur zu Ihrer Messe oder Ihrer Ohrenbeichte zu gehen, dann haben Sie, was Sie wollen.«

»Da liegt gerade der Hund begraben, Theo. Ich bin von der Rechtmäßigkeit und Nützlichkeit der Beichte vollständig überzeugt, kann mich aber nicht entschließen, nach so langer Zeit zu beichten.«

»Ist das nicht ein wenig inconsequent? Ich selbst halte natürlich all solche Ceremonien für Mumpitz. Wenn Sie aber daran glauben – und Sie werden gewiß vernünftige Gründe dazu haben –, so sehe ich Ihre Schwierigkeit nicht ein.«

»Wenn Sie mein Leben kännten, würden Sie das nicht sagen, Theo.«

»Nun,« lachte Theo, »Sie haben doch noch keine Bank bestohlen?«

»Das nicht.«

»Und noch keinen Menschen umgebracht!«

Sechow fuhr zurück und erblaßte. Theo sah sein vis-à-vis scheu an. Wäre es denkbar?

»Doch, – das ist es ja gerade!« sagte der Doctor leise und senkte das Haupt auf die Brust. Aber sofort erschrak er, daß er sich einem Jüngling verrathen hatte. Aber es war einmal geschehen. Was mußte Theo denken, wenn er jetzt nicht alles hörte?

Der junge Mann stieß mit einer heftigen Bewegung sein Glas und die Flasche um und rief: »Sie wollen mir doch nicht aufbinden, daß Sie ein Mörder sind?«

»Hören Sie selbst, Theo!« Sechow sah, daß er unmöglich mehr zurück konnte.

»Na, das geht mir doch …«

»Hören Sie, und dann – dann richten Sie.«

»Das geht mir übers Bohnenlied.«

»Wenn Sie Geduld haben – und Mitleid mit einem einsamen Manne, so lassen Sie mich reden.« Das Antlitz des weltgewandten Mannes war kreidebleich geworden.

»Gewiß, Doctor! Aber sagen Sie um Himmels willen: ist es wirklich wahr?«

» Hören Sie! Das ist alles, was ich antworten kann. – Als ich Ihnen seiner Zeit von meiner Braut Georgine erzählte, sagte ich Ihnen nur, daß ich nach Aufhebung meiner Verlobung drei Jahre lang auf Reisen ging, nicht wahr?«

»Ja, um zu vergessen und auf andere Gedanken zu kommen. Ihr Arzt habe Ihnen die Reise um die Welt angerathen.«

