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Vier Tage später fuhr die Postkutsche vor, in der sie die Reise nach Marseille antreten wollten.
Nach dem Schrecken der ersten Nacht hatte Johanna sich schon mehr und mehr an das Zusammenleben mit Julius, an seine Küsse und zärtlichen Liebesbezeugungen gewöhnt, wenn auch ihr Widerstreben gegen intimere Beziehungen sich immer noch nicht verloren hatte.
Sie fand ihn sehr schön und gut; sie liebte ihn von Herzen. Im Ganzen fühlte sie sich glücklich und zufrieden.
Der Abschied war kurz und verlief ziemlich schmerzlos. Nur die Baronin schien bewegt. Im Augenblick der Abfahrt drückte sie eine grosse wohlgefüllte Börse ihrer Tochter in die Hände.
»Für Deine kleinen Nebenausgaben« sagte sie.
Johanna steckte die Börse ein und die Pferde zogen an.
»Wieviel hat Dir Deine Mutter in der Börse zugesteckt?« frug Julius sie gegen Abend.
Sie hatte schon gar nicht mehr daran gedacht und schüttete jetzt den Inhalt in ihren Schoss aus. Es war ein ganzer Haufen Gold: Zweitausend Francs.
»Ich werde da noch die schönsten Thorheiten begehen« sagte sie die Hände zusammenschlagend. Dann steckte sie das Geld wieder ein.
Nachdem sie acht Tage bei einer wahren Gluthitze auf der Landstrasse gefahren waren, kamen sie glücklich in Marseille an.
Am andern Morgen trug sie der »König Ludwig«, ein kleines Packetboot, welches über Ajaccio nach Neapel fuhr, an die Gestade Korsikas.
Korsika! mit seinen Makis! seinen Räubern! seinen Bergen! Das Vaterland Napoleons! Es kam Johanna vor, als verliesse sie die Welt der Wirklichkeit, um wachenden Sinnes das Land der Träume zu betreten.
Auf dem Verdeck nebeneinander sitzend sahen sie die Küste der Provence an ihren Augen vorüberziehen. Ruhig, unbeweglich, in prächtig azurner Färbung lag das Meer, wie zu einer festen Masse erstarrt, unter den heissen Sonnenstrahlen, die von dem tiefblauen Himmel herniedersanken.
»Erinnerst Du Dich noch unserer Fahrt damals im Boote des Papa Lastique?« frug sie ihn.
Statt aller Antwort drückte er einen Kuss auf ihre Wange.
Die Schaufeln der Räder weckten das Wasser aus seinem stillen Traume. Ein langer schäumender Streifen erstreckte sich vom Hinterteil des Schiffes aus, so weit das Auge reichte, und das geteilte Wasser brauste zu beiden Seiten auf wie Champagner.
Plötzlich schnellte vorn, nur einige Fadenlängen vor dem Schiff, ein riesiger Fisch aus dem Wasser, tauchte dann den Kopf unter und verschwand wieder gänzlich. Johanna war so erschreckt, dass sie mit einem Angstruf ihr Gesicht an Julius' Brust verbarg. Dann musste sie selbst über ihre Furcht lachen und wartete gespannt, ob das Tier nicht wieder zum Vorschein kam. Nach einigen Minuten tauchte es wieder auf wie ein grosses künstliches Spielzeug. Jetzt verschwand es wieder, kam abermals herauf; dann waren es ihrer zwei, dann drei, endlich sechs, welche um das Schiff herumzuhüpfen schienen, als wollten sie dem grösseren Gefährten, dem hölzernen Fisch mit den eisernen Flossen, das Geleit geben. Bald waren sie rechts, bald links, bald einzeln, bald zusammen, dann einer hinter dem anderen wie in lustiger Verfolgung beim tändelnden Spiel. Zuweilen schnellten sie sich mit einem grossen Sprung in die Luft, um dann eins nach dem andern wieder in einem grossen Bogen ins Wasser zurückzufallen.
Johanna klatschte vor Vergnügen in die Hände, trotzdem sie jedesmal beim Erscheinen der grossen Fische aufs neue schauderte.
Plötzlich verschwanden sie. Man sah sie noch einmal ziemlich weit in der offenen See; dann kehrten sie nicht wieder. Johanna wurde eine Zeitlang ganz traurig über ihr Verschwinden.
Der Abend kam heran, ein ruhiger, milder, strahlender Abend voll Glanz und süssem Frieden. Luft und Wasser waren in stiller Ruhe, und diese unbegrenzte Ruhe des Meeres und des Himmels teilte sich auch dem Herzen mit.