»Ganz recht. Verschwiegen habe ich aber das Ereigniß, welches mich bei meiner Rückkehr nach Europa aufs neue um meinen Frieden brachte. Ich kam damals von Indien zurück und verließ den Triester Lloyddampfer in Port Said, um von dort einen italienischen Dampfer nach Sicilien zu nehmen. Einen direkten Uebergang vom tropischen zum nordalpinen Klima hielt ich für gefährlich, und darum beschloß ich, mich einige Wochen in Süditalien aufzuhalten. Zuerst war ich in Messina, aber dort gefiel es mir nicht sonderlich, weshalb ich mich nach Neapel aufmachte. Die große Stadt war mir indessen auf die Dauer auch zu geräuschvoll, und bei einem gelegentlichen Ausflug nach Capri gefiel mir diese herrliche Insel so wohl, daß ich beschloß, daselbst einen Monat zu verweilen. Im Hotel Pagano machte ich die Bekanntschaft eines Münchener Künstlers, den ich täglich auf seinen Streifzügen durch die Insel begleitete. Wenn er dann vor seiner Staffelei saß und malte, lag oder saß ich in seiner Nähe und vertiefte mich in meinen Virgil. Wie ihn die großartige Natur und die Lichtfülle des Südens zu fleißigem Schaffen begeisterten, so ging mir unter dem italienischen Himmel mit seiner Farbenpracht das Verständniß für die Eklogen auf, die ich einst auf der Schulbank nie recht würdigen gelernt hatte. Das Interessante war, daß der Münchener geradezu Eklogen malte. Er pflegte sich seine Modelle unter der Inseljugend auszusuchen und wählte dann den passenden landschaftlichen Hintergrund aus der freien Natur. Seine Menschen bildeten übrigens nicht die Staffage des Bildes, sondern die Hauptsache. Er ließ es zu, daß ich mit ihm die Personen wählte und die Gruppen ordnete; denn ich hatte, wie er es nannte, einen Griff für einheitliche Composition. Kurz und gut – Sie können sich denken, daß ich mit dem Künstler eine Zeit edlen, friedlichen Genusses durchlebte. Wir harmonirten vorzüglich und hatten bereits abgemacht, daß er einen Sommer bei mir auf meinem sächsischen Gute Plinkenau zubringen sollte, – da wurde das schöne Verhältniß plötzlich durch ein unglückliches Ereigniß gestört. Eines Nachmittags wandelten wir zusammen nach der Punta Tragara, wo sich eine ländliche Osteria befand. Wir setzten uns vor das Wirtshaus, theils wegen der Aussicht auf das Meer, theils weil drinnen die Bauern und Schiffer mit Tanz und Musik ein lärmendes Fest feierten. Es war viel Volkes da. Die Wirtstochter selbst mußte uns bedienen, und – um es ohne Umschweife zu sagen – Lucia übte bei ihrem ersten Erscheinen einen solchen Zauber auf mein Herz aus, daß von dem Tage an das Bild Georginens vollständig in meiner Seele verblaßte. Am folgenden Tage suchte ich die Osteria allein auf, ohne den Münchener. Lange unterhielt ich mich mit Lucia und entdeckte zu meinem Entzücken, daß auch ihr der junge Tedesco nicht gleichgiltig war. Sie blieb züchtig und zurückhaltend, aber das Feuer in ihren Augen sprach beredt genug, zumal nachdem sie vernommen, daß ich der römisch-katholischen Kirche angehörte. Nach etwa acht Tagen wagte ich die Frage: ob sie wohl vor dem Gedanken erschrecken würde, einem deutschen Edelmanne in seine ferne Heimat jenseits des Apennin und der schneebedeckten Alpen zu folgen. Die Antwort lautete: Der Tedesco sei noch nicht lange genug ihr Freund. Aber sie glaube, daß sie sich in ihm nicht getäuscht habe. Im übrigen werde sie nichts ohne ihre Eltern und den Padre Girolamo thun. Ich möge eine Woche lang ihre Nähe meiden; dann werde sie mir offen sagen, ob es recht sei, daß sie Tag und Nacht an den Tedesco denke. Nur ungern ging ich auf die Trennung ein, die mir zu einer Ewigkeit wurde. Aber die keusche Vorsicht der Jungfrau ließ mich die Tugenden ihres Herzens erkennen. Ich blieb also fort. Das Unglück wollte, daß der Münchener von meinen Besuchen Kunde erhalten hatte. Er empfing mich eines Abends mit der Andeutung, daß ich Dinge vorhabe, die er nicht von mir erwartet hätte, und die einem Edelmann nicht wohl anständen. Ich fuhr auf und stellte ihn zur Rede. Ein Wort gab das andere. Er warf mir vor, ich wollte ein ehrsames Mädchen verführen, während ich die Ehrlichkeit meiner Absichten betonte. Endlich glaubte er mir, suchte mich indes zu überzeugen, daß doch von einer Heirat zwischen mir und der Winzerstochter im Ernste nicht die Rede sein könne. Heute, Theo, sehe ich das vollkommen ein, aber damals, in meiner heftigen Leidenschaft, wollte ich durchsetzen, was ich zur Erreichung meines Lebensglückes für nothwendig hielt. Sie sehen nun wohl auch, Theo, daß ich aus Erfahrung sprach, wenn ich Sie warnte, Hans für immer an sich zu ketten. Leute von grundverschiedener Bildung und Erziehung hat die Vorsehung selten füreinander bestimmt.«

»Nur weiter! erzählen Sie zu Ende!« drängte der Student.

»Mein Münchener Freund, obwohl ein enthusiastischer Künstler, erkannte die Lage der Dinge besser als der bis über die Ohren verliebte Tedesco Lucias. Er brachte bald heraus, daß vernünftige Worte nichts über mich vermochten. Ich hielt ihn für kalt – aber er war es, der für mich und das Mädchen dachte. Er ging zu den Eltern Lucias und stellte denen die Sache vor. Die verständigen und ehrbaren Leute gaben ihm recht. Als ich daher nach den festgesetzten acht Tagen wieder vor Lucia hintrete, gibt sie mir mit traurigem Antlitz und niedergeschlagenen Augen, aber fester, sicherer Stimme den Bescheid: ›Die Eltern und Padre Girolamo haben erklärt, ein ungebildetes Mädchen, das kaum eine Schule besucht hat, kann nicht die Gattin des vornehmen Tedesco werden.‹ Und als ich mit leidenschaftlichen Betheuerungen ihr in die Rede fiel, reichte sie mir die Hand, die sie freilich schnell wieder zurückzog, und sagte leise: ›Es wird gut sein, Signore, und recht vor Gott und den Menschen, wenn Sie entweder Capri verlassen oder doch nicht mehr zu uns kommen. Die unbefleckte Gottesmutter segne Sie, Signore. Im übrigen bin ich seit Jahr und Tag dem Barcajuolo Cecco versprochen.‹ Damit wandte sie sich schnell ab und ließ mich allein. Meinen Zustand können Sie sich vorstellen, Theo!