Langsam versank die Sonne da drüben in der Gegend von Afrika, dem unsichtbaren heissen Afrika, dessen Glut man schon zu spüren glaubte, wenn nicht ein schmeichelnder kühler Luftzug, der jedoch keineswegs einem Windhauche glich, die Gesichter der Reisenden umspielt hätte, nachdem die Sonne untergegangen war.
Sie hatten keine Lust, in ihre Kabine herunterzugehen, die mit allen Düften eines Packetbootes angefüllt war. So wickelten sie sich denn beide dicht in ihre Mäntel ein und legten sich nebeneinander aufs Verdeck. Julius schlief sofort ein, während Johanna noch eine Weile unter den ungewohnten Reise-Eindrücken wach blieb.
Das gleichförmige Geräusch der Schaufelräder hielt sie wach, und sie betrachtete mit Interesse die Legion von Sternen, so hell, so klar und funkelnd, wie man sie eben nur am südlichen Himmel erblickt.
Gegen Morgen schlief sie indessen ein, bis ein Geräusch von Stimmen sie weckte. Die Matrosen reinigten unter einförmigem Gesange das Schiff. Sie rüttelte ihren immer noch regungslos schlafenden Mann und beide erhoben sich.
Mit Entzücken sog sie den salzigen Duft ein, der ihr bis in die Fingerspitzen drang. Rings umher sah sie nichts als Meer. Indessen da vorn zeigte sich etwas graues, noch unbestimmt in der Morgendämmerung; es sah aus wie einzelne aufgethürmte zackige zerrissene Wolken, die auf den Wogen zu lagern schienen.
Dann konnte man genauer unterscheiden; die Formen traten mehr hervor, je mehr der Himmel sich aufklärte. Eine lange Reihe sonderbar gezackter Berge erhob sich aus dem Meere. Es war Corsika, noch verhüllt in einer Art leichtem Nebelschleier.
Dahinter stieg langsam die Sonne auf. Anfangs lagen die Kämme der Berge noch in tiefem Schatten, dann schien es, als ob auf allen Gipfeln strahlende Lichter entzündet würden, während der untere Teil der Insel noch in dichtem Nebel lag.
Der Kapitän, ein altes gelbliches, von den scharfen salzhaltigen Winden vertrocknetes, verschrumpftes und ausgedörrtes, aber zähes Männchen wurde auf der Steuerbrücke sichtbar.
»Riechen Sie das, diesen Duft?« sagte er mit seiner durch dreissigjähriges Kommandieren rauh gewordenen und im Gebrüll der Stürme verschlissenen Stimme.
In der That nahm sie einen eigentümlichen seltsamen Pflanzenduft von ungewöhnlicher Würze wahr.
»Das ist Corsika in der Blüte, Madame«, fuhr der Kapitän fort. »Es ist wie der Duft einer hübschen jungen Frau. Ich würde ihn noch nach zwanzig Jahren auf fünf Meilen Entfernung wiedererkennen. Ich stamme von dort. Er, da unten auf St. Helena, spricht, wie es heisst, stets von dem Dufte seines Vaterlandes. Wir sind mit ihm verwandt.«
Und der Kapitän lüftete seinen Hut, grüsste Corsika und grüsste da unten, weit im Ocean den grossen gefangenen Kaiser, der zu seiner Familie gehörte.
Johanna fühlte sich so bewegt, dass sie beinahe geweint hätte.
Dann breitete der Seemann die Arme gegen den Horizont aus.
»Die Blutsteine!« sagte er.
Julius stand neben seiner Frau und hielt sie umschlungen; beide schauten in die Ferne, um den angedeuteten Punkt zu erkennen.
Endlich bemerkten sie einige Felsen in Gestalt von Pyramiden, welche bald darauf das Schiff umfuhr, um in einen ungeheuren ruhigen Golf einzulaufen, der von zahlreichen hohen Gipfeln umsäumt war, deren grüne Hänge mit Moos bedeckt schienen.
»Die Makis!«Eine speziell auf Corsika gebräuchliche Bezeichnung für unkultivierte wilde, mit dichtem Gestrüpp bedeckte Strecken.
(Anm. d. Übers.) sagte der Kapitän, auf die grünen Hänge deutend.
Je näher man kam, desto mehr schien sich der Kreis von Bergen hinter dem Schiff zusammenzuschliessen, welches langsam dahin glitt. Die azurblaue Flut war so klar, dass man fast bis auf den Grund sehen konnte.
Und plötzlich zeigte sich im Hintergrunde der Bucht am Rande der Wogen zu Füssen der Berge die weissschimmernde Stadt.
Einige kleine italienische Schiffe lagen im Hafen vor Anker. Vier oder fünf Barken umkreisten den »König Ludwig«, um seine Passagiere aufzunehmen.
»Was meinst Du«, sagte Julius, das Gepäck zusammenlegend, leise zu seiner Frau, »zwanzig Sous wird für den Träger wohl genug sein?«
Seit acht Tagen stellte er jeden Augenblick die gleiche Frage, die ihr schrecklich peinlich war.
»Wenn man nicht weiss, ob es genug ist, giebt man lieber etwas mehr«, sagte sie ziemlich ungeduldig.
Unaufhörlich handelte er mit Wirten und Kellnern, mit Kutschern und Geschäftsleuten aller Art. Wenn er dann mit Hülfe seiner Zungenfertigkeit einen billigeren Preis erzielt hatte, so sagte er zu Johanna, sich vergnügt die Hände reibend:
»Ich lasse mich nicht gern übers Ohr hauen.«
Sie zitterte jedesmal, wenn sie die Rechnungen kommen sah, denn sie wusste, dass er zu jedem Posten seine Einwendungen machen würde. Sie fühlte sich durch diesen Krämergeist erniedrigt und errötete jedesmal bis über die Ohren, wenn sie den missvergnügten Blick der Angestellten bemerkte, mit welchem dieselben aus der Hand ihres Mannes das stets sehr spärliche Trinkgeld empfingen.
Nun hatte er noch einen längeren Streit mit dem Barkenführer, der sie an Land brachte.
Der erste Baum, den sie sah, war eine Palme.
Sie stiegen in einem grossen stattlichen Hotel an der Ecke eines geräumigen Platzes ab und liessen sich ein Frühstück servieren.
Als sie mit dem Nachtisch fertig waren und Johanna sich gerade erheben wollte, um ein wenig durch die Stadt zu streifen, schloss sie Julius in seine Arme und flüsterte ihr zärtlich zu:
»Wollen wir uns nicht etwas niederlegen, mein Schatz?«
»Uns niederlegen?« frug sie überrascht. »Aber Ich bin durchaus nicht müde!«
»Aber ich möchte . . . Du weisst schon«, sagte er, »seit zwei Tagen! . . .«
»Ach, zu dieser Stunde?« stammelte sie schamrot. »Was wird man davon denken? Wie würdest Du den Mut finden, am hellen Tage ein Zimmer zu verlangen? Ach, Julius, ich bitte Dich!«
»Ich mache mir den Kuckuck daraus, was die Leute denken oder sagen werden«, unterbrach er sie. »Du wirst sehen, wie gleichgültig mir das ist.« Und er schellte.
Sie wagte nichts mehr einzuwenden und sass mit niedergeschlagenen Augen da; ihr Herz und ihr ganzes Gefühl sträubte sich gegen dieses unbezähmbare Verlangen ihres Gatten. Nur widerstrebend fügte sie sich in das Unvermeidliche, aber sie fühlte sich erniedrigt und herabgewürdigt durch ein Begehren, welches ihr tierisch und unendlich unrein vorkam.
Ihre Gefühle waren noch nicht erwacht und doch that ihr Mann, als ob sie schon ganz sein Feuer teile.
Als der Kellner kam, verlangte Julius auf ihr Zimmer geführt zu werden. Der Mann, ein echter Corse, haarig bis an die Augen, schien anfangs nicht recht zu begreifen; er versicherte, dass das Zimmer für die Nacht bereit stehen werde.
»Nein, ich wünsche es sofort!« sagte Julius ungeduldig. »Wir sind müde von der Reise und wollen uns ausruhen!«
Ein Lächeln huschte über die bärtigen Lippen des Kellners. Johanna wäre am liebsten davongelaufen.
Als sie eine Stunde später wieder herunterkamen, wagten sie nicht, die Leute anzusehen, die an ihnen vorübergingen; sie glaubte ein Lächeln und Tuscheln hinter ihrem Rücken zu bemerken. Es war ihr unbegreiflich, wie Julius dafür kein Gefühl hatte; sie ärgerte sich, dass er nicht mehr Rücksicht und zartere Scham besass. Wie ein Schleier, wie eine Scheidewand legte es sich zwischen sie und ihn, als sie jetzt zum ersten Mal die Überzeugung fasste, dass zwei Personen sich niemals wirklich bis auf den Grund der Seele dringen, um dort die verborgensten Gedanken zu lesen; dass sie nebeneinander, eng an einander geschmiegt sogar, gehen können, aber niemals ganz mit einander vermengt sind, und dass die Seele eines jeden doch sozusagen ihre eigenen Wege wandelt.
Drei Tage verbrachten sie in der kleinen Stadt am blauen Golfe, die hinter dem Bergvorhang von jedem kühlen Luftzug abgesperrt, vor Hitze beinahe kochte.