»Ungeachtet der Mahnungen des Müncheners suchte ich am nächsten Abend wieder die Osteria auf. Ich nahte mich dem Hause von einer ungewohnten Seite her, auf einem schmalen Fußpfade, der den Felswänden abgerungen ist und hoch über dem Meer um einen Klippenvorsprung herumführt. Da, am äußersten Ende dieser vorspringenden Wand, tritt mir plötzlich ein junger Bursche entgegen: ›Wohin, Signore?‹ – ›Was geht es dich an?‹ – ›Gehen Sie zurück. Dieser Weg führt nirgendwo anders hin denn zur Osteria della Tragara.‹ – ›Gerade die Osteria ist mein Ziel.‹ – ›Und wen suchen Sie dort?‹ – ›Das ist meine Sache!‹ – ›Nein, Signore, per bacco! das ist meine Angelegenheit!‹ – ›Laß mich passiren!‹ – ›Wissen Sie, wer ich bin? Cecco, Signore, der Verlobte Lucias. Und ich wünsche, daß Sie umkehren und Ihr Auge nie wieder zu meiner Braut erheben. Sonst sei Ihnen Gott gnädig!‹ – ›Ich gehe den Weg, den ich vorhabe, und du sollst mich daran nicht hindern!‹ – › Maledetto Tedesco!‹ brummt der Bursche und stellt sich so auf den schmalen Pfad, daß ich keine Möglichkeit habe, vorbeizukommen. Umkehren will ich nicht. Ich werde wie rasend, da ich meinen Nebenbuhler so trotzig vor mir sehe. Nur er, so tönt es in mir, steht zwischen dir und Lucia. In diesem Augenblicke muß sich für mich Glück oder Unglück entscheiden! Die Nacht ist dunkel, die Luft ruhig. Kein Laut regt sich um uns her. Die glühenden Augen Ceccos sind fest auf mich gerichtet; ich fühle das mehr, als daß ich es sehen kann. Die Leidenschaft wächst von Minute zu Minute – – da, Theo, packe ich den Burschen bei der Brust, und ehe er sich wehren kann, stoße ich ihn den Felsen hinunter. Kaum habe ich die entsetzliche That begangen, erstarrt das Blut in meinen Adern. Ich lausche wie festgewurzelt. Eine schwere Masse höre ich unten auf das Gestrüpp am Ufer aufschlagen, dann bleibt alles still – bis auf das leise Rauschen der Wellen in der Tiefe. Ich versuche zu schreien – aber die Stimme bleibt mir in der Kehle stecken. Keinen Arm, keinen Fuß vermag ich zu rühren. Eine Eidechse raschelt über meine Hand, die ich gegen die Felswand gestützt habe. Der Schreck gibt mir das Leben wieder. Ich klettere den Pfad zurück, stürze ins Hotel und verbringe eine entsetzliche Nacht – gewärtig, am nächsten Morgen von Gendarmen geholt zu werden. Aber nichts geschieht. Von meinem Fenster aus sehe ich Lucia mit ihrer Mutter zur Frühmesse gehen. Sie lächelt und spricht mit den Mädchen, die ihr begegnen. Cecco muß sich gerettet haben, denke ich und athme ein wenig aus. Aber ich packe meine Sachen, zahle meine Rechnung und reise von Capri ab, ohne von dem Münchener Abschied zu nehmen. In Neapel lebe ich im Hotel unter fingirtem Namen. Die Ungewißheit und die Reue drängen mich, wenigstens an den Maler zu schreiben, ihm alles zu gestehen und ihn zu bitten, mir über Ceccos Schicksal Auskunft zu geben. Ceccos Familiennamen kannte ich übrigens nicht – ich habe ihn bis heute nicht erfahren. Eine geheimnißvolle Scheu hielt mich ab, nach ihm zu forschen. Nun, das thut jetzt nichts zur Sache. Ich war also in Neapel. Da sehe ich aus der Fremdenliste, daß der Maler auch in Neapel weilt. Ich suche ihn auf, finde, daß er wegen meiner Unhöflichkeit sehr kurz angebunden ist, aber auch, daß auf Capri nichts von einem außergewöhnlichen Ereignisse verlautete, solange er daselbst geblieben – und das war drei Tage nach meiner Abreise. Die Scham schließt mir den Mund. Ich theile ihm nichts mit, und wir trennen uns. Weder von dem Maler noch von Lucia noch von Cecco habe ich seitdem gehört. Ich bin alt und grau geworden, Theo, und mit mir ist die Schuld gealtert, aber das Gewissen will nicht vernarben. Ich betrieb alle möglichen Studien, reiste den größten Theil des Jahres, suchte mich zu zerstreuen oder dadurch Frieden zu finden, daß ich meinen Mitmenschen Wohlthaten und werkthätige Liebe erwies – umsonst! Ein Bild steht immer vor meiner Seele – nicht dasjenige Lucias, sondern die blutige Erscheinung dessen, dem ich wahrscheinlich das Leben geraubt habe. Letzthin faßte ich den Entschluß, mir lieber die schreckliche Gewißheit zu verschaffen, als noch länger unter diesen entsetzlichen Zweifeln zu leiden. Daher nahm ich bei meiner Rückkehr aus Aegypten nochmals den Weg über Messina und Neapel. Capri wollte ich besuchen, Theo, um Erkundigungen einzuziehen über die Folgen jenes Ereignisses, das so weit hinter mir liegt und doch so frisch in meiner Phantasie weiterlebt. Ende Februar kam ich in Neapel an – Mitte März hatte ich noch nicht den Entschluß ausgeführt! Ohne Capri wieder betreten zu haben, reiste ich ab. In Florenz fand ich Ihren Brief und beschloß, Sie nach Ostern zu besuchen. Und nun sitze ich vor Ihnen, Theo – o, als der drollige Doctor Lexikon, als der gesuchte Gesellschafter, der Mann, der alles studirt hat und über alles zu reden weiß, der lustig und heiter sein kann mit zerrissenem Herzen – – ja, Theo, ich schwöre es Ihnen: als ein Mensch, der an die Vorsehung des Allerhöchsten glaubt, der wahre, aufrichtige Liebe zu seinen Mitmenschen hegt, jeden trösten, jedem helfen möchte, und doch – sich selbst nicht helfen kann! Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, Freund. Vielleicht werden Sie mich jetzt gründlich verachten. Aber ich wünsche doch, ich hoffe, daß Sie ein klein wenig Mitleid mit mir haben. Sehen Sie, Theo, ich habe manches Buch studirt, um meinen katholischen Verstand sozusagen umzumodeln. Aber es geht nicht an. Jede Controverse hat mir die katholische Weltanschauung nur in noch hellerem Lichte erstrahlen lassen, und trotzdem, oder vielleicht deshalb, wird es mir nach jeder gewonnenen Erkenntniß schwerer, meine religiösen Pflichten zu erfüllen. Begreifen Sie den Zustand meiner Seele, Theo? dieses niederdrückende Bewußtsein? dieses harte Dilemma? Und was sagen Sie überhaupt zu der Geschichte meiner Schuld? Sie sind der erste, dem ich mich eröffnet habe. O wüßten Sie, wie schrecklich mir in einsamen Stunden zu Muthe ist!«