Dann entwarfen sie einen Reiseplan und beschlossen, um auch die schwierigsten Touren machen zu können, sich Pferde zu mieten. So nahmen sie also zwei kleine korsische Hengste mit feurigen Augen, zäh und unermüdlich, und begaben sich eines Morgens bei Tagesanbruch auf den Weg. Ein Führer auf einem Maulesel, der zugleich mit Proviant beladen war, bildete ihre Begleitung; denn auf Gasthäuser durften sie in dem unwirtlichen Lande nicht rechnen.
Die Strasse führte zuerst dem Golf entlang und dann durch ein mässig tiefes Thal gegen die grossen Berge zu. Zuweilen musste man halbausgetrocknete Ströme überschreiten; nur dünn rieselte unter den Kieseln ihres Bettes das Wasser dahin und liess ein schwaches Plätschern vernehmen.
Das unbebaute Land schien fast nackt zu sein. Die Berghänge waren mit hohen, bei der heissen Jahreszeit fast braunen Kräutern bewachsen. Hin und wieder begegnete man einem Bergbewohner entweder zu Fuss oder zu Pferd, oder rittlings auf einem rundbauchigen Esel sitzend.
Aber alle hatten über der Schulter hängend das geladene Gewehr, alte verrostete, aber in ihren Händen sehr gefürchtete Waffen.
Der starke Geruch der duftigen Kräuter, mit denen die Insel bewachsen ist, schien die Luft zu verdicken. In langen Windungen stieg die endlose Strasse die Berge hinan.
Die Gipfel aus rötlichem oder blauen Granit verliehen der öden Umgebung den Charakter einer Zauberlandschaft; und die grossen Kastanienwälder an den tiefergelegenen Hängen sahen wie grünes Gebüsch aus. So gross war die Entfernung, welche sie von den hochragenden Berggipfeln trennte.
Hin und wieder nannte der Führer, die Hand gegen die zerrissenen Gipfel ausstreckend, einen Namen. Johanna und Julius wandten den Blick dorthin, aber sie konnten anfangs nichts sehen, bis sie schliesslich einen grauen Gegenstand entdeckten, der einem vom Gipfel abgelösten Steinhaufen glich. Es war ein Dorf, ein kleiner Weiler, wie ein richtiges Vogelnest, dort in der engen Felsspalte fast unsichtbar eingezwängt.
Der lange Weg im Schritt machte Johanna ungeduldig. »Wir wollen mal vorwärts reiten« sagte sie und sprengte ihr Pferd an. Als sie ihren Mann nicht neben sich galoppiren hörte, wandte sie sich um und brach in ein tolles Gelächter aus, als sie ihn herbeikommen sah, krampfhaft am Zügel zerrend und seltsam schwankend. Seine Schönheit und seine vornehme Haltung kontrastierten eigentümlich zu seiner Ungeschicklichkeit und Furcht.
Sie setzten darauf den Weg in langsamem Trabe fort. Die Strasse führte jetzt durch zwei undurchdringliche Gebüschstreifen, welche den Hang wie ein Mantel bedeckten.
Es war dies der Maki, der undurchdringliche Maki, aus grünen Eichen, Wachholdersträuchern, Erdbeerstauden, Mastixbäumen, Kreuzdorn, Farnkraut, Lorbeer, Thymian und allerlei Schlingpflanzen gebildet. Das alles war ineinander verwachsen wie die Haare eines Menschen; es rankte, sprosste, wucherte empor und bildete so seltsame Formen, ein so unentwirrbares Dickicht, dass keines Menschen Fuss sich durch dasselbe zu winden vermocht hätte. Es war wie ein dichtes Vlies, das den Rücken des Berges bedeckte.
Allmählich verspürten sie Hunger. Der Führer, der sie wieder eingeholt hatte, brachte sie zu einer jener lieblichen Quellen, wie man sie in diesem zerklüfteten Lande so zahlreich findet, wo ein dünner eiskalter Wasserfaden aus einem kleinen Loche im Felsen rinnt und sich am Fusse einer Kastanie in einer kleinen Vertiefung sammelt, von wo aus dann der Lauf bis zur Mündung weiter führt.
Johanna war so entzückt, dass sie nur mit Mühe einen Ruf der Überraschung unterdrückte.
Nach dem Frühstück brachen sie wieder auf und begannen den Abstieg auf der Seite des Golfs von Sagone.
Gegen Abend kamen sie durch Cargese, dem alten Griechen-Dorfe, welches einst eine flüchtige Schar Verbannter dort angelegt hatte. Hübsche, hochgewachsene Mädchen mit vornehmem Profil, langen Händen, schlanker Taille, ausnehmend graziöse Erscheinungen, standen in einer Gruppe an einem Brunnen. Als Julius ihnen einen »Guten Abend« wünschte, antworteten sie mit wohlklingender Stimme in der melodischen Sprache ihres Vaterlandes.
Als sie nach Piana kamen, mussten sie, wie in alten Zeiten und längst verschollenen Landen um Gastfreundschaft bitten. Johannas Herz hüpfte vor Freude, während sie warteten, ob die Pforte sich öffnen würde, an welcher Julius gepocht hatte. Das war doch wirklich mal eine Reise mit all' den unvorhergesehenen Ereignissen auf unbekannten Strassen!
Sie hatten sich gerade an eine noch neubegründete Haushaltung gewandt. Man empfing sie, wie ungefähr die Patriarchen einen von Gott gesandten Gast empfangen haben würden. Sie schliefen unter einem Strohdache in dem alten wurmstichigen Hause, dessen ganzes Gebälk mit Inschriften bedeckt schien; so hatten die kleinen Holzwürmer ihre Spuren auf demselben eingegraben.
Mit Sonnenaufgang zogen sie weiter und standen bald vor einem Wald, einem wirklichen Wald von purpurfarbenem Granit. Da befanden sich Giebel, Säulen, Glocken und allerlei seltsame Figuren, welche der Zahn der Zeit, der Sturmwind und der gefrässige Brodem des Meeres aus dem Gestein gebildet hatten.
Oft dreihundert Meter hoch, schlank, rund, gewunden, geknickt, missgestaltet, seltsam, in jeder Art von Form, erschienen diese sonderbaren Felsen wie Bäume, Pflanzen, Tiere, Denkmäler, Menschen, Mönche in langen Kutten, Teufel mit Hörnern, riesige Vögel, kurz wie eine Welt von Ungeheuern, wie eine Menagerie, die durch die sonderbare Laune irgend eines Gottes in Stein verwandelt war.
Johanna fand keine Worte für die mächtige Bewegung ihres Herzens, und sie ergriff die Hand ihres Gatten, welche sie, hingerissen von der Schönheit dieses Schauspieles, zärtlich drückte.
Plötzlich, als sie diesen chaotischen Anblick hinreichend genossen, entdeckten sie einen neuen Golf, der ringsum mit einer Mauer von blutigrotem Granit umsäumt war. Das blaue Meer warf das Spiegelbild dieser scharlachfarbenen Felsen zurück.
»Ach, Julius!« stammelte Johanna; sie konnte von Bewunderung hingerissen keine anderen Worte finden. Es war ihr, als ob ihr die Kehle zugeschnürt wäre; und zwei grosse Thränen perlten aus ihren Augen.
»Was hast Du, Herzchen?« frug Julius, sie erstaunt anblickend.
»Ach nichts . . .« sagte sie, sich die Augen wischend, mit etwas unsicherer Stimme. »Es kommt von den Nerven . . . ich weiss selbst nicht . . . Ich war ergriffen. Ich bin so glücklich, dass die kleinste Kleinigkeit mich erregt.«
Er hatte kein Verständnis für diese weiblichen Erregungen, dieses Aufwallen eines durch ein Nichts erschütterten Gemütes, auf welches Begeisterung ebenso wirkt wie ein Unglücksfall, und welches ebenso leicht vor Freude und Glück wie vor Schmerz zu weinen geneigt ist.
Diese Thränen kamen ihm lächerlich vor; und ganz mit dem schlechten Zustande des Weges beschäftigt sagte er:
»Du thätest besser, auf Dein Pferd acht zu geben.«
Sie konnten nur mit Mühe auf dem fast ungangbaren Weg zu dem Grunde dieses Golfes gelangen; dann wandten sie sich rechts, um das finstere Ota-Thal zu passieren.
Aber der Pfad wurde jetzt wirklich entsetzlich.
»Wollen wir nicht lieber zu Fuss herauf gehen?« schlug Julius vor.
Sie konnte sich nichts besseres wünschen; es war ihr gerade recht, jetzt zu gehen, allein zu sein mit ihm nach dieser heftigen Gemütsbewegung.
Der Führer ritt mit dem Maulesel und den Pferden voraus, und sie folgten ihm langsam.
Das Gebirge schien hier von oben bis unten geborsten und der Pfad führte in diese von der Natur gebildete Spalte. Zu beiden Seiten erhoben sich die Felswände wie zwei hohe Mauern, während ein reissender Bach sich neben dem Pfade seinen Weg durch die Enge bahnte. Die Luft war eisig, der Granit erschien hier schwarz, und ganz hoch darüber lachte der blaue Himmel.