Von dem Gehörten überwältigt und aufs tiefste erschüttert, erwiderte Theo zögernd: »Zuerst, verehrter, lieber Doctor, seien Sie überzeugt, daß ich Sie nicht für so schuldig halte, wie Sie sich selber. Stets sind Sie ja die Ruhe, die Sicherheit selber; das beweist mir …«

»Sie wollen mich trösten, Theo. Nur unter den Menschen erscheine ich ruhig.«

»Ganz gewiß will ich das, aber nicht mit leeren Redensarten. Ich denke so: nach Ihrem Berichte ist der Tod jenes – jenes Cecco nicht nur nicht sicher, sondern höchst unwahrscheinlich. Ihr Münchener Freund müßte gleich am nächsten Tage von einem solchen Ereigniß gehört haben.«

»Wie oft habe ich mir das eingeredet, Theo! Aber wo ist die Sicherheit? Sie werden sagen, ich hätte mich tausendmal erkundigen, vergewissern, die ganze Last mit einem energischen Entschlusse mir von der Seele wälzen können. Nein, Theo, ich konnte es nicht! Ich komme mir vor wie Hamlet – ich kann nicht handeln.«

Der Student fuhr, ohne auf diese Worte zu hören, fort: »Zweitens haben Sie offenbar nicht die Absicht gehabt, jenem Menschen das Leben zu nehmen. Freilich haben Sie mit heftiger Leidenschaft gehandelt; aber gerade die Leidenschaft, die blind ist, dient Ihnen zum Beweise, daß Sie den Ausgang nicht voraussahen. Sie wollten nur einen wahren oder vermeintlichen Nebenbuhler verdrängen.«

»Ja, Theo. Gott weiß, daß ich bei ruhigem Blute nie einem Menschen ein Haar krümmen könnte! Ich habe viele Jahre versucht, meinen Mitmenschen Gutes zu erweisen, eben um jene That zu sühnen. Und doch – die Kirche meiner Taufe verlangt eine andere Sühne von mir!«

»Und welche, Doctor?«

»Die Beichte.«

»Nun, dann gehen Sie in Gottes Namen beichten.«

»Ich kann nicht, Theo. Es wird mir zu schwer.«

»Ja – aber – – aber haben Sie denn noch andere Dinge auf dem Herzen?«

»O das andere sind alles Bagatellen – ausgenommen vielleicht, daß ich seit meiner Kindercommunion nicht mehr gebeichtet habe. Auch das ist eine schwere Sünde.«

»Nun,« meinte Theo lächelnd, »dann begreife ich Sie aber wirklich nicht! Mir scheint, Sie haben soeben einem jungen Studenten und Corpsburschen eine recht ausführliche Beichte abgelegt; das müßten Sie doch viel eher einem alten, erfahrenen Pfaffen gegenüber fertig bringen, der noch obendrein hinter einem Gitter sitzt.«

Sechow sprang vom Stuhle auf und rannte in das Zimmer. Theo erschrak und folgte ihm: »Hab' ich Sie beleidigt, Doctor?«

»Nein, Junge, nein! Aber es ist schändlich, wirklich schändlich!«

»Was, um Himmels willen?«

»Daß ich diese simple Lösung nicht selbst erkannt habe! Theo, Sie als Protestant haben mir den Weg zum Beichtstuhl gezeigt!«

»Ich?«

»Jawohl, kaum ein Wort mehr brauche ich dem Priester zu sagen – und die Reue, Gott weiß, ob ich sie habe! O Theo, Sie wissen gar nicht, welchen Dienst Sie mir da geleistet haben!«

»Nein, das weiß ich nicht. Es soll mich aber freuen, wenn ich etwas Vernünftiges gesagt habe.«

»Ja, ja, das haben Sie! Daß ich selbst bei aller Wissenschaft solch ein Esel bin!« Dabei lies Sechow im Zimmer auf und ab und schlug sich gegen die Stirne.