Ein plötzliches Geräusch liess Johanna erzittern. Sie blickte auf und sah, wie ein riesiger Vogel sich aus einer Felsspalte schwang; es war ein Adler. Seine ausgespannten Flügel schienen bis an beide Wände der Schlucht zu reichen; immer höher stieg er empor, bis er im azurblauen Äther verschwand.
Weiter vorn teilte sich der Spalt in zwei Hälften; der Pfad führte in grotesken Windungen durch die beiden Schluchten. Johanna ging lustig und leichtfüssig voran; die Kiesel rollten unter ihren Füssen, aber sie beugte sich furchtlos über den Rand der Abgründe. Er folgte ihr, etwas ausser Atem, das Auge, aus Furcht vor Schwindel, stets zu Boden gesenkt.
Plötzlich erreichten die Sonnenstrahlen sie wieder; sie glaubten aus der Unterwelt hervorzukommen. Da sie Durst verspürten, so folgten sie den feuchten Spuren, die durch wild aufeinander getürmtes Gestein führten und standen bald vor einer Quelle, die zum Gebrauch für die Ziegen in eine hölzerne Rinne geleitet war. Ringsumher war der Boden mit einem Moosteppich bedeckt. Johanna kniete nieder um zu trinken, worauf Julius ihrem Beispiele folgte.
Während sie das kühle Nass schlürfte, fasste er sie um die Taille und suchte ihr ihren Platz am Ende der Rinne zu rauben. Sie wehrte sich und ihre Lippen stiessen aneinander, sie schoben sich gegenseitig zurück und kamen dann wieder zusammen. Bei diesem scherzhaften Kampfe fassten sie abwechselnd das schmale Ende der Rinne mit den Zähnen, um sich festzuhalten, während das frische Quellwasser bald zurückgedrängt, bald aufsprudelnd, ihre Gesichter, ihre Nacken, ihre Kleider und Hände bespritzte. Auf ihren Haaren schimmerten Wassertröpfchen wie kleine Perlen. Zwischen das ablaufende Nass mischten sich ihre heissen Küsse.
Johanna wurde plötzlich von einem vollständigen Liebestaumel ergriffen. Sie nahm einen Mund voll klaren Wassers und mit aufgeblasenen Backen teilte sie es, Lippe an Lippe gepresst, Julius mit, um seinen Durst zu löschen.
Lächelnd, den Kopf hintenüber gebeugt, hielt dieser seinen Mund hin und trank mit einem tiefen Zuge aus dieser lebenden Quelle die kühlende Labung. Aber in seinem Inneren entzündete sie eine heisse Glut.
Johanna beugte sich mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit über ihn; ihr Herz pochte, ihre Brust wogte, ihre Augen schimmerten feucht.
»Ach, Julius . . . wie lieb ich Dich habe!« murmelte sie leise; und indem sie sich ihrerseits zurücklehnte, zog sie ihn an sich heran, während sie zugleich beschämt mit einer Hand ihr Antlitz bedeckte.
Julius konnte dieser Liebessehnsucht nicht widerstehen. Er presste sie heftig an sich; und sie seufzte in leidenschaftlicher Erwartung. Plötzlich stiess sie, wie vom Schlage getroffen, einen lauten Schrei aus. Jetzt war sie wirklich Julius' Frau . . .
Es dauerte lange, bis sie den Gipfel des Berges erklommen hatten; denn ihr Herz pochte noch lange und ihr Atem ging schwer. Erst gegen Abend kamen sie in Evisa, bei einem Verwandten ihres Führers Namens Paoli Palabretti, an.
Es war dies ein gutmütig aussehender grosser Mann; er ging etwas vornüber gebeugt und hatte den finsteren Ausdruck eines Schwindsüchtigen. Er führte sie in ihr Zimmer; freilich ein ödes Gemach mit nackten Wänden, aber luxuriös für dieses Land, wo jede Eleganz unbekannt ist. Gerade drückte er in seinem korsischen Platt, mit französischen und italienischen Worten vermischt, seine lebhafte Freude aus, sie bei sich zu sehen, als er von einer hellen Stimme unterbrochen wurde, und eine kleine lebhafte Frau mit grossen dunklen Augen, sonnengebräuntem Gesicht, von schlanker Taille und mit einem ewigen Lächeln zwischen den sichtbaren weissen Zähnen sich vorschob, Johanna umarmte und Julius die Hand drückte, während sie wiederholt »Guten Tag, Madame, guten Tag Monsieur; wie geht's?« rief.
Sie nahm Hüte und Shawls ab, wobei sie sich nur eines Armes bediente, weil sie den anderen in der Binde trug; hierauf nötigte sie Alle, das Zimmer zu verlassen, indem sie zu ihrem Manne sagte: »Führe die Herrschaften bis zum Diner etwas herum, Paoli.«
Herr Palabretti gehorchte ohne Zögern, nahm seinen Platz zwischen dem jungen Paare ein und zeigte ihnen das Dorf. Sein Schritt war schleppend wie seine Sprache; alle fünf Minuten hatte er einen Husten-Anfall, wobei er jedesmal sagte:
»Das kommt von der frischen Luft unten im Thale; sie ist mir auf die Brust geschlagen.«
Er führte sie jetzt auf einem verlorenen Pfade unter riesigen Kastanienbäumen. Plötzlich blieb er stehen und sagte mit seiner einförmigen Stimme:
»Hier wurde mein Vetter Giovanni Rinaldi durch Matteo Lori ermordet. Denken Sie, ich war auch dabei; ganz nahe bei Giovanni, als Matteo plötzlich auf zehn Schritt vor uns stand.
›Giovanni‹, rief er, ›geh nicht nach Albertacco; geh nicht hin, oder ich bringe Dich um; das sage ich Dir.‹ – ›Geh nicht hin, Giovanni!‹ rief ich, ihn am Arme fassend. Es handelte sich um ein Mädchen, Paulina Sinacupi, der sie beide nachgingen. Aber Giovanni schrie erbost: – ›Ich werde doch gehen, und Du sollst mich nicht daran hindern.‹ – Da legte Matteo sein Gewehr an, bevor ich das meinige hatte spannen können, und drückte ab. Giovanni machte mit beiden Füssen zugleich einen grossen Satz, wie ein Kind, das Seilchen springt, mein Herr! und stürzte dann rückwärts mit solcher Gewalt auf mich, dass mir mein Gewehr entfiel und bis zum grossen Kastanienbaum da unten rollte. Sein Mund stand weit offen; aber er sprach kein Wort mehr. Er war tot.«
Erschüttert sah das junge Paar den ruhigen Zeugen dieser grausigen That an.
»Und der Mörder?« frug Johanna.
Paoli Palabretti hustete lange, ehe er antwortete:
»Es gelang ihm, das Gebirge zu erreichen. Mein Bruder hat ihn später getötet. Nämlich mein Bruder Philippi Palabretti, der Bandito.«
»Ihr Bruder?« frug Johanna schaudernd. »Ein Bandit?«
»Jawohl, Madame«, entgegnete der sanfte Korse mit stolzem Aufblitzen des Auges, »es war sogar ein ganz berühmter. Sechs Gensdarmen hat er niedergestreckt. Er starb mit Nicola Morali zusammen, als sie nach achttägigem Kampfe im Niolo umzingelt waren und beinahe vor Hunger umgekommen wären. – Das ist nun mal hierzulande nicht anders«, fügte er mit gleichgiltigem Tone hinzu, ebenso wie er sagte: »Es ist die Luft im Thale, die einen erkältet.«
Sie kehrten hierauf zum Essen heim und die kleine Korsin behandelte sie, als ob sie schon seit zwanzig Jahren mit ihnen bekannt wäre.
Johanna wurde von peinlicher Unruhe gequält, ob sie auch in Julius' Armen jene seltsame und heftige Liebe wiederfinden würde, die sie auf dem Moosteppich bei der Quelle am Morgen empfunden hatte.
Als sie allein im Zimmer waren, zitterte sie bei dem Gedanken an eine Enttäuschung. Aber es kam anders, und diese Nacht wurde im wahren Sinne des Wortes ihre Brautnacht.
Am anderen Morgen, als die Stunde der Abreise nahte, konnte sie sich kaum entschliessen, das kleine Haus zu verlassen, wo ihr ein neues Glück für sie aufgegangen zu sein schien.
Sie zog die kleine Frau ihres freundlichen Gastgebers ins Zimmer und versicherte ihr, dass sie ihr durchaus kein Geschenk machen wolle, sich aber glücklich fühlen würde, wenn sie ihr nach ihrer Rückkehr von Paris aus ein kleines Andenken schicken dürfte. Fast mit abergläubischer Hartnäckigkeit bestand sie auf der Übersendung dieses Andenkens.
Die junge Korsin sträubte sich lange und wollte absolut nichts annehmen.
»Nun gut«, sagte sie endlich, »schicken Sie mir eine kleine Pistole, eine ganz kleine.«
Johanna machte grosse Augen.
»Ich möchte meinen Schwager töten«, sagte sie ganz leise, ihr ins Ohr flüsternd, wie man Jemanden ein süsses Geheimnis anvertraut. Und unter fortwährendem Lächeln löste sie hastig die Binde von ihrem Arm und zeigte ihre runde weisse Hand, welche deutlich die Spuren von mehrfachen Dolchstichen aufwies.