»Habe ich Ihnen wirklich einen Dienst geleistet, Doctor? Dann konnte ich mich also revanchiren für das, was Sie an mir gethan haben?«

Sechow blieb vor Theo stehen und sagte: »Gott segne diese gute Stunde. Wissen Sie, was ich thue, Theo?«

»Nun?«

»Morgen ist Frohnleichnam. In aller Frühe gehe ich beichten.«

»Wo denn?«

»In der katholischen Kirche natürlich.«

»Wo ist denn die?«

»Die Jesuitenkirche.«

»Ach so. Na gut, gehen Sie, gehen Sie, wenn Sie da Trost finden.«

»Trost und Verzeihung finde ich und sichern Rath, was ich zur Sühne thun soll.«

»Gut. Wenn ich auch Ihre Religion nicht verstehe, billige ich doch Ihr Vorhaben.«

»Und wo treffe ich Sie morgen?«

»Ich fahre nach Speier. Ich habe es einmal gesagt.«

»Nun gut. Kommen Sie morgen Abend ins Hotel. Gute Nacht, Theo!«

»Sie vergessen ja Hut und Stock, Doctor! Auch muß ich Ihnen erst aufschließen.«

»Ach so. Ja, der Stock; sehen Sie, da ist ein Feuchtigkeitsmesser drin; ich habe diese Art – nicht gerade erfunden, aber mir als eine Verbesserung des Wolfhügelschen Hygrometers ausgedacht. Ich erkläre es Ihnen ein anderes Mal.«

Theo nahm die Lampe und geleitete den Doctor an die Hausthüre. Dann setzte er sich noch eine Weile allein auf den Balkon und sann nach über diesen seltsamen Freund. Er hatte Sechow immer geachtet und ihm immer vertraut. Seit diesem Abend schätzte er ihn noch mehr. Theo war überzeugt, der unglückliche Mann müsse schon lange sein Unrecht gesühnt haben. Unwillkürlich faltete der Student die Hände. Er that, was er seit Jahren unterlassen: er betete zu seinem Gott und Schöpfer, daß Sechow Frieden finden möge und er selbst. Die Sterne leuchteten über dem schwarzen Schloßberge und spiegelten sich in der sanft rauschenden Fluth des Neckars. Der Mond stand hinter Wolken, und die alte Pfalz in ihrem grauen Schattenmantel erschien als ein gewaltiger natürlicher Felsenbau. Vor Theos Phantasie hob sich eine rothe Klippe aus dem Meere. Nicht mehr im Odenwald, nein, fern an der Nordsee weilten seine Gedanken. Die Knabenjahre mit ihrer Lust und ihrem Leid zogen an ihm vorüber, und es war wie eine Procession verklärter Luftgestalten. Eine traute Gestalt wollte nicht weichen. Heller als die andern erglänzte sie, länger als die andern blieben ihre sanften Umrisse erkenntlich. Und als auch sie zerfloß, bewegten sich Theos Lippen zu leiser Klage:

»Noch rauscht am Strand die Meereswelle,
Die oftmals unsern Fuß benetzt,
Doch du, mein heiterer Geselle,
Schläfst in dem engen Grabe jetzt.

»Dein treues Auge ist gebrochen,
Dein Mund, der Freundschaft mir versprochen,
Ist kalt und stumm.
All Kraft und Anmuth ist entschwunden,
Der Tod hat seinen Raub gefunden –
O Gott – warum?

»Ich ahne, Herr – nein, ich verstehe
Und dulde, was durch dich geschah,
Und fleh', daß ich ihn wiedersehe,
Wo wir dir selbst in Liebe nah.«



 << zurück weiter >>