»Wenn ich nicht ebenso stark wäre wie er, so hätte er mich umgebracht. Mein Mann ist nicht eifersüchtig; er kennt mich. Und zudem ist er krank, wissen Sie, und das lässt sein Blut nicht aufwallen. Übrigens bin ich eine ehrbare Frau, Madame! Aber mein Schwager glaubt alles, was man ihm sagt. Er ist eifersüchtig für meinen Mann und er wird sicher wieder von neuem anfangen. Wenn ich indessen eine kleine Pistole hätte, wäre ich beruhigt und könnte mich vor ihm schützen.«
Johanna versprach, ihr die Waffe zu senden, küsste zärtlich ihre neue Freundin und setzte ihren Weg mit Julius fort.
Der Rest ihrer Reise verging ihnen wie ein Traum, wie ein endloser Liebesrausch. Sie hatte kein Auge mehr für Land und Leute; sie sah nur noch Julius.
Von nun an begann für sie jene kindliche liebliche Zeit der Liebeständelei, kleiner zarter Kosenamen, scherzhafter Neckereien, die Zeit, wo sie Alles, was sie umgab und was sie genossen, mit einer besonderen Bezeichnung belegten.
Da Johanna auf der rechten Seite schlief, so war ihre linke Brust beim Erwachen zuweilen entblöst. Julius, der dies bemerkt hatte, nannte das den »Herrn Freischläfer«, während er die andere Seite als den »Herrn Verliebten« bezeichnete, weil dieselbe mit ihrer rosigen Knospe sich für seine Küsse empfindlicher erwies.
Jener Platz, wo Julius am liebsten und häufigsten bei ihr verweilte, wurde von ihnen »Mütterchens Allee« getauft; eine andere geheimnisvollere Stelle nannten sie den »Damas-Weg« zur Erinnerung an das Thal von Ota.
Als sie in Bastia anlangten, musste der Führer entlohnt werden. Julius griff in seine Tasche, konnte aber das Gewünschte nicht gleich finden.
»Da Du die zweitausend Francs Deiner Mutter doch nicht brauchst, so könntest Du sie mir zu tragen geben. Sie sind in meinem Gürtel besser aufgehoben, und ich brauche dann kein Geld wechseln zu lassen.«
Sie reichte ihm die Börse hin.
Hierauf reisten sie über Livorno, Florenz, Genua und besuchten das ganze Alpengebiet.
Bei einem heftigen Nordwest-Winde langten sie eines Morgens in Marseille an.
Man schrieb den 15. Oktober; seit ihrer Abreise von Peuples waren zwei Monate vergangen.
Johanna fühlte sich traurig; der heftige kalte Wind erinnerte sie an ihre Heimat, die Normandie. Julius schien seit einiger Zeit sehr verändert, müde und gleichgiltig. Sie hatte Furcht, ohne zu wissen wovor.
Sie verzögerte ihre Heimreise noch um vier Tage, weil sie sich nicht entschliessen konnte, dies schöne sonnige Land zu verlassen. Es war ihr, als ob mit der Reise auch ihr Glück zu Ende ging.
Schliesslich fuhren sie ab.
Sie mussten noch in Paris alle ihre Einkäufe für ihren endgültigen Aufenthalt in Peuples besorgen. Johanna freute sich darauf, dank der wohlgefüllten Börse von ihrer Mutter, allerhand Wunderdinge mit heim zu bringen. Das erste aber, woran sie dachte, war die Pistole für die kleine Korsin in Evisa.
»Möchtest Du mir das Geld von Mama zurückgeben, Herz, damit ich meine Einkäufe machen kann?« sagte sie am Tage nach ihrer Ankunft zu Julius.
»Wieviel brauchst Du?« wandte er sich stirnrunzelnd zu ihr.
»Aber . . . soviel Du meinst,« stammelte sie überrascht.
»Ich werde Dir hundert Francs geben, aber verschleudere sie nicht,« entgegnete er.
Sie war so überrascht und verwirrt, dass sie anfangs keine Worte fand; endlich sagte sie zögernd:
»Aber . . . ich . . . ich hatte Dir doch das Geld gegeben, um . . .«
»Ich weiss schon« unterbrach er sie. »Es ist doch ganz egal, wer von uns beiden es in der Tasche hat, da wir doch von jetzt ab gemeinsame Kasse führen. Du kannst haben, was Du willst, aber ich meine, hundert Franks wäre vorläufig genug.«
Ohne weiter ein Wort zu sagen, nahm sie die fünf Goldstücke; aber sie wagte nicht, noch um mehr zu bitten und kaufte nur die Pistole.
Acht Tage später traten sie die Rückreise nach Peuples an.
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